Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170904
  • ISBN-10: 3932170903
  • Artikelnr.: 20845897
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2007

Horror auf Stöckelschuhen
Warum man die Afrika-Reportagen von Denis Johnson lesen muss / Von Maxim Biller

Dreimal fährt der Schriftsteller nach Afrika, dreimal will er dort sterben, dreimal kommt er davon. Der Schriftsteller ist berühmt für seine düsteren Geschichten und Romane, und er hat noch nie jemandem verraten, ob er diese Art von Ruhm überhaupt liebt. In seiner Jugend war der Schriftsteller ein Junkie, ein Irrer, ein Säufer, ein gescheiterter Selbstmörder - als er anfing, zu schreiben, hörte das alles sofort auf. Der Schriftsteller hat seitdem nichts mehr erlebt, nur noch die deprimierende, berauschende Monotonie des täglichen Schreibens. Das schöne Wort ist ihm längst näher als das hässliche Leben, und das gefällt natürlich Lesern, Kritikern und Buchhändlern, nur dem Schriftsteller gefällt es nicht. Dann ruft ihn ein Redakteur von "Esquire" an und sagt, fahr für uns in die Hölle, Denis Johnson, fahr nach Afrika. Und der Schriftsteller denkt erleichtert, endlich kann ich wieder bis zum Umfallen im Blut der menschlichen Existenz waten. Ans Schreiben denkt er da zum Glück noch nicht.

Es ist September 1990. Als Denis Johnson in Monrovia ankommt, in der zerstörten, zerbombten, stinkenden Hauptstadt Liberias, ist gerade ein Bürgerkrieg zu Ende gegangen, wie es ihn noch nie gab. Erwachsene Soldaten, die Duschhauben und Hochzeitskleider trugen, kämpften gegen Kindersoldaten in Damenschuhen, unter deren roten Baretten blonde Haarfransen vom Perückenmacher hervorschauten. Getötete Gegner wurden zerhackt und gegessen, man übergoss sie mit Benzin, solange sie noch am Leben waren, und zündete sie an, man schlug ihnen die Köpfe ab und spießte sie auf den nächsten Zaun.

Am Anfang massakrierte man noch zusammen die Leute des alten Präsidenten Samuel K. Doe, dann ging es gegen die Typen vom falschen Stamm, dann gegen Kerle, die wohlhabend oder satt aussahen, dann gegeneinander - die Duschhaubenarmee von Feldmarschall Prince Johnson gegen die Babykrieger von General Charles Taylor. Natürlich hat es das schon öfter gegeben, dass Aufständische sich zerstritten. Aber diese Rebellen verspeisen auch noch vor jeder Schlacht das Herz einer jungen Frau, sie können sich in Elefanten und Schlangen verwandeln, sie machen ihre Arme und Beine so lang, wie sie wollen, und keine Kugel der Welt schafft es, ihren Körper zu verletzen. Jedenfalls denken sie das voneinander, und dieser schreckliche Voodoo-Verdacht lässt sie noch brutaler aufeinander einschlagen.

Abgeschnittene Ohren.

Denis Johnson, der gelangweilte Apokalyptiker, genießt den liberianischen Irrsinn. Er sieht Menschen, so dürr wie Skelette, die durch ihre rauchende Stadt auf der Suche nach Essen irren. Er sieht leere Häuser, deren Wände von so vielen Kugeln durchbohrt wurden, als hätte jemand auch sie töten wollen. Er sieht jeden Tag am Strand von Monrovia die Leichenberge wachsen, er hört immer wieder Schüsse, denn die Voodoo-Soldaten jagen einander immer noch, er hofft, obwohl er es nie jemandem verraten wird, selbst auf eine Kugel - und er wartet auf seinen Termin beim Rebellenchef Prince Johnson, der neulich in Gegenwart von Journalisten einfach so ein weißes Ehepaar erschoss, wie aufs Jüngste Gericht. Wird er das Interview bekommen? Wird Prince Johnson Feuer speien und Hörner haben? Wird er den Schriftsteller auslachen und danach umbringen?

Als der Schriftsteller endlich im Hauptquartier von Prince Johnson empfangen wird, gibt der Feldmarschall gerade mit seiner Perückenband ein Reggaekonzert. Er spielt Gitarre, tanzt und singt "By the Rivers of Babylon", und er ist sehr, sehr gut. Dann setzt er sich an den Schreibtisch, hinter ihm hängen die Bilder von Jesus und Arafat, und er sagt, er habe den Expräsidenten Doe gar nicht hingerichtet. Er habe ihn nur verhört, hier in diesem Raum, und Doe sei später komischerweise gestorben, seine Schuld. "Ich habe ihn nach dem Geld des liberianischen Volkes gefragt. Ja, ich habe ihm die Ohren abgeschnitten und ihm befohlen, sie zu essen." Dann zeigt er dem Schriftsteller das Videoband, auf dem man den nackten, weinenden, flehenden Expräsidenten sieht, zuerst mit, dann ohne Ohren. Ein schrecklicher, feiner Moment.

Denis Johnson ist genau wegen dieses Moments Zehntausende Kilometer gefahren. Er hat zwar nicht den eigenen Tod gefunden im verrückten Westafrika, aber zumindest das blutige Elend eines anderen Menschen. Endlich kann er also über etwas schreiben, das noch schrecklicher und realer ist als seine eigenen Fixeralbträume, und weil eine Zeitschrift ihm dafür Geld gibt, darf er nichts erfinden, darf er nicht literarisch überhöhen, ästhetisieren, auslassen, aber die verbrauchten Worte und Gedanken eines Journalisten sind für ihn ebenfalls tabu. Er muss über die Wirklichkeit schreiben, so wie sie ist, er muss sagen, ich schreibe die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und darum darf nicht mehr jedes meiner Worte wie ein kandierter Büffelhoden schmecken. Was für ein Glück! Und auch sonst kann ich mir das ganze Carver-Hemingway-Gespreize schenken. Ich sage, so und so war es in der Hölle, die auf tausend Arten auf uns alle wartet. Ich sage es klar, direkt, uncool, und jetzt fallt ruhig in Ohnmacht, ihr Leser, Kritiker, Buchhändler, die Welt ist kein Roman, ihr Pussys, eure Enkel werden mir in hundert Jahren dankbar sein für meine unprätentiöse, inhaltistische Reportageliteratur!

Ja, genau so wird es wirklich sein. Keiner wird in hundert Jahren - bis auf ein paar Professoren - wissen, dass Denis Johnson einmal der Autor der gekünstelten White-Trash-Storys über "Jesus' Sohn" war oder des poetisch überschminkten Drogenspukromans "Schon tot". Aber alle werden sagen, Johnson, das war doch der Typ, der in seinem genialen Afrikabuch "In der Hölle" über die abgeschnittenen Ohren des liberianischen Präsidenten geschrieben hat. Das war doch dieser sehr männliche Mann, der in der zweiten Geschichte seines genialen Afrikabuchs erzählte, wie er mal ganz allein durchs untergehende Somalia fuhr, zitternd wie Espenlaub, verwirrt, verzweifelt freundlich, nur in Begleitung eines verlogenen, Khat kauenden, dollargierigen somalischen Offiziers, und er zitterte darum so, weil er der letzte Amerikaner war, der sich nach Mogadischu traute, wo kurz vorher, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, tollwütige somalische Milizen Amerikaner nackt, verbrannt und verstümmelt durch die zerstörten Straßen ihrer Mad-Max-Stadt schleiften.

Brutaler Realismus.

Was war das nur für ein großer, mutiger, trauriger Schriftsteller, dieser Denis Johnson, wird man in hundert Jahren sagen. Er suchte den metaphysischen Horror, den er schon als Kind hinter den sanft gebauschten Vorhängen des bürgerlichen Lebens in einem Vorort von Washington ahnte, und er fand diesen Horror zuerst im Drogen- und Alkoholrausch. Aber das war mehr so ein dekadenter, beliebiger, banaler Erste-Welt-Horror, nichts, woraus man als Künstler etwas für die Ewigkeit machen kann, das war bloß was fürs Feuilleton. Darum suchte er immer weiter und weiter, bis er den metaphysischen Horror endlich auf einem Kontinent fand, von dem die meisten dachten, es gäbe ihn nur in der Unterwelt oder im Fernsehen. Warum, wird man in hundert Jahren sagen, haben nicht früher alle Schriftsteller so hart recherchiert und so unaffektiert, unliterarisch-literarisch geschrieben wie dieser Wirklichkeitsfanatiker Johnson? Und warum gibt es von ihm eigentlich nur dieses eine einzige unsterbliche Buch?

In der dritten und letzten Geschichte seines in Zukunft sehr berühmten Afrikabuchs fährt Denis Johnson, der ewig scheiternde Selbstmörder, wieder nach Liberia. Diesmal will er für den "New Yorker" ein Gespräch mit Charles Taylor führen, dem noch sadistischeren Gegenspieler von Prince Johnson. Taylor kann zwar nicht Reggae spielen, aber was Show ist, weiß er auch. Er erklärt jeden Abend um sechs im Radio, wie viele hundert seiner Gegner er an diesem Tag persönlich erschossen hat, er nimmt an ausländischen Journalisten Scheinexekutionen vor und wirbt für sich im Wahlkampf mit dem todbringenden Slogan: "He kill' my ma, he kill' my pa, I vote for him." Den Fürsten der Finsternis gibt es also wirklich.

Diesmal schafft es Denis Johnson tatsächlich fast, in Afrika zu sterben. Er sitzt - mal wieder auf dem Weg zu einem Interview mit Charles Taylor, das nicht stattfinden wird - mit ein paar sehr nebulösen Liberianern in einem Jeep, als über ihnen ein nigerianischer Alphajet auftaucht und eine hübsche, krachende Rakete auf sie abschießt. Als der Schriftsteller zu sich kommt, ist er immer noch am Leben, er umklammert einen Gummibaum und denkt - aber das wird er natürlich auch nie jemandem verraten -, Scheiße, ich lebe noch. Wer bald nicht mehr am Leben sein wird, ist allerdings dieser nigerianische Student, den Charles Taylors Kindersoldaten ein paar Tage später in ein Stück winselndes Fleisch verwandeln werden. Das ist schon in Taylors Hauptquartier. Die Killerbabys schreien, er sei ein nigerianischer Pilot, der Bomben auf Liberia abwerfen wollte, das solle er zugeben, sofort, dann würde ihm nichts passieren, und dass er kein Flugzeug hat und keine Bomben, stört nicht ihre paranoide Logik. Denis Johnson steht da, verwirrt und übertrieben freundlich, und er versucht den Piloten ohne Flugzeug zu retten, indem er ihm seinen "New Yorker"-Ausweis umhängt.

Fürst der Finsternis.

Dann darf er endlich zum Fürsten der Finsternis mit seinem Tonbandgerät, und der winselnde Fleischklumpen wird weggebracht, und er sieht ihn nie wieder. Und wie wird das Interview? Ziemlich lang, langweilig und banal, und man hört auf dem Band sowieso nichts, weil Denis Johnson vor lauter Aufregung das Mikrofon in den Wind gedreht hat. "Mein Auftrag in Liberia war erledigt. So weit ich damals sehen konnte und so weit ich heute sehe, hatte ich nichts erreicht", schreibt er später, wieder zu Hause in Idaho, glücklich über all das erlebte Unglück, und jeder, der diese Zeilen liest, spürt die Sinnlosigkeit und Leere dieses Albtraums, den sie Leben nennen. Und zwar heute schon, nicht erst in hundert Jahren.

Zwei Dinge will man unbedingt wissen, nachdem man als Leser vom herrlich metaphysischen Denis-Johnson-Trip wieder heruntergekommen ist. Erstens: Müssen alle Bücher, die gut sind, deprimierend sein? Das weiß ich leider wirklich nicht, keine Ahnung. Und zweitens: Sollen Schriftsteller - egal, ob sie das ewig Schreckliche oder das ewig Schöne suchen - ab sofort aufhören, Romane zu schreiben, und nur noch für sehr viel Geld im Auftrag amerikanischer Magazine die Hölle und das Paradies bereisen? Oder sollen sie, wenn sie eher der bequeme, depressive Reisephobiker von der Sorte Oblomow sind, zumindest immer nur die Wahrheit schreiben, in den einfachsten Worten, die wirkliche, echte, verdichtete Wahrheit? Ja. Warum eigentlich nicht.

Denis Johnson: "In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt". Deutsch von Bettina Abarbanell. Tropen-Verlag. 192 Seiten, 18,80 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Einen "Gänsehaut machenden Einblick in die Apokalypse" hat Rezensent Thomas Laux dieses Buch ermöglicht, bei dem es sich um ein etwas untypisches Exemplar der Gattung "Reiseliteratur" zu handeln scheint. Ein Schriftsteller, und auch noch Ex-Junkie und -Alkoholiker, berichtet also von seinen Erlebnissen auf Reisen. Die allerdings führen ihn in afrikanische Krisengebiete, nach Liberia, oder in Grenzgebiet von Somalia und Äthiopien. Nicht selten sind es Horrorszenarios, die beschrieben werden. Oft sei sogar das Leben des Autors in Gefahr. Zunächst hatte der Rezensent beim Lesen den Eindruck, "komplett surrealen Szenarios" gegenüberzustehen. Erst nach und nach enthüllt sich die grausige Realität - zum Beispiel der liberianischen Diktatur, die für ihn zunächst gut ausgedacht nach "Heart of Darkness" klang. Oft bizarr, manchmal komisch aber meist eher schockierend, findet Laux die Einblicke, die Denis Johnson seinen Lesern durch sein Buch ins afrikanische Chaos und die Willkür seiner Herrscher gewährt. Ein Pluspunkt scheint auch die sehr spürbare Hilflosigkeit des Autors den Verhältnissen gegenüber zu sein, dem die "Beschwörungen zivilisatorischer Errungenschaften" zunehmend wie "Muster ohne Wert" erscheinen.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Denis Johnsons Buch gehört zu den wichtigsten Neuerscheinungen in diesem Jahr." - taz
Johnson, der in seinem Prosawerk des öfteren mit biblischen Verweisen aufwartet, gewährt hier einen Gänsehaut machenden Einblick in die Apokalypse. Frankfurter Rundschau