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Stets sind es die unglaublichsten Geschichten, die der Wirklichkeit am nächsten kommen. Deshalb bittet Hans Christoph Buch drei begnadete Geschichtenerzähler nach Böhmen: Kafka, Casanova und Lügenbaron Münchhausen. In jenem Schloß, wo die legendäre Kafka-Konferenz von 1963 den Prager Frühling einläutete, treffen sie mit weiteren Figuren der Weltliteratur zusammen und feiern einen frivolen Maskenball - zum höchsten Vergnügen der Leser und besonders all derer, die Spaß daran haben, den literarischen Anspielungen - und natürlich den Geschichten, die gar bis ins mittelalterliche Konstantinopel reichen - zu folgen.…mehr

Produktbeschreibung
Stets sind es die unglaublichsten Geschichten, die der Wirklichkeit am nächsten kommen. Deshalb bittet Hans Christoph Buch drei begnadete Geschichtenerzähler nach Böhmen: Kafka, Casanova und Lügenbaron Münchhausen. In jenem Schloß, wo die legendäre Kafka-Konferenz von 1963 den Prager Frühling einläutete, treffen sie mit weiteren Figuren der Weltliteratur zusammen und feiern einen frivolen Maskenball - zum höchsten Vergnügen der Leser und besonders all derer, die Spaß daran haben, den literarischen Anspielungen - und natürlich den Geschichten, die gar bis ins mittelalterliche Konstantinopel reichen - zu folgen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Das Lärmen der Volksmassen im Wohnzimmer
Hans Christoph Buch in Böhmen / Von Burkhard Scherer

Für Dr. Fritz Koch, Professor für marxistisch-leninistische Ästhetik in der DDR, ist die Sache klar: "Unter den Bedingungen des kalten Krieges ist Kafka ein trojanisches Pferd, mit dessen Hilfe der deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat sturmreif geschossen werden soll." Kochs tschechoslowakischer Kollege Eduard Goldstücker sieht seinen Landsmann aus Prag hingegen nicht im Lager des Klassenfeindes: "Ich bin überzeugt, daß Kafka, hätte er länger gelebt, den Weg zum Sozialismus gefunden hätte", gibt er zu Protokoll, das von Fräulein Eva Kanturkova geführt wird. Die Herren, nun ja: diskutieren auf einer Kafka-Konferenz unter der Leitung von Goldstücker am 27. und 28. Mai 1963, die nicht zuletzt die praktische Frage zu klären hat, ob Kafkas Bücher in den Regalen sozialistischer Buchläden auftauchen dürfen. Die Angelegenheit ist delikat, weil die Linie aus Moskau fehlt und der sowjetische Vertreter, Victor Schklowski, in Rätseln spricht. Denn Sätze wie "Die Einsicht kommt immer zu früh oder zu spät" können sowohl ein kulturpolitisches Tauwetter signalisieren wie auch ein Versuchsballon sein, die ideologische Bodenhaftung der Genossen zu testen. Bewegen sich die Konferenzteilnehmer so auf ungewissem Terrain, geht es dem, der uns das alles erzählt, kaum besser.

Hans Christoph Buch gibt Schloß Liblice bei Prag als Konferenzort an, schließt aber nicht aus, daß es sich auch um Schloß Dux oder Schloß Dobris handeln könne, denn der Chronist habe da ein Amalgam im Kopf, verursacht weniger durch eigene Verwirrung als "durch die historische Verwerfung des zu Ende gehenden Jahrhunderts, die wie ein Erdrutsch oder wie eine Lawine Zusammengehöriges trennt, Getrenntes zusammenschweißt und das Unterste zuoberst kehrt".

Besagte historische Verwerfung generiert nun aber nicht nur die Unsicherheit über den Ort, auch den Konferenzverlauf bestimmt sie nachhaltig mit. Am ersten Abend etwa gibt es im Schloßtheater eine Aufführung von "Weder Liebe noch Frauen" - hier als Bühnentext notiert - in der Regie von Professor Koch. Der erhängt sich allerdings vor Vorstellungsbeginn neben der Sauna, in der gerade der haitianische Dichter René Depestre der Konferenzsekretärin Kanturkova den praktischen Gebrauch des in seinem Besitz befindlichen Schlüssels zu Blaubarts Kabinett für ihr Schloß erklärt, eine Lektion, die mit einer Zigarette danach gekrönt wird. Dieser Selbstmord hindert Koch dann aber weder an anschließender Regiearbeit noch an Aufführungskritik am Morgen des nächsten Konferenztages. "Das Stück ist ebenso reaktionär wie sein Held", dekretiert dieser Wächter des Marxismus-Leninismus, denn besagter Held - es ist Casanova - sei ein "deklassierter Kleinbürger", der obendrein "hinter dem Rücken der Werktätigen Karriere macht".

Während im Auditorium nach historischen Klassenverrätern gefahndet wird, sucht im Keller des Schlosses die Betriebskampfgruppe der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften nach einem aktuellen: ein Landvermesser K. soll sich im Schloß herumtreiben, und man ist sich sicher, dieser sei "ein als Kafka-Forscher getarnter zionistischer Agent, der im Auftrag westdeutscher Revanchisten die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges revidieren soll". Als man schließlich meint, seiner habhaft geworden zu sein, stellt sich das als Fehlschlag heraus, denn der Ergriffene ist - er nun wieder - Professor Koch. Die noch aus Inquisitionszeiten im Schloßkeller befindlichen Folterwerkzeuge können nicht zum Einsatz kommen, die Betriebskampfgruppe ist düpiert. Dem Leser hingegen wird bald klar, daß es sich bei dem ominösen K. um Milan Kundera handelt, der bei der Abschlußdebatte der Konferenz von einem der hinteren Plätze die Bemerkung wagt, Kafkas Code sei von keinem Geheimdienst der Welt zu knacken.

Autor Buch hat schon auf Seite 32 gewarnt, "In Kafkas Schloß" gliche einem Fest in einem überfüllten Wohnzimmer, bei dem er die Kontrolle über die weiter hereinströmenden Gäste verloren habe. Gegen Schluß der Geschichte steht die metaphorische Wohnungstür dann sichtlich sperrangelweit offen, denn durch eine Tapetentür des ungewissen Schlosses tritt Baron von Münchhausen herein, von Eduard Goldstücker als Deus ex Machina für den Fall bereitgehalten, daß die als Schlußpunkt vorgesehene Lesung von Teilnehmern an deren Unwilligkeit scheitern sollte. Und Münchhausen, der konzediert, es könne sich bei ihm auch um Casanova oder jemand ganz anderen handeln, erzählt von seinen Erlebnissen während der Belagerung und Eroberung von Byzanz durch die Türken 1453, einem Geschehen, dem nach seinen Ausführungen auch Dr. Faustus, Don Quixote und sein Knappe Sancho Pansa sowie Christoph Columbus und Marco Polo beiwohnten.

Mit kriegsentscheidend sei dabei der Seitenwechsel des Dr. Faustus gewesen, der seine Kanonengießerkunst zunächst dem Kaiser angeboten habe, nach dessen mangelnder finanzieller Zusage aber dem Sultan Mehmed. Die erste Kugel sei dann ihm, Don Quixote und dessen Knappen als Beiladung und als deutliche Ablehnung des kaiserlichen Waffenstillstandsangebots nach Konstantinopel geschossen worden. Nach Art des Barons aus Bodenwerder verabschiedet dann dieser Erzähler die Gäste, die nicht seine waren, sondern die des Konferenzleiters Goldstücker. Und der hatte schon während Münchhausens Geschichte Fragen: wie er denn 1453 zu einem damals noch nicht erfundenem Fernrohr gekommen sei und überhaupt in diese Zeit lange vor seiner Geburt. Jetzt wird er grundsätzlich: "Ihre Geschichte enthält außer blühendem Unsinn peinliche Anzüglichkeiten und überflüssige Anspielungen." Besser dunkel und unverständlich als allzu weitschweifig, kontert der Kritisierte, und es reize ihn schon, zu erklären, was sich hinter den Anspielungen verberge. "Vielleicht erzähle ich Ihnen die Geschichte ein andermal", ist der letzte Satz des Barons, gleichzeitig der letzte Satz des mit 136 Seiten nicht weitschweifigen Buches und damit der letzte Satz des Autors Buch.

Der Dialog Münchhausens mit seinem Kritiker Goldstücker ist der vorweggenommene Dialog Buchs mit der von ihm erwarteten Kritik an "Kafkas Schloß". Als Genrebezeichnung hat er "Eine Münchhausiade" gewählt, und das ist zwar inzwischen ein gar großer Deckel, aber Münchhausen war nun einmal Entertainer. Da will Buch schon mehr. Zum Beispiel die zynische Dummheit eines Kommunismus an der Macht in seiner DDR-Ausprägung anhand der Interventionen eines Professor Koch vorführen, der etwa da, wo Goldstücker für die Öffnung eines Fensters plädiert, auch noch die letzte Ritze seiner marxistisch-leninistischen Bruchbude mit Worthülsen abzudichten sucht.

Das ist der realistische Teil, geschrieben quasi, bevor er die Kontrolle über die Gäste in seinem Wohnzimmer oder in seinem Manuskript verlor. Heterogene Geschichten aus verschiedenen Jahrhunderten tauchten auch in früheren Werken Buchs auf, ebenso der karibische Glaube an die Existenz von Zombies, hier vorgetragen von René Depestre, nach Selbsteinschätzung "Neger vom Dienst auf kommunistischen Friedenskonferenzen". Daß die Auf-und Abtritte durch diverse Tapetentüren hier jedoch besonders zahlreich und irritierend sind, erklärt vielleicht implizit Kongreßteilnehmer Roger Garaudy, der die Marx-Sentenz vom der Tradition aller toten Geschlechter, die wie ein Alb auf dem Gehirn der Lebenden lasten, zitiert. Ja, die Verwerfungen am Ende des Jahrhunderts. Und dann hat da einer über dreißig Jahre lang Literatur geschrieben und gelehrt, da bleiben Anspielungen nicht aus. Vielleicht erzählt auch Buch uns die Geschichte ein andermal. Vorausgesetzt, das wird nicht schlimmer mit den Verwerfungen.

Hans Christoph Buch: "In Kafkas Schloß". Eine Münchhausiade. Verlag Volk & Welt, Berlin 1998. 136 S., geb., 30,- DM.

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