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Am 19. Januar 1939 erreicht Walter Kaufmann mit einem der letzten jüdischen Kindertransporte aus Nazi-Deutschland das rettende London. Es ist sein 15. Geburtstag. Nur kurz währt das Gefühl der Sicherheit in der Internatsschule Bunce Court in Faversham. Im Mai 1940 internieren ihn die britischen Behören als "Ausländer" in Liverpool. Mit Zweitausend anderen Flüchtlingen wird er auf dem Gefangenenschiff Dunera nach Australien deportiert. 18 Monate verbringt er in den Wüstencamps Hay und Tatura zwischen Stacheldraht und Wachtürmen. Obstpflücker, Soldat, Hafenarbeiter, Hochzeitsfotograf, Seemann,…mehr

Produktbeschreibung
Am 19. Januar 1939 erreicht Walter Kaufmann mit einem der letzten jüdischen Kindertransporte aus Nazi-Deutschland das rettende London. Es ist sein 15. Geburtstag.
Nur kurz währt das Gefühl der Sicherheit in der Internatsschule Bunce Court in Faversham. Im Mai 1940 internieren ihn die britischen Behören als "Ausländer" in Liverpool.
Mit Zweitausend anderen Flüchtlingen wird er auf dem Gefangenenschiff Dunera nach Australien deportiert. 18 Monate verbringt er in den Wüstencamps Hay und Tatura zwischen Stacheldraht und Wachtürmen.
Obstpflücker, Soldat, Hafenarbeiter, Hochzeitsfotograf, Seemann, Schriftsteller das sind die nächsten Stationen seines Lebens, das einem Abenteuerroman gleicht. Unter australischen Seeleuten findet er Anschluss an die Gewerkschaftsbewegung, die KP. In Fabriken und im Hafen liest er aus seinen Erzählungen.
1955 kehrt er nach Europa zurück, lebt als Schriftsteller in der DDR.
Seine Romane und Reisereportagebände erleben hohe Auflagen und stoßen doch oft an die Grenzen der Zensur. Sein Roman "S" wird vom Verlag fallen gelassen, da er den Mauerbau thematisiert, "Flucht", eine Geschichte über eine Flucht von Deutschland Ost nach Deutschland West, öffentlich totgeschwiegen. Und auch die Stasi hat ihn im Visier. In seiner Akte finden sich Spitzelberichte prominenter Kollegen.
Seine Auslandsreportagen sind präzise Zeitzeugnisse, hautnah am Leben: Er sitzt im Gerichtssaal in San Jose, als die Jury am 4. Juni 1972 Angela Davis nach spektakulärem Prozess freispricht. 1983, ein Jahr nach dem Massaker von Sabra und Shatila, ist er im Libanon unterwegs.
Israel, einst Hoffnungsland für ihn und seine Eltern, fasziniert ihn, und mit wachem Blick erkundet er es.
Der Konflikt zwischen Arabern und Juden erschüttert ihn. Die gefährlichste Situation erlebt er in Nordirland, wo er knapp einem Bombenattentat entgeht.
Längst als Autor erfolgreich, fährt der Rastlose auf einem Frachter noch einmal zur See, erkundet mit der Entdeckerlust eines Jack London oder Somerset Maugham fremde Ufer, schreibt darüber voller Leuchtkraft und Lebendigkeit. Mit demselben neugierig-kritischen Blick durchmisst Walter Kaufmann die Spanne von über acht Jahrzehnten in seinem packenden Lebensreise-Bericht.
Autorenporträt
Geboren 1924 im Berliner Scheunenviertel, wuchs in Duisburg auf und emigrierte 1939 über England nach Australien, wo er bis 1956 lebte. 1956 siedelte er über Warschau in die DDR über.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2010

Im Cadillac durch Kuba
Als australischer Jude in der DDR: Walter Kaufmanns erstaunlicher Lebensroman

IM Margarete schrieb einen Bericht über ihn. Später hat sie sich entschuldigt. Walter Kaufmann hat es nicht geschadet. Sein australischer Pass schützte ihn.

Mit schönem Schwung hat die junge Frau, die sich Margarete nannte, ihren handschriftlichen Bericht über den Nachbarn in Kleinmachnow bei Berlin geschrieben: "Ich halte Walter Kaufmann für recht talentiert, sein Talent ist gefährdet durch mangelhafte theoretische Kenntnisse. Er ist, scheint mir, zu sehr Impressionen ausgesetzt, manchmal vermisst man dabei die gedankliche Durchdringung des Stoffes." Es war der 1. Juli 1959. IM Margarete hieß mit richtigem Namen Christa Wolf. 1993 veröffentlichte der "Spiegel" diesen frühen Bericht und baute darauf und auf den anderen Stasi-Berichten Wolfs eine scharfe Anklage gegen die "zaghafte Opportunistin" der DDR auf. Doch ausgerechnet jener Walter Kaufmann wandte sich daraufhin mit einem Brief an den "Spiegel", in dem er schrieb: "Das Werk der Christa Wolf zeugt von einer Entwicklung und sittlichen Reife, gegen die jene mich betreffenden Zeilen aus einer MfS-Akte der späten fünfziger Jahre nicht ins Gewicht fallen."

Zu dumm. Das Opfer zog der Anklage den Boden unter den Füßen weg. Denn Walter Kaufmann empfand sich nicht als Opfer. Da gab es ganz andere Anschuldigungen in der 300-seitigen Stasi-Akte über ihn. Anschuldigungen, die sich zum großen Teil als haltlos erweisen sollten. Die Einschätzung Christa Wolfs hatte ihm jedenfalls sicher nicht geschadet.

Jetzt, siebzehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung der Stasi-Berichte Christa Wolfs und mehr als fünfzig Jahre nachdem sie den kurzen Text über Kaufmann schrieb, hat Christa Wolf ein Buch darüber veröffentlicht, wie es zu ihren Berichten kam und wie sie das vergessen konnte. Einen Roman über ihr Leben, ihre Kämpfe, ihren Glauben und die Macht der Verdrängung ("Die Stadt der Engel" F.A.S., 13. Juni). Und es ist schon ein sonderbarer Zufall, dass zur gleichen Zeit auch der Lebensroman jenes Mannes erscheint, über den sie damals Auskunft gegeben hatte, der Lebensroman Walter Kaufmanns: "Im Fluss der Zeit".

Es ist ein verrücktes Buch, ein Bericht aus einem außergewöhnlichen, exotischen deutschen Leben. Ein kommunistischer Welt-Abenteuerroman, eine wilde Fahrt durch seine Bücher und sein Leben. Walter Kaufmann wurde 1924 als Sohn der siebzehnjährigen Jüdin Rachela Schmeidler geboren. Sie gab ihn zur Adoption frei, und Kaufmann wuchs bei seinen jüdischen Adoptiveltern in Duisburg auf. Der Adoptivvater, Träger des Eisernen Kreuzes, und seine neue Mutter wurden im November 1938 nach Theresienstadt deportiert, von wo aus sie dem Sohn noch eine Karte schreiben konnten. Später wurden sie in Auschwitz ermordet. Der fünfzehnjährige Walter kam mit einem der letzten Kindertransporte über die Niederlande nach England. Die reichen Verwandten dort zeigten sich nicht sehr interessiert, er wurde als feindlicher Ausländer inhaftiert und bald schon auf einem Gefangenenschiff nach Australien abgeschoben. Für achtzehn Monate wird der junge deutsche Jude hier in Wüstencamps hinter Stacheldraht gefangengehalten, bis er schließlich freikommt, auf Obstplantagen arbeitet, um seinen Lohn geprellt wird und schließlich in die australische Armee eintritt.

