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In seinem "Logbuch"-Roman erzählt der Schweizer Autor Jürg Amann die grandiose und zugleich tragisch-lächerliche Geschichte der menschlichen Flugversuche. Genau wie im Mythos von Dädalus und Ikarus gibt es zwei Figuren: Vater und Sohn. Beide begleiten wir auf ihrer weiten Reise durch Zeiten und Räume - von der mythischen Frühzeit bis in unsere von der Technik beherrschte Gegenwart.

Produktbeschreibung
In seinem "Logbuch"-Roman erzählt der Schweizer Autor Jürg Amann die grandiose und zugleich tragisch-lächerliche Geschichte der menschlichen Flugversuche. Genau wie im Mythos von Dädalus und Ikarus gibt es zwei Figuren: Vater und Sohn. Beide begleiten wir auf ihrer weiten Reise durch Zeiten und Räume - von der mythischen Frühzeit bis in unsere von der Technik beherrschte Gegenwart.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.1998

Erst rauf und dann wieder runter
An die Leine genommen: Jürg Amanns Roman "Ikarus"

Allen, die es noch nicht wissen, erklärt der Schweizer Schriftsteller Jürg Amann in seinem neuesten Buch, warum der Luftballon so heißt, wie er heißt: "weil man ihn, wenn man sich anstrengte und die Lippen um sein Mundstück zusammenpreßte und die Backen, die dabei ganz rot wurden, aufblähte, mit der eigenen Atemluft aufblasen konnte, wobei auch die Aufschrift mit seiner sich dehnenden Oberfläche mitwuchs". In solchen Passagen ist dieser Autor in seinem Element. Er hat sich darauf spezialisiert, den Dingen Bedeutung dadurch zu verleihen, daß er sie beschreibt. Kaum einmal ertappt man ihn dabei, daß er mit ihnen spielt, ihnen ein Schicksal andichtet, sie in komplizierte Geschichten verstrickt. Lieber läßt er den Luftballon fliegen, schaut ihm ein wenig nach und kehrt dann an den Schreibtisch zurück, um in wohlgebauten Sätzen die nächste Beschreibung anzufertigen.

Amann hat einen großen Stoff: die Geschichte der menschlichen Flugversuche. Und er hat seinem Buch einen Titel gegeben, der auf den mythischen Ursprung dieser Geschichte zurückführt: "Ikarus". Aber er tut alles, um diesen Stoff kleinzuarbeiten und in eine Sprache einzuschließen, die sich die Flügel nie versengt. Aus Daidalos und Ikaros werden ein bastelnder Vater und sein Sohn, der als Ich-Erzähler aus der Werkstatt zweier Tüftler berichtet, die im ort- und zeitlosen Irgendwo einer ländlichen Idylle noch einmal getreulich alle Stationen von der Beobachtung des Vogelfluges bis zum Aufstieg im Ballon zurücklegen. Sie werkeln im künstlichen Klima einer sehr ausgedachten Naivität und einer etwas umständlichen Komik. Treuherzig reibt sich der Sohn mit Zugsalbe ein, um so die Schwerkraft zu überwinden. Penibel wird die Typologie der Vogelflugarten entwickelt und notiert. Wer eine präzise Beschreibung der Teile sucht, aus denen man einen Drachen zusammenbaut, findet sie hier. Wie auf dem Kinderhügel enden die Stürze mit eher glimpflichen Schrammen. Die kosmische Metaphorik, seit je mit der Poetik des Fliegens im Bunde, hat sich dem Basteldrachen anzubequemen, der nach seinem Absturz "wie eine zerrissene Sonne" im Baum hängt.

Nichts erinnert in diesem übersichtlichen Buch daran, daß Daidalos auch der Erbauer des Labyrinths war. Dieser Vater und dieser Sohn träumen nur sehr ausgedachte Träume, ihr beharrliches Tüfteln und Basteln bleibt stets unterhalb jenes Radikalismus, der das Grübeln bodenlos werden läßt. In einer Bemerkung des Erzählers wird der Grund dafür sichtbar, daß seine Sprache die Bodenhaftung kaum einmal verliert: "Wir hielten nach wie vor jede Kleinigkeit schriftlich fest." Wie der mythische Ikarus die Sonne scheut dieser Erzähler jene Regionen, die Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo den aerostatischen Maschinen des Zeitalters der Revolutionen erschlossen hat. Alle Anekdoten um die frühen Ballonfahrer seit den 1780er Jahren sind hier versammelt: die Risiken der Heißluft, der Aufstieg der Tiere, der Übergang zur Gasfüllung.

Aber die Welt um die Ballons verschwindet in der dürren Vater-Sohn-Konstruktion, die alle Abenteurer der Luft anonymisiert und jede historische Konstellation aufs Schema von Aufschwung und Absturz hin abstrahiert. Achtlos geht dieser "Roman" der Flugversuche an den Papierfabrikanten aus Annonay, den Brüdern Montgolfier, vorbei, statt die schillernden Facetten des gebildeten Dilettanten in der Kultur der Aufklärung in die eigene Geschichte einzuweben. Fluchtpunkt der Erzählung ist der Aufstieg mit der aus Aluminium gefertigten Kugelgondel in die Stratosphäre. Er ist, wiederum anonymisierend, dem ehrgeizigen Rekordflug des Schweizer Physikprofessors August Piccard im August 1931 nachgebildet.

Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein hat daraus vor einiger Zeit die schöne Novelle "O2" (1993) gemacht. Jürg Amann, der konsequent auf jede novellistische Zuspitzung des Erzählens zugunsten des katalogartigen Überblicks auf die Abfolge von Flugversuchen verzichtet, zahlt dafür einen hohen Preis. Er zitiert zwar am Ende die Warnung des Daidalos an Ikaros - "nimm deinen Flug nicht zu hoch, du kommst der Sonne zu nahe" -, aber seine Figuren haben keine Fallhöhe. Wenn er mit dem Satz "Es war ein Rausch" die Höhenkrankheit diagnostiziert, dann folgt dem eine Liste von Symptomen, nicht der imaginative Vorstoß in die Regionen des Rausches selbst. Die präzise, als Konstruktionsanleitung lesbare Beschreibung der Aluminiumkapsel entschädigt dafür nicht.

Der Vater stirbt am Ende im Höhenrausch, der Sohn schlägt mit der Kapsel auf dem Eis eines Gletschers auf. Hier reißt die Sprache endlich an der Leine, die sie ans Undramatisch-Deskriptive bindet. Sie mag nicht mehr nur die "Buckelstrukturen", "Reliefstrukturen", "Terrassenstrukturen" und "Wellenstrukturen" der Erdoberfläche abzeichnen. Endlich einmal will sie sich aufschwingen, um von einem großen Himmelssturz zu berichten. Sie kommt dabei auch ein Stück weit. Aber dann ist das Buch schon zu Ende, ehe die Leine gerissen ist. LOTHAR MÜLLER

Jürg Amann: "Ikarus". Roman. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 1998. 149 S., geb., 34,- DM.

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