Produktdetails
- Das volkskundliche Taschenbuch Bd.36
- Verlag: Limmat Verlag
- Seitenzahl: 178
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 254g
- ISBN-13: 9783857914584
- ISBN-10: 3857914580
- Artikelnr.: 12434716
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2004Sonderzug nach Alaska
Baden, tanzen, investieren: Edgar Salin in Amerika
Als 1967 Stephen Birminghams Bestseller „Our Crowd” („In unseren Kreisen”) über die großen jüdischen Familien New Yorks erschien, wurde ein faszinierendes Kapitel der transatlantischen Kulturgeschichte sichtbar. Die im 19. Jahrhundert aus Deutschland in die USA eingewanderten Familien Goldman, Kahn, Kuhn, Lehman, Loeb, Sachs, Seligman, Schiff und Warburg waren als Bankiers zu wichtigen Katalysatoren der kapitalistischen Erschließung des Kontinents geworden. Im Unterschied zu den Industriemagnaten wie Carnegie, Rockefeller oder Morgan hatten die Angehörigen dieser Finanzaristokratie aber selten im Mittelpunkt der Öffentlichkeit gestanden.
Entsprechend breiten Raum nahm nun plötzlich das bisher abgeschlossene Privatleben dieser Oberschicht ein. Paul Arnsberg, der verdienstvolle Chronist des hessischen Judentums, legte kurz darauf eine kleine Studie vor über eine der Hauptfiguren, „Jacob H. Schiff. Von der Frankfurter Judengasse zur Wallstreet”. Sie würdigte das gesellschaftliche Wirken des Financiers und Mäzens Schiff (1847-1920), dessen zahlreiche wissenschaftliche und religiöse Stiftungen, die von Harvard bis zum Technion in Haifa reichten, aber auch seine Distanz zum Zionismus und die Verachtung des Zarenreichs. Wegen des russischen Antisemitismus hatte Schiff der japanischen Regierung 1904/05 Kredite gewährt; im Ersten Weltkrieg drohte ihn der erklärte Neutralismus sogar zu isolieren.
Kartelle in der Leere
In beiden Werken tauchte der Name seines Neffen Edgar Salin (1892-1974) nicht auf. Nur Lothar Helbing zitierte 1965 eine Notiz im Tagebuch Elisabeth Salomons, der späteren Ehefrau Friedrich Gundolfs, sie habe das Laubhüttenfest 1918 mit den Salins und deren Großvater Schiff begangen. Vielleicht aus Gründen der geschäftlichen Diskretion oder wegen der im George-Kreis üblichen Selbststilisierung verzichtete Salin in Heidelberg bei Alfred Weber entstandene und 1914 gedruckte Dissertation über „Die wirtschaftliche Entwicklung von Alaska (und Yukon Territory). Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Konzentrationsbewegung” ausdrücklich auf jeden Nachweis persönlicher Kontakte. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint Salin die Erinnerung an die konkreten Umstände der ersten Reise so gründlich verdrängt zu haben, dass er auch in seinen „Amerikanischen Impressionen” 1953 und 1966 nicht mehr darauf eingegangen ist.
Nun hat Günther Roth, der „Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte” rekonstruierte, damit modellhaft zeigen können, welche lebensweltlichen Aspekte überall dort der Entdeckung harren, wo es der Forschung gelingt, Beruf und Leben, intellektuelle Kategorien und individuelle Faktoren wieder miteinander zu verbinden. Und so beleuchtet auch das vorliegende Taschenbuch am Beispiel der Beziehung des Ökonomen Edgar Salin zu seinen amerikanischen Verwandten auf eindrucksvolle Weise eine Dimension der unmittelbaren Welterfahrung, die in Vergessenheit geraten war. Die Einführung von Anton Föllmi widmet sich vor allem dem späteren Wirken Salins, erwähnt jedoch, dass der Vater ein Partner des Vaters von Carl Zuckmayer war. Symptomatisch für den Traditionsbruch ist bereits die Überlieferung der Quelle, des nicht etwa in dem von Ingrid Metzger-Buddenberg für die Universitätsbibliothek Basel verzeichneten Nachlass, sondern in einem Antiquariat anonym aufgefundenen Albums mit dem Tagebuch der Amerikareise.
Beschrieben wird eine klassische Kavalierstour, spendiert vom berühmten Onkel als Belohnung für das Abitur - und Grundlage der Doktorarbeit. Den Großbürger des 20. Jahrhunderts führt sie aber nicht mehr nach Italien, sondern in die USA. Ähnlich wie schon der junge Aby Warburg eine Generation zuvor hat auch Salin den Text seiner Reiseeindrücke mit eigenen Photographien illustriert. Ausflüge an der Ostküste nach Boston und Washington sowie zu den Niagara-Fällen bieten weitere Eindrücke. Der junge Mann treibt Sport, badet, segelt, reitet und tanzt, fährt gern Auto und mit der U-Bahn.
Natürlich unternahm Jakob Schiff die Fahrt nach Alaska nicht als Privatmann, sondern zur Inspektion seiner Kapitalinvestitionen. Während der Anreise auf der amerikanischen Seite wechseln sich die regionalen Manager der Eisenbahngesellschaft in der Begleitung des Bankiers ab. Gleichwohl spart die Reiseroute auch hier landschaftliche Höhepunkte nicht aus. Von Seattle geht es mit dem Schiff nach Norden bis Skagway, erneut per Extrazug bis White-Horse und von dort mit dem Dampfer nach Dawson am legendären Klondike River. Salin genießt den Sommer am Polarkreis und staunt über die Gletscher des hohen Nordens. Den Rückweg nimmt die Gruppe dann ab Vancouver durch Canada, dessen Landesentwicklung wegen der langfristigen Kombination von touristischer Infrastruktur und bäuerlichen Siedlungsprogrammen positiver als die spekulativen, krisenanfälligen Verhältnisse im Nordwesten der USA beurteilt wird. Besondere Besuche gelten der alten Hauptstadt Sitka und der Indianer-Reservation auf Annette Island, weil man dort noch das Gleichgewicht zwischen Identitätswahrung und Modernisierung zu erhalten sucht.
Den Studenten interessieren technische Details des Gold Mining, der Carborundum-Erzeugung, der Fischkonservenfabrikation und vor allem des Eisenbahnbaus. Bereits hier beschäftigt Salin die damals intensiv diskutierte Frage, ob fast menschenleere Gebiete bei den Trusts und Kartellen nicht in besseren Händen seien als bei staatlichen Behörden. Mit leichter Ironie spricht das Tagebuch von den „Guggis”, den Söhnen und Firmen Meyer Guggenheims, die in Alaska mit dem Industriellen J.P.Morgan kooperierten. Salin meint, die Kritik der Syndikate sei nicht nur unberechtigt, sondern sogar „töricht, da kultureller Fortschritt nur auf diesem Wege möglich ist.” Die in Deutschland im „Verein für Socialpolitik” und 1909 in einer Monographie von Hermann Levy behandelte Frage wird dann zum Gegenstand seiner Dissertation. Politische Kommentare gelten der zeittypischen Bewunderung Theodore Roosevelts und der Hoffnung auf eine dauerhafte amerikanisch-deutsche Freundschaft - 1911 lernte Jakob Schiff während der Kieler Woche auf der Jacht Albert Ballins Wilhelm II. kennen.
Doch selbst in Alaska entgeht die New Yorker Prominenz den stereotypen Ressentiments nicht: Sie muss mitanhören, dass der Bischof des Yukon Territory einen Choral „For the conversion of the Jews” singen lässt. Indirekt korrespondiert damit der versöhnliche Ausklang der Reise, die Verleihung des Moses-Schiff-Preises in der Educational Alliance in New York, eben jener für die Assimilation der osteuropäischen Juden tätigen Organisation, über deren Arbeit sich auch Max und Marianne Weber während ihres USA-Aufenthalts 1904 informiert hatten.
MICHAEL MATTHIESEN
EDGAR SALIN: Im Sonderzug nach Alaska. Tagebuch einer amerikanischen Reise 1910. Herausgegeben von Paul Hugger. Limmat Verlag, Zürich 2004. 179 Seiten 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Baden, tanzen, investieren: Edgar Salin in Amerika
Als 1967 Stephen Birminghams Bestseller „Our Crowd” („In unseren Kreisen”) über die großen jüdischen Familien New Yorks erschien, wurde ein faszinierendes Kapitel der transatlantischen Kulturgeschichte sichtbar. Die im 19. Jahrhundert aus Deutschland in die USA eingewanderten Familien Goldman, Kahn, Kuhn, Lehman, Loeb, Sachs, Seligman, Schiff und Warburg waren als Bankiers zu wichtigen Katalysatoren der kapitalistischen Erschließung des Kontinents geworden. Im Unterschied zu den Industriemagnaten wie Carnegie, Rockefeller oder Morgan hatten die Angehörigen dieser Finanzaristokratie aber selten im Mittelpunkt der Öffentlichkeit gestanden.
Entsprechend breiten Raum nahm nun plötzlich das bisher abgeschlossene Privatleben dieser Oberschicht ein. Paul Arnsberg, der verdienstvolle Chronist des hessischen Judentums, legte kurz darauf eine kleine Studie vor über eine der Hauptfiguren, „Jacob H. Schiff. Von der Frankfurter Judengasse zur Wallstreet”. Sie würdigte das gesellschaftliche Wirken des Financiers und Mäzens Schiff (1847-1920), dessen zahlreiche wissenschaftliche und religiöse Stiftungen, die von Harvard bis zum Technion in Haifa reichten, aber auch seine Distanz zum Zionismus und die Verachtung des Zarenreichs. Wegen des russischen Antisemitismus hatte Schiff der japanischen Regierung 1904/05 Kredite gewährt; im Ersten Weltkrieg drohte ihn der erklärte Neutralismus sogar zu isolieren.
Kartelle in der Leere
In beiden Werken tauchte der Name seines Neffen Edgar Salin (1892-1974) nicht auf. Nur Lothar Helbing zitierte 1965 eine Notiz im Tagebuch Elisabeth Salomons, der späteren Ehefrau Friedrich Gundolfs, sie habe das Laubhüttenfest 1918 mit den Salins und deren Großvater Schiff begangen. Vielleicht aus Gründen der geschäftlichen Diskretion oder wegen der im George-Kreis üblichen Selbststilisierung verzichtete Salin in Heidelberg bei Alfred Weber entstandene und 1914 gedruckte Dissertation über „Die wirtschaftliche Entwicklung von Alaska (und Yukon Territory). Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Konzentrationsbewegung” ausdrücklich auf jeden Nachweis persönlicher Kontakte. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint Salin die Erinnerung an die konkreten Umstände der ersten Reise so gründlich verdrängt zu haben, dass er auch in seinen „Amerikanischen Impressionen” 1953 und 1966 nicht mehr darauf eingegangen ist.
Nun hat Günther Roth, der „Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte” rekonstruierte, damit modellhaft zeigen können, welche lebensweltlichen Aspekte überall dort der Entdeckung harren, wo es der Forschung gelingt, Beruf und Leben, intellektuelle Kategorien und individuelle Faktoren wieder miteinander zu verbinden. Und so beleuchtet auch das vorliegende Taschenbuch am Beispiel der Beziehung des Ökonomen Edgar Salin zu seinen amerikanischen Verwandten auf eindrucksvolle Weise eine Dimension der unmittelbaren Welterfahrung, die in Vergessenheit geraten war. Die Einführung von Anton Föllmi widmet sich vor allem dem späteren Wirken Salins, erwähnt jedoch, dass der Vater ein Partner des Vaters von Carl Zuckmayer war. Symptomatisch für den Traditionsbruch ist bereits die Überlieferung der Quelle, des nicht etwa in dem von Ingrid Metzger-Buddenberg für die Universitätsbibliothek Basel verzeichneten Nachlass, sondern in einem Antiquariat anonym aufgefundenen Albums mit dem Tagebuch der Amerikareise.
Beschrieben wird eine klassische Kavalierstour, spendiert vom berühmten Onkel als Belohnung für das Abitur - und Grundlage der Doktorarbeit. Den Großbürger des 20. Jahrhunderts führt sie aber nicht mehr nach Italien, sondern in die USA. Ähnlich wie schon der junge Aby Warburg eine Generation zuvor hat auch Salin den Text seiner Reiseeindrücke mit eigenen Photographien illustriert. Ausflüge an der Ostküste nach Boston und Washington sowie zu den Niagara-Fällen bieten weitere Eindrücke. Der junge Mann treibt Sport, badet, segelt, reitet und tanzt, fährt gern Auto und mit der U-Bahn.
