steht die Freiheit auf dem Spiel, die hier eine Freiheit von der Angst ist, von der Anarchie des Schicksals (Tagore), Freiheit von allen Bindungen und damit letztlich vom Leben (Frost). Erst danach geht es richtig los, und zwar mit diesem Satz: "Sie werden mich töten."
Der Weg in dieses Buch ist also steinig. Aber nirgends steht geschrieben, das müsste anders sein und leichter Zugang gewährt werden, nicht, wenn es um alles geht wie hier. Und ist nicht vielmehr der Mut zu bewundern, mit dem Ava Farhmehri, deren Romandebüt dies ist, mit voller Verzweiflung voraus loslegt, um die Geschichte zu erzählen, die zwischen dem Titel, den Motti und der Vollendung ihres ersten Satzes liegt? Eine Geschichte, die kein anderes Ende finden kann als ebendieses, das der erste Satz so bestimmt feststellt?
Unbedingt muss dieser Mut bewundert werden! Das Buch, erzählt aus der Ich-Perspektive der zum Tode verurteilten zwanzigjährigen Romanheldin Sheyda Porroya aus Teheran, ist ein Zeugnis ungeheurer literarischen Courage. Zwar ist die Anlage einer Rahmenhandlung mit dazwischenliegendem Rückblick zu Elternhaus, Nachbarn, Liebhabern und Therapeut konventionell. Hier sind es die letzten Tage von Sheyda im Teheraner Frauengefängnis im Jahr 1999, von denen aus in einzelnen Kapiteln nicht immer chronologisch zurückgeblendet wird. Doch die Sichtweise und der Ton von Ava Farmehri sind extravagant. Weder scheut sie sich vor der saftigen Beschreibung von Körperfunktionen und -flüssigkeiten, genässten Betten, grünem Erbrochenen, von ausgeschlagenen Zähnen, herausgerissenen Nägeln oder blutgetränkten Matratzen, noch schreckt sie vor blumigen Bildern zurück, die dieser Drastik gegenüberstehen, lässt ihrer Heldin immer wieder einen Vogelschwarm folgen, der ihr vor Augen führt, was Freiheit wäre, oder sie in schwärmerische Gefühle versinken, was dann so klingt: "Die Liebe katapultierte mich ins Land des Wahnsinns, wo ich Sterne vom Himmel pflückte, um sie zu Hause auf Bäume und Teppiche zu pflanzen."
Sheyda erinnert sich an alles, und die Beschreibungen der physischen Welt sind fast immer sensationell (wenn sie nicht, wie ab zu, in den Kitsch abgleiten). Selbst an den Geruch der Großmutter, den sie beim Spielen unterm Küchentisch einsaugte, erinnert sie sich: "Den Geruch von feuchten Körperteilen und unberührten Dreiecken, den Geruch ihres Fischer-Ehemanns und seines Begehrens, den Geruch von geschwollenen, arthritischen Füßen, den Geruch von Schweiß, der ihr die Kniekehlen hinabrann, auf die Ziellinie ihrer Strümpfe zu, den Geruch von rebellischer Weiblichkeit, von Es-war-einmal-ein-Mädchen, von unterdrückter Feminität."
Und während sie sich erinnert, beginnt Sheyda zu begreifen, ihr Platz in dieser Welt ist irgendwo außerhalb - nicht außerhalb des Hauses, der Stadt oder des Gefängnisses, sondern außerhalb ihres Körpers, "außerhalb meines Fleischs und meiner Rippen". Dieses Gefühl radikaler Deplaziertheit liegt dem völligen Einverständnis mit dem Todesurteil zugrunde. Sie habe ihre Mutter getötet, so lautet die Anklage, und Sheyda hat gesagt: So ist es.
Sheyda ist eine notorische Lügnerin. Keine perfekte Tochter oder junge Frau. Sie dichtet allem ein Gefühlsleben an, was zu einigen stilistisch strapaziösen Passagen führt und immer wieder einmal schiefen Bildern, aber dies fällt beim Debüt einer offenbar überbordend sprachbegabten und phantasiebewehrten Autorin kaum ins Gewicht. Ist ihre Heldin wahnsinnig? Oder sind ihre Aufsässigkeit, ihre Verträumtheit, ihre Gabe, die Welt körperlich zu erfahren,und ihr Fluch, auf sie körperlich zu reagieren, der Spiegel, in dem sich ein Unterdrückungssystem offenbart, in dem sie als Person mit all diesen Eigenschaften nicht vorgesehen ist?
Sie stellt sich quer. Macht ins Bett. Will sich nehmen, worauf sie Lust hat, und wird bestraft. Vom Vater vor allem, aber auch von der Mutter, der sie jede Hoffnung auf ein Leben anderswo genommen hat, indem sie geboren wurde. Sie erfindet sich ein Alter Ego, nämlich (Dantes) Beatrice, in deren Gestalt sie schlüpft, wenn sie zu ihrem Liebhaber, dem Direktor ihrer Schule, unterwegs ist. Und in deren Umgebung sie sich hineinträumt, denn Florenz damals scheint ihr so viel freier als Teheran heute.
Darum geht es. Um die Körper der Frauen inmitten eines unbewohnbaren Lands, das für diese Körper nur eine Verwendung hat, als Mutter und Ehefrau nämlich. Diese Beschränkung bei gleichzeitiger körperlicher Indienstnahme, Versehrung und unendlicher Einsamkeit bringt Frauen wie Sheyda und auch ihrer Mutter den Tod. Manchen Männern übrigens auch. Dieses Buch ist eine große Abrechnung mit dem Gottesstaat, in dem es keine Hoffnung gibt.
Ava Farmehri ist ein Pseudonym. Wer auch immer die Frau ist, die sich dahinter verbirgt, sie lebt in Kanada, schreibt englisch, ist, so steht es im Klappentext, im "Nahen Osten" aufgewachsen, und dies ist ihr erster veröffentlichter Roman. Das letzte Wort in diesem seltsamen, teilweise atemraubenden, satzweise eben am Kitsch entlangschrammenden großartigen Buch ist dann tatsächlich: Freiheit. Dafür hat sich jede Zumutung gelohnt.
Ava Farmehri: "Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen". Roman.
Aus dem Englischen von Sonja Finck. Edition Nautilus, Hamburg 2020.
288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main