Kapellmeisters Gustav Mahler an die Sängerin Anna von Mildenburg herausgab, gewissenhaft recherchiert, ausführlich kommentiert, ging es, auf der niederen Schlüssellochebene, um die Rekonstruktion eines Liebesromans. Und ganz nebenbei bekam das Bild vom empfindsamen, getriebenen Leidensmann, der dieser Welt abhandenkam, die ersten Risse. Gewiss hat Gustav Mahler gelitten unter den kapriziösen Launen der Freundin. Aber er wusste auch recht genau, wie er sie zu lenken und ihr Talent für sein eigenes Fortkommen wie auch das seiner Kunst auszunutzen hatte. Auch offenbart sich darin eine gewisse Krämerseligkeit, die man ihm so nicht zugetraut hätte. Steckt eventuell doch ein Pedant in jedem Visionär?
Noch spektakulärer der zweite Mahler-Briefband, den Willnauer 2010 vorlegte. Hier, in seinen Schreiben an Komponisten- und Dirigentenkollegen, ist Mahler als ein kühler und gewiefter Manager seiner selbst zu entdecken. Und jetzt ist ein dritter Band erschienen, wiederum bei Zsolnay in Wien, wiederum mit der bald sprichwörtlichen Willnauerschen Akribie kommentiert, jedoch ohne thematischen Fokus. 240 Schriftstücke, Briefe, Postkarten, Telegramme, Nachrichten oder Notizen werden präsentiert, die Mahler von 1876 bis 1910 an drei Dutzend verschiedene Adressaten versandt hat. Ein schönes Durcheinander!
Ein bisschen wirkt das wie der abschließende Kehraus, ein Lumpensammlerbuch, das zusammenfegt, was bei der Edition der ersten beiden Bände auf Willnauers Schreibtisch liegengeblieben war. Er sortiert die Quellen diesmal weder chronologisch noch alphabetisch nach Adressaten. Vielmehr gibt es eine Großgliederung nach Lebensabschnitten, der Gruppen subsumiert sind, wie zum Beispiel: "Frauen um Mahler" oder "Unter Dichtern". Und dazwischen tauchen immer wieder die Kollegen auf, Komponisten, Dirigenten.
Zum Beispiel Alexander Glazunow, der große Zuspätkömmling der russischen Romantik. Die achteinhalb großen Symphonien Glazunows unterscheiden sich von den Mahlerschen wie der Tag von der Nacht. Auch sonst hatten Glazunow und Mahler so gut wie nichts miteinander zu schaffen. Mahler hat nie ein Werk von Glazunow aufs Programm seiner Konzerte gesetzt, und es ist auch nicht belegt, ob Glazunow seinerseits es der Mühe für wert hielt, sich Mahlers Fünfte anzuhören, als der sie anno 1907 im Petersburger Konservatorium vorstellte. Immerhin, Glazunow war Direktor dieses Instituts. Aus nur dreizehn Worten besteht die "Korrespondenz" der beiden, der Kommentar dazu füllt dagegen eine volle Druckseite, auch wird das obskure Objekt der Begierde abgebildet - der handschriftliche Entwurf für ein Glückwunschtelegramm an Glazunow, als der ein Dreivierteljahr vor Mahlers Russland-Reise sein Bühnenjubiläum feierte. Die Handschrift ist die von Mahlers Sekretär. Mahler selbst verbessert den Text ein wenig, ebenfalls handschriftlich: den "großen Meister" verkleinernd zu einem "verehrten".
Neue und "unbekannte Briefe" Mahlers kündigt dieses Buch an. Doch darf man das nicht wörtlich nehmen. Erstens sind nur ein Teil der Dokumente wirklich "Briefe"; zweitens ist ein erheblicher Teil davon bekannt und schon an anderer Stelle veröffentlicht worden. Ja, es gibt sogar etliche Briefe, die Willnauer selbst in seinen vorangegangenen Mahler-Briefbänden veröffentlicht hatte und hier noch einmal recycelt, weil der Kontext das verlangt. So, zum Beispiel, im Fall Weingartner. Dem Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner missfiel die neue Mahlersche Orchestersprache, er fand sie zu äußerlich, zu unordentlich, auch zu überladen. Gleichwohl führte er in München Mahlers vierte Symphonie auf.
Umgekehrt hielt Mahler seinerseits nicht viel von den schwülstigen Kompositionen des Kollegen. Mehrfach hat sich die Kapellmeisterlaufbahn Weingartners, zwischen Hamburg und Wien, mit der Mahlers gekreuzt. Das Verhältnis der beiden entwickelte sich unterdessen von anfänglich "freundschaftlicher Kollegialität" zu "frostiger Ablehnung", und entsprechend wandelt sich der Tonfall der Briefe, die anfänglich noch reich gespickt sind mit höflichen Lügen, am Ende lakonisch werden. Gut ein Drittel der hier versammelten Briefe Mahlers an Weingartner wurden zwar schon anderweitig gedruckt. Neu indes ist die Bekanntmachung der Korrespondenz rund um die Uraufführung von Mahlers Vierter, darin um Probenzeiten und Korrekturen gerungen wird.
Und eine Erstveröffentlichung ist auch jener entlarvende Brief von Weingartner an Mahler vom 30. November 1901, in dem er sich wortreich entschuldigt, dass er von dem Werk in einer der Folgeaufführungen kurzerhand nur den Finalsatz gespielt hatte, den Rest wegließ oder vielmehr ersetzte durch eine Beethoven-Symphonie. Endlich ein Gegenüber! Dieser Brief übertrifft freilich an Bosheit alles, was man sich als Schlüssellochgucker so vorstellen mag. Weingartner erklärt, dass ihm buchstäblich übel geworden sei, bis hin zum "Gallebrechen und ähnlich unschöne(n) Dinge(n)". Er sagt zwar nicht expressis verbis, dass ihn Mahlers Musik krank macht. Aber man begreift, dass Mahler dem "liebsten Freund" anschließend nicht mehr recht grün sein konnte.
Überraschungen finden sich nicht in diesem Buch. Wie der Herausgeber ehrlich zugibt, sind es hauptsächlich "Einzelstücke (. . .), die viele winzige Lücken in unserer Kenntnis von Mahlers Werk und Leben schließen". Im Fall von Richard Strauss wird ein Brief nachgereicht, die Uraufführung von Mahlers dritter Symphonie betreffend. Im Fall von Richard Dehmel, dessen Gedichte Alma Mahler deutlich besser gefielen als ihrem Mann, beschränkt sich die Korrespondenz auf ein halbes Dutzend artige Postkartengrüße sowie eine Visitenkarte mit Einladung zum Nachtmahl.
Der gemeine Schlüssellochgucker hat zwar nicht viel von all den blitzkurzen Mitteilungen Mahlers, von diversen Einladungen oder Absagen oder der förmlichen Danksagung des Operndirektors an eine Sängerin, die das Ensemble verlässt. Doch die Mahler-Forschung wird dankbar sein, für jeden einzelnen Zettel. Schließlich gibt es bis heute keine kritische Gesamtausgabe des Briefwechsels von Gustav Mahler, und es ist Willnauers Verdienst, auf diese große Lücke mit Nachdruck immer wieder hinzuweisen.
Gustav Mahler: "In Eile - wie immer". Neue unbekannte Briefe.
Herausgegeben von Franz Willnauer. Zsolnay Verlag, Wien 2016. 480 S., geb., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main