Natürlich unternahm Jakob Schiff die Fahrt nach Alaska nicht als Privatmann, sondern zur Inspektion seiner Kapitalinvestitionen. Während der Anreise auf der amerikanischen Seite wechseln sich die regionalen Manager der Eisenbahngesellschaft in der Begleitung des Bankiers ab. Gleichwohl spart die Reiseroute auch hier landschaftliche Höhepunkte nicht aus. Von Seattle geht es mit dem Schiff nach Norden bis Skagway, erneut per Extrazug bis White-Horse und von dort mit dem Dampfer nach Dawson am legendären Klondike River. Salin genießt den Sommer am Polarkreis und staunt über die Gletscher des hohen Nordens. Den Rückweg nimmt die Gruppe dann ab Vancouver durch Canada, dessen Landesentwicklung wegen der langfristigen Kombination von touristischer Infrastruktur und bäuerlichen Siedlungsprogrammen positiver als die spekulativen, krisenanfälligen Verhältnisse im Nordwesten der USA beurteilt wird. Besondere Besuche gelten der alten Hauptstadt Sitka und der Indianer-Reservation auf Annette Island, weil man dort noch das Gleichgewicht zwischen Identitätswahrung und Modernisierung zu erhalten sucht.
Den Studenten interessieren technische Details des Gold Mining, der Carborundum-Erzeugung, der Fischkonservenfabrikation und vor allem des Eisenbahnbaus. Bereits hier beschäftigt Salin die damals intensiv diskutierte Frage, ob fast menschenleere Gebiete bei den Trusts und Kartellen nicht in besseren Händen seien als bei staatlichen Behörden. Mit leichter Ironie spricht das Tagebuch von den „Guggis”, den Söhnen und Firmen Meyer Guggenheims, die in Alaska mit dem Industriellen J.P.Morgan kooperierten. Salin meint, die Kritik der Syndikate sei nicht nur unberechtigt, sondern sogar „töricht, da kultureller Fortschritt nur auf diesem Wege möglich ist.” Die in Deutschland im „Verein für Socialpolitik” und 1909 in einer Monographie von Hermann Levy behandelte Frage wird dann zum Gegenstand seiner Dissertation. Politische Kommentare gelten der zeittypischen Bewunderung Theodore Roosevelts und der Hoffnung auf eine dauerhafte amerikanisch-deutsche Freundschaft - 1911 lernte Jakob Schiff während der Kieler Woche auf der Jacht Albert Ballins Wilhelm II. kennen.
Doch selbst in Alaska entgeht die New Yorker Prominenz den stereotypen Ressentiments nicht: Sie muss mitanhören, dass der Bischof des Yukon Territory einen Choral „For the conversion of the Jews” singen lässt. Indirekt korrespondiert damit der versöhnliche Ausklang der Reise, die Verleihung des Moses-Schiff-Preises in der Educational Alliance in New York, eben jener für die Assimilation der osteuropäischen Juden tätigen Organisation, über deren Arbeit sich auch Max und Marianne Weber während ihres USA-Aufenthalts 1904 informiert hatten.
MICHAEL MATTHIESEN
EDGAR SALIN: Im Sonderzug nach Alaska. Tagebuch einer amerikanischen Reise 1910. Herausgegeben von Paul Hugger. Limmat Verlag, Zürich 2004. 179 Seiten 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
SZ Michael Mathiesen würdigt diesen Band vor allem als ein weiteres Kapitel der "faszinierenden" transatlantischen Kulturgeschichte, die von der - oft aus Deutschland in die USA eingewanderten - jüdischen Finanzaristokratie geschrieben wurde. In einer selbst dem interessierten Leser leider unverständlichen Einführung umreißt der Rezensent die bisherige Literatur zum Thema und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Protagonisten. Über den Band selbst erfahren wir nur, dass er die Aufzeichnungen des jungen Edgar Salin von seiner Kavalierstour durch Alaska enthält. Zu der hatte ihn sein Onkel, der Finanzier Jacob Schiff eingeladen, und beide waren weniger an den landschaftlichen Reizen des Polarkreises interessiert als daran, Möglichkeiten kapitaler Investitionen zu eruieren. Ganz der kommende Nationalökonom, beschäftigt sich Salin den Informationen des Rezensenten zufolge intensiv mit Fragen des Gold-Mining, der Carborundum-Erzeugung und der Frage, ob solch menschenleere Gebiete besser von Trust oder von staatlichen Behörden erschlossen werden sollten. Mit einem Urteil hält sich der Rezensent dann leider vornehm zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH