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Von den Tagen des Ersten Weltkriegs über die Wirren des Bürgerkriegs bis in die Zeit der beginnenden "Sowjetisierung" spannt sich der zeitliche Bogen von Dobycins Skizzenroman. Er verfolgt den Prozeß einer schleichenden Verödung und Versteppung, die allmähliche Selbstauflösung einer Familie, einer Gesellschaft, in Elend und Gleichgültigkeit. Surka, der "Held" der Geschichte, treibt davon in die Verwahrlosung, in die äußere und innere. Er will Räuber werden. Ist doch klar, da doch so viele Verbrecher werden in den Jahren, als ganz Europa unter die Räuber viel.

Produktbeschreibung
Von den Tagen des Ersten Weltkriegs über die Wirren des Bürgerkriegs bis in die Zeit der beginnenden "Sowjetisierung" spannt sich der zeitliche Bogen von Dobycins Skizzenroman. Er verfolgt den Prozeß einer schleichenden Verödung und Versteppung, die allmähliche Selbstauflösung einer Familie, einer Gesellschaft, in Elend und Gleichgültigkeit. Surka, der "Held" der Geschichte, treibt davon in die Verwahrlosung, in die äußere und innere. Er will Räuber werden. Ist doch klar, da doch so viele Verbrecher werden in den Jahren, als ganz Europa unter die Räuber viel.
Autorenporträt
Peter Urban, geboren 1941 in Berlin, studierte Slavistik, Germanistik und Geschichte in Würzburg und Belgrad, war Verlagslektor bei Suhrkamp, Hörspieldramaturg beim WDR und ist Lektor im Verlag der Autoren in Frankfurt; er übersetzte u.a. Werke von Gorkij, Ostrovskij, Daniil Charms, Kazakov, Chlebnikov und das gesamte dramatische Werk von Anton Cechov. Für seine Neuedition und -übersetzung der Cechov-Briefe wurde ihm der Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis zuerkannt. Peter Urban verstarb 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Die Ohnmacht des Räubers in der Provinz
Leonid Dobycin pumpt das Öl aus der Propagandamaschine des Stalinismus / Von Sonja Zekri

Als das Fallbeil verordneten Vergessens auf Leonid Dobycin niederfuhr, hatte er gerade zwei Erzählbände und einen Roman veröffentlicht. In der Leningrader Avantgarde der dreißiger Jahre galt er als Einzelgänger, als vielversprechendes Talent, aber als Außenseiter. "Der Reichtum seiner Seele lag tief und fest, argwöhnisch, auf ewig verborgen unter den sieben Siegeln der Ironie, die bisweilen in einem ungeheuer treffenden Spitznamen, einem Scherz, einer Karikatur aus ihm herausbrach. Er war ein boshaft, hoffnungslos, ausweglos guter Mensch. Warum er seinen Platz in der Literatur jener Jahre als einen - vielleicht zu geringen - besonderen, eigenen ansah? Weil er keine Nachbarn hatte, weder Lehrer noch Schüler", schrieb der russische Schriftsteller Wenjamin Kawerin. In Leningrad wollte Dobycin mit Daniil Charms den Almanach "Die Wanne des Archimedes" herausgeben. Das Projekt wurde nie verwirklicht.

Dobycins erste Erzählung stammt von 1923, aus dem Jahr, als Isaak Babel Teile seiner "Reiterarmee" veröffentlichte. Der Arztsohn Dobycin war damals schon 29 Jahre alt, hatte eine Kindheit in Ljucin im Gouvernement Witebsk, einige Jahre in der Provinzstadt Brjansk südwestlich von Moskau und ein Studium als Ökonom hinter sich. Seine Texte berichteten in einer kargen, lakonischen Sprache von einfachen Menschen. Sie verweigerten sich dem Getöse der Propaganda und dem ideologischen Zuckerguß des Proletkults.

Dobycins beide Erzählbände werden von der stalinistischen Kritik skeptisch beäugt, der Roman "Die Stadt N." führt zum Eklat. Die Geschichte eines Jungen, der in einer russischen Kleinstadt aufwächst, beschreibt nicht nur die strangulierende Enge der Provinz, sondern berührt auch das Tabuthema Homosexualität. Die "Prawda" entfacht mit einem Artikel gegen Schostakowitsch und die Neuerungen in der Musik die berüchtigte Formalismusdebatte. Auch Dobycin muß sich von seinen Kollegen im Leningrader Schriftstellerverband Formalismus und "Verherrlichung der Vergangenheit" vorwerfen lassen. Man nennt seinen Roman ein "zutiefst feindseliges Werk", ein "Monstrum". Sein Name wird aus den Annalen der sowjetischen Literatur getilgt, sein Werk über Jahrzehnte totgeschwiegen. Dobycin, vierzig Jahre alt, nimmt sich das Leben.

Den jetzt erschienenen Roman "Im Gouvernement S." haben die Handlanger Stalins nie zu sehen bekommen. Dobycin brachte das Manuskript bei einem Freund in Sicherheit. Erst vor drei Jahren erschien er erstmals in Rußland. In diesem Herbst hat die Friedenauer Presse der Verlegerin Katharina Wagenbach das Buch herausgebracht. Der Held des Romans ist der kleine Bauernjunge Surka, der mit richtigem Namen Alexander heißt und noch keine zehn Jahre alt ist. Surkas Vater ist im Krieg, die Mutter Avdotja zieht mit Surka und seinen beiden Geschwistern zu seinem Onkel ins Gouvernement Samara, in eine Hütte aus Balken und Blech mit zwei Zimmern, von denen eines "Saal" genannt wird. Surka geht mit der Mutter zum Bahnhof, um Piroggen zu verkaufen. Kurze Zeit besucht er die Schule. Dann bricht Not aus, die Geschäfte gehen schlecht. Um die Familie zu ernähren, bettelt und stiehlt Surka. Als der Vater aus dem Krieg zurückkehrt, muß er zurück ins zweite Glied. Er reißt aus. Auf einem Güterwagen fährt er in die Stadt Samara, "Räuber werden".

Verbrecherkarrieren wie die des kleinen Surka gab es im revolutionären Rußland millionenfach. Doch Dobycins eigentliches Thema ist das zermürbende Einerlei des analphabetischen, stumpfen, primitiven bäuerlichen Rußland, der - wie er es nennt - unbeschreibliche "Idiotismus des Landlebens", wo das Leben der Menschen von den Kirchenfeiertagen geordnet wird, von Aussaat, Ernte und der Aufzucht der Tiere. Die Weltgeschichte schlägt Breschen in dieses Dorfleben, macht es verwirrend, unverständlich. Und plötzlich, angesichts der Änderungen, erhält der öde Alltag etwas Vertrautes, Tröstliches.

Die Menschen sträuben sich gegen die neue Zeit, wo sie können: Der Postbote will die neuen Briefmarken nicht stempeln, weil sie das Bild des Zaren tragen, der auf dem Dorf noch immer verehrt wird. Ein Arzt verstümmelt einen jungen Mann, um ihn um die Einberufung herumzumogeln. Surka sieht einen frühen amerikanischen Slapstick-Film und träumt von den schönen hohen Häusern in New York. Ein krasserer Gegensatz als der zwischen der Metropole des Kapitalismus und dem ärmlichen Dorfalltag ist kaum denkbar. "Seife gab es damals schon keine. Sie wuschen sich mit einer Lösung, in der Schafspisse war und Wolle schwamm." In wenigen Sätzen entlarvt Dobycin die ganze Sinnlosigkeit des Bürgerkrieges: Morgens kamen die Weißen und ließen das Öl ab, "das man in die Lokomotiven pumpt, und fuhren mit einem Zug davon. Es floß in die Gräben. Gegen Mittag kamen die Roten und befahlen allen, mit Einmachgläsern und Eimern zu erscheinen und es abzuschöpfen": Die Aktionen der einen sind so sinnlos und aufreibend wie die der anderen, kein bolschewistisches Pathos mildert die Not der Menschen.

Die unendliche Gleichmut, den Stoizismus, der doch nur eine Reaktion auf die bedrückenden Lebensumstände ist, schildert Dobycin, ohne von der Seelenlage seiner Figuren zu sprechen. Allein die Taten, die knappen, in simplen Worten geführten Dialoge drücken die Gemütsverfassung und Gedanken der Menschen aus, allen voran die des kleinen Surka. In seinem Haus hat sich ein Soldat mit seiner Frau und allerlei Habseligkeiten einquartiert. Eines Tages findet Surka den Soldaten tot im Schnee: "Die Sächelchen - sagte er, plötzlich strahlend - sind jetzt unser."

Der Tod ist in Surkas Dorf kein Drama, und gerade deshalb eine Tragödie. Eine Frau erzählt von einem Massaker an siebzig ungarischen Kriegsgefangenen: "Jeder, der davon hörte, lief dorthin. Auch wir, obwohl schon alt, kamen mit drei Paar Stiefeln und verschiedenen Sachen aus den Taschen zurück - mit Geldbeuteln und Uhren." Das ist keine Herzenskälte, keine Fühllosigkeit, sondern die Ohnmacht von Menschen, die jede Chance nutzen müssen. Kein Plädoyer für Humanismus könnte leidenschaftlicher sein als diese leidenschaftslose Schilderung des Kampfes ums Überleben.

Als Dobycin den Roman 1934 schrieb, lagen Bürgerkrieg und Revolution Jahrzehnte hinter ihm. Seine Dorfwelt ist so artifiziell wie übrigens auch die Sprache der Dörfler. "Im Gouvernement S." hat Parallelen zu "Die Stadt N.", wenn auch nicht im Titel, mit dem der Verlag etwas gezwungen eine Analogie herzustellen versucht. Beide sind kindliche Entwicklungsromane, beide klagen Revolution und Bürgerkrieg um so nachhaltiger an, je unspektakulärer sie daherkommen. Dobycins Sprache ist simpel, aber auf den Punkt präzise, mit Anspielungen und Zitaten gesättigt, die die Ausgabe dankenswerterweise in einem Anhang erklärt. Mit einer Handvoll Worte brennt Dobycin Bilder von poetischer Kraft in den Kopf des Lesers: "Den Wald der Länge nach durchteilend, zeigte sich auf einmal weißer Rauch und eilte schnell dahin. Ein Zug tauchte auf und polterte, näherkommend."

Für solche Beschreibungen standen die russischen Meister der kleinen Form Pate, Tschechow und besonders Puschkin, vor dem sich Dobycin in vielerlei Bezügen verneigt. "Im Gouvernement S." ist ein kühnes, ein waghalsiges, ein wichtiges Werk. Vor allen Dingen aber ist es ein wunderbares Buch.

Leonid Dobycin: "Im Gouvernement S. - Surkas Verwandtschaft". Roman. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 1996. 152 S., geb., 38,- DM.

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