Produktdetails
  • Verlag: Meiner, F
  • ISBN-13: 9783787319565
  • ISBN-10: 3787319565
  • Artikelnr.: 27867110
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2010

Wer hätte gedacht, dass man über Kant so schreiben kann?
Ohne das Toben eines Tamerlan kein Fortschritt zum Weltfrieden: Reinhard Brandt befreit den politischen Denker mit der segensreichen Macht der unsichtbaren Hand

Die politische Philosophie der Neuzeit lebt von der Unterscheidung zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zustand. Für Hobbes ist es nur ein Gebot der Klugheit, den lebensbedrohlichen Naturzustand zu verlassen und sich dem Schutz des Leviathan zu unterstellen. Kant erhebt das exeundum e statu naturali dagegen in den Status einer Rechtspflicht.

Die Sequenz von Naturzustand und bürgerlichem Zustand beherrscht nicht nur Kants politische Philosophie. Reinhard Brandt legt überzeugend dar, dass sie auch die "Pausvorlage" für andere zentrale Lehrstücke Kants bildet. Sie liegt etwa der Abfolge von purer und verstandesgeleiteter Anschauung zugrunde, die in der "Kritik der reinen Vernunft" eine bedeutsame Rolle spielt. "Die reine Anschauung apriori stiftet in der ,Ästhetik' nach eigenem Bekunden Gewissheit und Notwendigkeit der Geometrie und hat damit gewissermaßen einen eigenen provisorischen Rechtsstatus; im Zivilzustand der ,Transzendentalen Analytik' wird die Anschauung dagegen dem Verstand unterworfen und hat als solche nur noch eine vom Verstand bestimmte Funktion." Die reine Anschauung weicht hier der Regel des Verstandes, die darüber entscheidet, was gesetzlich verboten oder geboten ist.

Wie Brandt zeigt, lässt sich auch die kantische Lehre vom kategorischen Imperativ nur angemessen begreifen, wenn man sie in das Schema von Naturzustand und bürgerlichem Zustand einschreibt. "Die Maximen sind die Leitfäden, an denen sich die Menschen im Naturzustand und in ihren partikularen Willensbildungen orientieren und entlang träumen, sie sind ohne notwendigen sozialen Zusammenhang und führen nur zufällig zu Friedenspausen. Das Gesetz dagegen ist das Gesetz der gemeinsamen Welt, gemäß dem die Maximen, welchen Inhalt sie auch haben, zum Zusammenklang gezwungen werden. Erst mit diesem von allen Inhalten abstrahierenden Gesetz der gemeinsamen Welt von Personen macht sich der Mensch selbst zum Weltbürger."

Demgegenüber versuchen die "postmetaphysischen Fußgänger der Verallgemeinerung" Kant dadurch zu retten, dass sie den kategorischen Imperativ schlicht als ein Gebot interpretieren, die Maximen der eigenen Handlung zu universalisieren. Für Brandt betreiben sie mit ihrem "leutseligen Empirismus" eine Destruktion der kantischen Idee. "Kant intendiert offenbar einen Paradigmenwechsel; es geht nicht um die Verallgemeinerbarkeit von Maximen (,weiter so, aber alle'), sondern einen qualitativen Wechsel von der bloß privaten oder auch allgemein akzeptierten Maxime zu etwas anderem, dem Gesetz. Die Vernunft sagt dem Wildwest-Bewohner, in den gesetzlich geregelten Staat zu treten und, mit Rousseau, zum ,citoyen' zu werden, zu dem jeder Mensch geboren und bestimmt ist."

Der Begriff des Guten wird damit bei Kant zu einer Funktion des Gesetzesbegriffs. Nicht das Gute bestimmt das Gesetz, sondern umgekehrt bestimmt das Gesetz das Gute. In Kants Überzeugung von der universalen Gültigkeit dieses Ableitungszusammenhangs erblickt Brandt die eigentliche Schwäche der Lehre vom kategorischen Imperativ. Eine kritische Diskussion von Kants Behauptung eines absoluten Lügenverbots führt ihn zu dem Schluss, es gebe sittliche Konflikte, "die sich nicht mit der Gesetzesethik lösen lassen, sondern nur mit einem sittlich geschulten situativen Urteil, orientiert an der Selbstachtung". Bei einem Autor, der ansonsten nur geringe Sympathie für Frankfurter Theorieprodukte hegt, ist die Berufung auf ein solches Kuschelkriterium überraschend. Zudem dürfte sie zumindest im Hinblick auf die Lügenverbotsproblematik überflüssig sein. Es spricht nämlich vieles dafür, dass Kant hier seinen eigenen Grundsätzen untreu geworden ist. Die Zulässigkeit von Notwehr erkennt er ausdrücklich an. Was aber ist die Irreführung eines ersichtlich mit Mordgedanken umgehenden Fragers anders, als eine subtile Form der Notwehr?

Ebenso wie Kant das Gute vom Gesetzesbegriff her bestimmt, interpretiert er - quasi ein Luhmann avant la lettre - die Gerechtigkeit als eine Funktion des Rechts, das zuallererst festlegt, was im Einzelnen gerecht und ungerecht ist. "Wie die Gerechtigkeit sich auf natürliche Weise selbst einstellt, wenn der Staat nur die richtige Infrastruktur liefert, so auch das Glück der Bürger, das kein gesondertes Thema bildet und das doch mitgeführt wird. In beiden Fällen wehrt sich die bürgerliche Gesellschaft gegen die Monopolwirtschaft und die Glückfürsorge des Absolutismus. Der Markt wird es richten." Ohne den frühliberalen Glauben an die segensreiche Macht der unsichtbaren Hand wäre Kants praktische Philosophie undenkbar.

Vor allem in seiner Geschichtsphilosophie betont Kant zudem die produktive Rolle des Konflikts ebenso nachdrücklich wie später Hegel. Um das moralisch höchste Gut, den Frieden, durchzusetzen, verfährt die Vorsehung bei Kant ohne Rücksicht auf Moral, rein utilitaristisch. Bei Brandt liest sich das so: "Ihr ist das Toben eines Tamerlan wichtiger als die gute Tat eines Rentners, und die segenreichste Figur der neueren Rechtsgeschichte ist zweifellos Hitler, auf den die europäische Einigung, eine Friedensphase in Europa von bisher unbekannter Dauer und sogar die UNO zurückgehen." Wer hätte gedacht, dass man über Kant so schreiben kann?

Unter Brandts kundigen Händen verwandelt Kant sich von dem heute geläufigen leicht betulichen Klassiker, den man für seine Ausführungen zur Menschenwürde und zum Völkerbund lobt und für seinen moralischen Rigorismus belächelt, zu einem eminent politischen Denker. Zu Beginn seines Buches kündigt Brandt an, er wolle nicht an der "Gigantomachie der gegenwärtigen Strategiedebatte" teilnehmen, sondern Kant "eher mikrologisch" in eine Auseinandersetzung um einige seiner Lehren verwickeln. Zum Glück hat er sich nicht streng an diesen Vorsatz gehalten, sondern neben der subtilen Textexegese auch die großen Gedankenbögen nicht gescheut. Das Ergebnis ist meisterhaft.

MICHAEL PAWLIK

Reinhard Brandt: "Immanuel Kant - Was bleibt?" Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010. 269 S., br., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Bitte nicht das Falsche erwarten von diesem Buch, rät uns Rezensent Michael Schefczyk. Eine umfassende wirkungsgeschichtliche Bestandsaufnahme zu Kant muss seiner Auffassung nach noch (und wünschenswerterweise) geschrieben werden. Was Reinhard Brandt in seinem "anregenden" Buch vorführt, ist für Schefczyk eher so etwas wie eine Fragerunde der Kant-Exegese für Kenner. Neue Interpretationsvarianten durchaus inklusive. Als stichprobenartige Bilanz hingegen fällt es ziemlich ernüchternd aus, meint Schefczyk. Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding: misslungen. Kants zweigeteilte Rechtslehre: misslungen. Nur beim kategorischen Imperativ und bei Kants Konzept der Menschenwürde sieht Schefczyk den Autor frohlocken. Die seien wichtig und prägend. Allerdings vermisst der Rezensent beim Autor hier nun wieder die Neugier, das Bleibende genauer zu fassen.

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