Nach dem Krieg beginnt er zu schreiben, schreibt dokumentarisch, realistisch, schmucklos, temporeich, auf Englisch. "Voices in the Storm" heißt sein erstes Buch. Davon leben kann er nicht, arbeitet als Hochzeitsfotograf und in einem Schlachthof. Bis ihn der Gewerkschaftsführer der Seeleute namens Bill Bird eines Tages am Hafen anspricht und fragt: ",Den Wechsel vom Schreibtisch zum Hafen - trauen Sie sich den zu?' ,Was läge an?', fragte ich, und er zählte es auf. ,Beim Bagger festmachen, ablegen, weit draußen im Meer den Schlamm ablassen - per Schwungrad. Was Kraft kostet.' Dann sagte er: ,Ein Genosse mehr bei Harbour Trust - wäre gut.' ,Bin ich nicht', erklärte ich ihm, ,hat Ihnen Ted Bull das nicht gesagt?' Bill Bird lachte. ,Muss ja nicht so bleiben - nach dem, was ich von Ihnen weiß'."

Und es blieb auch nicht so. Walter Kaufmann fuhr zur See, jahrelang, nach Japan, Neuseeland, in die Welt; und Walter Kaufmann wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Australiens. Verkaufte die Moskauer Illustrierte "Sovietunion" und hängte in seinem Zimmer am Hafen ein Stalinbild an die Wand, bis ihn eine aus Kiew emigrierte Genossin anfuhr: "Nimm es ab - dafür weißt du zu wenig." Er nahm es ab, hing aber weiter seinen Vorstellungen vom Paradies der Werktätigen in der Sowjetunion an und ignorierte die Stimmen der Hafenarbeiter, die ihm ins Ohr raunten: "Begreif endlich, du Idiot, dass unter Stalin mehr Kommunisten umgekommen sind als unter Hitler."

Es wird eine Weile dauern, bis er es begriffen haben wird. Und seine Reise geht weiter und weiter.

Bisweilen liest sich Kaufmanns Buch wie eine märchenhafte Verdichtung der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Der Stil geht mal ins Kolportagehafte, mal ins Männerromantisch-Verklärende, dann wieder ist die Sprache nackt und rauh. Oft lässt er Passagen aus einem früheren Werk einfließen, denn die meisten der etwa vierzig Bücher, die er in seinem Leben schrieb, haben einen stark autobiographischen Kern. Er kann in dieser Autobiographie immer wieder darauf zurückgreifen. Der Wechsel der Erzählerstimmen, des Personals stört manchmal den Fluss, aber Kaufmann reißt den Leser immer wieder zurück in seine Lebensgeschichte, wie er sie heute sieht.

Er ist dann, 1955, den Weg vieler Emigranten zurück nach Europa gegangen, zunächst nach Duisburg, wo ihn die Kälte und Gleichgültigkeit der Menschen so abstießen, dass er in die DDR übersiedelte, wo er als Schriftsteller von Bodo Uhse und anderen hoffnungsvoll willkommen geheißen wurde. Als australischer Jude in der DDR war Kaufmann ein echter Exot. Er behielt seinen australischen Pass, bekam einen grünen Ausländer-Pass der DDR dazu und hatte somit eine extrem privilegierte Stellung. Er konnte reisen, wohin er wollte, und zurückkehren, wenn es ihm passte. Er fuhr wieder zur See, schrieb Reportagen aus Irland und Israel, reiste mit einem geliehenen Cadillac durch Kuba und schrieb über den Prozess gegen die amerikanische Kommunistin Angela Davis.

Kaufmann verklärt das Leben in der DDR nicht. Er war nie in der SED, obwohl er lange Jahre Generalsekretär des DDR-PEN gewesen ist. Er war kein Oppositioneller und kein Parteimann, viele seiner Bücher konnten in hohen Auflagen erscheinen, bei einigen stimmte er zähneknirschend Zensurmaßnahmen zu, einige, wie das Buch "Flucht" über einen Republikflüchtling, wurden totgeschwiegen. Doch nach der Wende verschwanden Kaufmanns Bücher aus den Regalen, ein Ost-Verlag nach dem anderen wurde eingestellt, die alten Bestände geschreddert.

Wie gut, dass er es jetzt noch einmal alles aufgeschrieben hat und dass von Walter Kaufmanns Leben und Werk mehr bleiben kann als nur die Notiz von Margarete.

VOLKER WEIDERMANN

Walter Kaufmann: "Im Fluss der Zeit". Dittrich-Verlag, 312 Seiten, 19,80 Euro

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