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Caradog Prichard war zu seiner Zeit so erfolgreich, dass sogar die Regeln der Dichter-Wettbewerbe geändert werden mussten - er gewann sie alle, und zwar jedes Jahr. Dieser zeitlose Klassiker erscheint jetzt erstmals auf deutsch. Er ist wie Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter" die Geschichte einer Kindheit, die uns einführt "in eine Welt, die in einem alltäglichen Sinn real ist und gleichzeitig hochgradig phantasievoll und poetisch" (Washington Post).

Produktbeschreibung
Caradog Prichard war zu seiner Zeit so erfolgreich, dass sogar die Regeln der Dichter-Wettbewerbe geändert werden mussten - er gewann sie alle, und zwar jedes Jahr. Dieser zeitlose Klassiker erscheint jetzt erstmals auf deutsch. Er ist wie Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter" die Geschichte einer Kindheit, die uns einführt "in eine Welt, die in einem alltäglichen Sinn real ist und gleichzeitig hochgradig phantasievoll und poetisch" (Washington Post).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.1999

Die Butterbrotwährung
Caradog Prichards Roman "In einer mondhellen Nacht"

Der als Dialektdichter berühmt gewordene walisische Journalist Caradog Prichard publizierte 1961 mit siebenundfünfzig Jahren "In einer mondhellen Nacht", seinen ersten und letzten Roman. Vor vier Jahren wurde die bewegend schmucklose Erzählung vom Ende einer Kindheit ins Englische übersetzt; jetzt ist sie auch auf Deutsch zu lesen. Das Buch gibt einen melancholischen Einblick in ein walisisches Dorf zu Beginn des Jahrhunderts. Der Lebensstandard lässt sich daran bemessen, dass ein Butterbrot die Grundwährung ist. Die meisten Bewohner leben von der Arbeit in einem nahegelegenen Schieferbruch. Von der äußeren Welt dringt wenig zu ihnen herein, bis die Gemeinde vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschüttert wird.

Der Abgeschlossenheit nach außen korrespondiert eine Gesellschaft, die nach innen transparent scheint: Krankheit, Tod, Wahnsinn, Sexualität und Perversion liegen offen zutage und werden nur von den Kindern mit Verwunderung studiert.

Im Zentrum des Buches steht der in seine Heimat zurückgekehrte Erzähler. Umstandslos schlüpft er in die Haut des Knaben von damals. Die subjektiven Grenzen des Protagonisten sind nicht nur in dieser Hinsicht porös. Seine vaterlose Kindheit ist von einer symbiotischen Mutterbindung geprägt. Während die übrigen Dorfbewohner mit komplizierten Titeln wie "Frühkartoffel-Roland-Jones", "Gestärkter-Kragen-Will" und "Klein-Holzklotz-Harry" gerufen werden, erhalten weder er noch sie einen Namen. Der Text sucht die distanzlose Erinnerung, das Verschmelzen mit den Tagen der Unschuld, in denen die Welt unmittelbar da und nicht durch ein isoliertes Ich gebrochen war.

Die Individuation kommt für den Protagonisten als Schock und nicht als Befreiung, als er seine dem Wahnsinn verfallene Mutter ins Sanatorium bringt. Dieser traumatische Höhepunkt einer Jugend wird zum Muster für alle anderen Erfahrungen: Die Vergangenheit gestaltet sich rückblickend als Geschichte der Verluste und des Verlorengehens. Die Erzählerstimme ist hin und her gerissen zwischen der Beschwörung der Lebendigen und dem Begraben der Toten. Im Fall des Tuberkuloseopfers Moi hilft sie sich, indem sie den Jugendfreund zuerst sterben lässt, um anschließend in aller Ruhe von den gemeinsamen Streichen zu berichten.

Der Tod erzählt immer mit, und Prichard unternimmt den heroischen Versuch, ihn k.o. zu erzählen. Im siebten Kapitel findet ein Boxkampf zwischen einem Muskelprotz und einem kleinen Mann namens Johnny-Süden statt. Überraschend verliert der Hüne gegen den beweglichen Gegner und wird von nun an im Dorfe "Oma" genannt.

Bei der Verfassung des Romans ist ein waches furchtloses Kind gegen einen weinerlichen alten Mann angetreten, der die plastische Prosawelt durch elegische Einlagen vernebelt, in denen er nach Bardenart die walisische Landschaft besingt. Stärkster Fremdkörper - und zugleich die Plazenta des Textes - ist ein vom Berg Snowdon angestimmtes Hohelied. In seiner hingestreckten Form erinnert der walisische Gipfelzug an eine liegende Frau. Bei Prichard wird er zur Allegorie der übermächtigen Mutter, von der sich der Sohn nicht zu lösen vermag: "Ich liege auf dem Lager meiner Besteigung, auf ewig schwanger, für alle Zeit guter Hoffnung und in Erwartung der Stunde der Niederkunft."

Auch der Held steigt einmal zum Blaubeerpflücken ins Gebirge; doch er verirrt sich dort. Die Nachbarin mit ihren Töchtern verliert ihn aus den Augen und er sucht mühsam einen Pfad nach Hause. Alle selbständig eingeschlagenen Wege führen in die Irre. Als der Erzähler einmal zur Schulzeit den Klassenraum verlässt, stößt er in der Toilette auf eine grausam verstümmelte Leiche. Und als er ausreißt, um der Arbeit im Schieferbruch zu entgehen, wird er nach ein paar Meilen wieder aufgegriffen. Nur die häuslichen Zyklen verheißen Glück: Das Pilzesammeln und Kartoffelnklauen, die Viehversorgung und der Kirchenbesuch, die Übernachtung im mütterlichen Bett - das sind die Koordinaten einer Idylle mit glimmender Lunte.

Als ein Chor der Erweckungskirche das Dorf besucht, wird der Protagonist Zeuge eines spontanen Gottesdienstes auf freiem Feld, der für die ganze, vom Gesang erfasste Gemeinde in einem Delirium ausklingt. Gestärkt von dieser Gemeinschaft kehrt der Erzähler beschwingt nach Hause zurück und trifft auf die leer starrenden Augen der Mutter. Die Liebe zu ihr lässt sich nicht mit gesellschaftlicher Autonomie vermitteln. Prichard selbst ist seiner seelisch erkrankten Mutter ein Leben lang schmerzlich verhaftet geblieben. Sie hat ihn nicht gehindert, als Lyriker in Wales großes Ansehen zu gewinnen. Vielleicht hängt beides zusammen: Die Klage um die geisteskranke Mutter und der Gesang der untergehenden walisischen Kultur. Das Gedicht vermag metaphorisch zu vermitteln, was sich im nüchterneren Roman als Lebenslüge offenbart.

INGEBORG HARMS.

Caradog Prichard: "In einer mondhellen Nacht". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christel Dormagen. Piper Verlag, München und Zürich 1999. 234 S., geb., 34,- DM.

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