Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 5,73 €
  • Gebundenes Buch

Heiner Müller und Alexander Kluge diskutieren in sechs Gesprächen Schnittstellen von Humanismus und Barabarei im antiken und modernen Denken. Sie ringen um ein Verständnis von Antike und Gegenwart, das nicht von Aufklärung und Idealismus verstellt ist. Dabei entstehen skeptische Positionen, die Lichtjahre vom 'Konsens der Demokraten' entfernt sind. Sie lesen sich wie Schnitte ins eigene Fleisch des denkenden und schreibenden Menschen.

Produktbeschreibung
Heiner Müller und Alexander Kluge diskutieren in sechs Gesprächen Schnittstellen von Humanismus und Barabarei im antiken und modernen Denken. Sie ringen um ein Verständnis von Antike und Gegenwart, das nicht von Aufklärung und Idealismus verstellt ist.
Dabei entstehen skeptische Positionen, die Lichtjahre vom 'Konsens der Demokraten' entfernt sind. Sie lesen sich wie Schnitte ins eigene Fleisch des denkenden und schreibenden Menschen.
Autorenporträt
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, studierte in Marburg und Frankfurt/Main Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik. Nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt absolvierte er ein Volontariat bei dem Filmregisseur Fritz Lang und betätigte sich mit Erfolg als Filmemacher und literarischer Autor. Er erhielt zahlreiche Preise. So wurde Alexander Kluge 2003 der "Georg-Büchner-Preis" verliehen und 2014 der "Heine-Preis" der Landeshauptstadt Düsseldorf. "... Als wichtiger Vertreter der kritischen Theorie knüpft er an das poetische, publizistische und politische Schaffen Heinrich Heines an", so die Jury.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.1995

Ja, ja, ja
Gut verzurrt: Heiner Müller und Alexander Kluge im Gespräch

Merkwürdige Fragen, merkwürdige Antworten. Heiner Müller grübelt, wie er seiner kleinen Tochter die grauenhaften Endzeit-Szenarien erklären soll, die sich in der Welt abspielen. "Und da fiel mir nur so ein Satz ein, daß es vielleicht eine Hoffnung ist, daß man mit dieser Frage einsam und allein ist. Da muß einem was einfallen." Alexander Kluge fragt nach: "Das wäre dein Impuls, auf das Jahr 2005 zu blicken? Dir klarzumachen, daß wir nicht mehr 1914 haben, habe ich das richtig verstanden?" - "Ja, genau", sagt Müller. Kluge: "Nun wirst du deinem Kind nur eine gewisse Zeit von Jahren begegnen." Müller: "Ja, genau. Aber in der Zeit wird es mich fragen."

Der etwas rätselhafte Dialog ist eine Schlüsselpassage jener nächtlichen Gespräche in Sat 1 und RTL, die Alexander Kluge mit Heiner Müller führte und die jetzt als Buch vorliegen. Es ist das einzige Mal, daß ein privater Ernst in die Gespräche kommt (die Sendungen über Müllers Operation sind in den Band nicht aufgenommen). Es sind Werkstattgespräche über Stücke, die noch geschrieben werden müßten, über die Möglichkeit, überhaupt noch ein Stück zu schreiben, überhaupt noch etwas zu sagen. Die Rechenschaft gegenüber dem eigenen Kind wird da zur Nagelprobe ästhetischer Integrität. Durch Einsamkeit zur Freiheit.

Doch was im Fernsehen an den Unterhaltungen der beiden elektrisierte, diese Kunst der Andeutung, der Ahnung, der sich gegenseitig hochschaukelnden Assoziationen, diese parallelen Schwingungen, die sich immer wieder in Geistesblitzen zu entladen schienen, wirkt in der gedruckten Fassung oft nur dunkel und verquast. Wahrscheinlich, weil es gerade das Unbestimmt-Schwebende ist, das Kluges Fernsehdialoge so beeindruckend machte. Im Buch wird das Schwebende fixiert, festgezurrt.

Kluge und Müller geben sich keine Mühe, ihre Gedankenfetzen auszuformulieren, ihnen eine logische Stringenz und Plausibilität zu geben. Es sind alles nur Möglichkeiten und Eventualitäten, denen sie ihre durch die Politik und Literaturgeschichte eilenden Stimmen leihen. Deren Richtigkeit könnte allein ein fertiges Werk erweisen. Doch Kluge ist dieses Denken im Konjunktiv ohnehin gemäß, seine ganze Produktion wirkt wie ein Zurückschrecken vor dem fertigen Werk. Und Müller redet so, von der Passage mit dem Kind abgesehen, als hätte die Geschichte, ja selbst das eigene Leben kaum ein Gewicht. Alles relativiert sich gegenseitig, schuldig geworden seien ohnehin alle in diesem Jahrhundert. Mit Virilio hält er eine "Allianz der Schuldigen" für die einzige Hoffnung, die Europa noch hat.

Moral reduziert sich für ihn auf die Frage nach der Sprache, dem noch Sagbaren. Das öffentliche Reden kommt ihm unheimlich vor, abstrakt, korrupt. Er verwendet als Bild dafür mehrmals die Alexanderplatz-Kundgebung vom 4. November 1989, bei der er bezeichnenderweise einen fremden Text vortrug - da erschien ihm die Menge wie ein Tier mit Wellen und Atembewegungen. Moralisch sind für ihn nur die Sätze, die er ästhetisch vor diesem Tier verantworten kann. Und das sind inmitten einer verbrauchten Sprache, einer moralisierten Welt oft Sätze, die alles andere als moralisch klingen. Zum Beispiel: "Was spricht eigentlich gegen Auschwitz, wenn es machbar ist?" Gemeint ist, daß alles, was denkbar ist, auch machbar ist. Und alles, was machbar ist, wird gemacht. Kann man diesem Mechanismus entkommen? "Das mußt du jetzt in einen Satz kleiden", souffliert ihm Kluge, "der unverdaulich ist. Denn sonst ist es ein Verrat." "Ja, ja, ja", sagt Müller.

Die beiden spielen mit dem, was alles menschenmöglich ist, versuchen es von aktuellen kulturellen Konventionen zu befreien. Dabei kommen ihnen antike Anschauungen zu Hilfe; in den Brüchen und Rissen zum gegenwärtigen Bewußtsein blühen die Keime, überhaupt noch etwas zu sagen, etwas, was nicht glatt, nicht verdaulich ist.

So versammelt das Buch jede Menge Anstößigkeiten, die, wenn sie nicht in ihrem ästhetischen Kontext gesehen werden, jedem, der will, genügend Stoff zur Aufregung liefern können. Nur kein Mitleid, Kunst sei grundsätzlich nicht "human" im sentimentalen, kompromißlerischen Sinne, sagen sich die beiden immer wieder. Man müsse Chaos schaffen, alle ohnehin bloß illusionären Ordnungsvorstellungen zerstören. "Pflugschar des Bösen" nannte der immer wieder zitierte Nietzsche das Amt des Intellektuellen. Doch das Buch bleibt bei der Absicht. "Human" ist es tatsächlich nicht, aber es ist auch keine Kunst, die etwas eigenes dagegensetzt. Es ist ein Buch voller Ahnungen über Kunst. Es kann weder die Werke ersetzen, die daraus vielleicht entstehen, noch das Fernsehen, aus dem es entstanden ist. MARK SIEMONS

Alexander Kluge/Heiner Müller: "Ich schulde der Welt einen Toten". Gespräche. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995.

111 S., geb., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr