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Ein schonungsloser und satirischer Blick auf den amerikanischen Campus von Bestsellerautor Tom Wolfe. Die junge Studentin Charlotte lernt schnell, dass es auf der Dupont University nicht nur um akademische Leistungen geht...

Produktbeschreibung
Ein schonungsloser und satirischer Blick auf den amerikanischen Campus von Bestsellerautor Tom Wolfe. Die junge Studentin Charlotte lernt schnell, dass es auf der Dupont University nicht nur um akademische Leistungen geht...
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2005

Die Wichtigkeit, Tom Wolfe zu sein
Amerikas berühmtester Reporter behauptet: "Ich bin Charlotte Simmons". Da hat er sich aber geirrt

Ich, um Tom Wolfes liebste Person und zugleich sein größtes Problem schon mal beim Namen zu nennen, ich ist natürlich ein anderer. Ich ist nicht Charlotte Simmons, das unschuldige Mädchen aus den Bergen, das hinuntersteigt in die Niederungen Amerikas und in einem Sumpf aus Sex, Alkohol und Korruption zu versinken droht. Ich ist ein älterer Herr aus New York, der sein empfindsames Herz unter sehr hellen Jacken und Westen verbirgt, und von seiner Wohnung im vierzehnten Stock schaut er hinunter auf die Straßen. Was er da sieht, mißfällt ihm sehr. In "Hooking Up", einem Essay aus dem Jahr 200o, hat dieses Ich seine Mißbilligung der herrschenden Verhältnisse, unter besonderer Berücksichtigung der beiden Menschheitsgeißeln Sex und Dekonstruktion, auf zwölf Seiten zu Protokoll gegeben. Das war zuwenig Platz für zuviel Verdruß. Sein neues Buch hat 794 Seiten. Und das gleiche Thema.

"Ich bin Charlotte Simmons" heißt das Werk, und auf den meisten seiner vielen Seiten ist es das pure Unglücksbuch. Denn Charlotte Simmons, die mit einem reinen Herzen, einem Stipendium, wenig Geld und dem Willen, trotzdem das Beste daraus zu machen, an ein Elite-College gekommen ist, wird dort erst übersehen und verhöhnt, dann versucht und verführt und so heftig mit allen Lastern des beginnenden 21. Jahrhunderts konfrontiert, daß ihr Widerstand fast bricht. Das ist schlimm genug. Aber die schlimmste Pein, die dieser Charlotte Simmons widerfährt, ist die, daß der Geist eines alten Mannes in ihren Kopf und in ihr Denken schleicht, ihr den freien Willen raubt und ihre Gefühle verwirrt. Dann denkt ihr Kopf solche Sätze wie diese hier: "Sie simulierten - Geschlechtsverkehr! In aller Öffentlichkeit! Reginas schmutziger Ausdruck fiel ihr ein: Trockenrammeln." Dabei geht es in dieser Szene doch bloß ums Tanzen auf einer Studentenparty.

Es gibt Passagen in diesem Buch, da wünscht man der Heldin einen Exorzisten. Und es gibt Seiten, da möchte man Charlotte Simmons raten, einen guten Rechtsanwalt einzuschalten, welcher den Autor wegen Mißbrauchs abhängiger Personen auf Schadenersatz verklagt. "Ich bin Charlotte Simmons", das ist der Satz, den Charlotte Simmons zu sich selber sagt, wenn sie sich gegen die Zumutungen ihrer Kommilitonen behaupten muß. "Ich bin Charlotte Simmons", sagt Tom Wolfe aber auch im Titel, und bei ihm ist das als Machtwort gemeint. Er hat weder seine weibliche Seite entdeckt, noch kümmert ihn die Brüchigkeit des Subjekts. "Ich bin Charlotte Simmons", das sagt Tom Wolfe, weil für ihn der Unterschied zwischen dem Journalisten und dem Schriftsteller darin besteht, daß der Schriftsteller seinen Figuren nicht nur hineinschauen darf in deren Köpfe. Er darf auch hineinfahren und das Kommando übernehmen, und genau das tut hier Tom Wolfe. Er fährt da hinein, wie der Dämon in die arme Seele, er setzt sich an die Schaltstellen des Willens und Bewußtseins, und dann spielt er so lange mit allen Knöpfen herum, bis seine Helden nur noch seinem Willen gehorchen, und was dann geschieht, hält Tom Wolfe für Literatur. Was nicht bloß ein übles Mißverständnis ist, sondern eine äußerst schlechte Nachricht für seine Leser und Bewunderer.

Denn Tom Wolfe ist ja sehr zu Recht ein weltberühmter Mann, und für viele, für Schreiber wie für Leser, ist Tom Wolfe fast schon ein Held. Denn Tom Wolfe hat, als er anfing, das journalistische Schreiben entfesselt und befreit, er hat auf die Simulation von Objektivität nicht den geringsten Wert gelegt, und mit der englischen Sprache ist er verfahren wie die Testflieger aus seinem grandiosen Reportageroman "The Right Stuff" mit ihren Düsenflugzeugen. Er hat alles herausgeholt, und manchmal ist er auch abgestürzt, wenn er seine Punkte wie Kugeln und die Gedankenstriche wie Pfeile in seine Texte schoß und aus Großbuchstaben ganze Wortgebirge zu türmen versuchte.

Wer Wolfe deshalb für einen Avantgardisten hielt, einen Progressiven im europäischen Sinn, der hätte es schon damals, 1975, besser wissen können, als sein Essay "The Painted Word" erschien, und noch klarer wurde, wo er stand, im Jahr 1981, als "From Bauhaus to Our House" herauskam. Er stand allein, gegen den gesamten, europäisch geprägten Kunst- und Kulturbetrieb, er war ein bißchen paranoid, weil er überall die Verschwörung der selbsternannten Fachleute zur Durchsetzung ästhetischer Urteile witterte, er wurde von einem geradezu nietzscheanischen Ressentiment dazu getrieben, erst die Welt der bildenden Künste, dann die der Architektur herauszufordern, und auch wenn er den Konzepten der Moderne nicht viel mehr entgegenzusetzen hatte als die Forderung nach Verständlichkeit und Anpassung an den Geschmack der Masse, war er doch allein schon deshalb im Recht, weil der Kulturbetrieb sich nicht gern nach der Legitimität seiner Urteile befragen läßt. Tom Wolfe gegen die Moderne, das war Lessing, leicht abgewandelt: Niemand leugnet, daß Mies van der Rohe ein großer Architekt ist. Dieser Niemand bin ich.

Daß Wolfe nach Höherem strebte, zeigte sich 1979, als er "The Right Stuff" (deutscher Titel: "Die Helden der Nation"), seinen hyperrealistischen Bericht über das amerikanische Raumfahrtprogramm, einen "Reportage-Roman" nannte, obwohl darin nichts erfunden war. "The Bonfire of the Vanities" hieß dann schon wie sein Vorbild, Thackerays "Vanity Fair", "ein Roman ohne Helden" - und wenn man "Das Fegefeuer der Eitelkeiten" heute wiederliest, sieht es so aus, als wäre "der Roman" damals für Wolfe nur eine Methode gewesen, das viele recherchierte Material zu sortieren.

Man hört die Mechanik des Erzählens ächzen und scheppern, aber atemberaubend ist Wolfes Lust an den Oberflächen, seine Genauigkeit bei der Erforschung aller materiellen Bedingungen; man faßt es kaum, wie gut es Wolfe gelingt, in den Dingen die Motive ihrer Besitzer zu spiegeln, die Gier nach Macht und Status und die unbezwingbare Angst, das alles ganz schnell wieder zu verlieren. Die Psychologie wird zum Verständnis dieser Gefühle eigentlich nicht gebraucht, und die Moral Tom Wolfes zeigt sich darin, daß er sich weigert, abschließende Urteile über seine Personen zu fällen.

Es war wohl der ungeheure Erfolg dieses Buchs, welcher Tom Wolfe dazu brachte, sich zum legitimen Nachfolger von Balzac und Zola zu erklären, zum letzten Realisten, dem einzigen unter Amerikas Großschriftstellern, der Kraft genug habe, die ganze Gesellschaft als sein Material zu nehmen und zu formen. Wie weit das Balzac-Syndrom schon fortgeschritten ist, merkt man, nur zum Beispiel, daran, daß jetzt auch bei Wolfe, wie einst in der "Menschlichen Komödie", das Werk zu einer Art Parallelgesellschaft wird und die immergleichen Personen die verschiedenen Romane bevölkern: Pierce & Pierce, so hieß im "Fegefeuer" die Wall-Street-Firma, für welche die Hauptfigur Sherman McCoy arbeitete. Pierce & Pierce, so heißt in "Charlotte Simmons" die Wall-Street-Firma, die einem besonders verdorbenen Jungen ein Angebot macht. Und daß es trotzdem nichts wird mit der Einheit des Werks, liegt an Bret Easton Ellis, der, in dem Roman "American Psycho", seinen unvergessenen Serienmörder Patrick Bateman ebenfalls für Pierce & Pierce arbeiten ließ und dabei en passant klarstellte, was die grausame Bedeutung dieses Namens ist. "To pierce" heißt durchbohren, durchstechen.

Auch für den neuen Roman hat Tom Wolfe recherchiert, jahrelang, hat sich umgesehen und umgehört auf dem Campus und hat, wie er in Interviews erzählt, sogar Parties besucht, auf denen Hip-Hop lief und viel Bier getrunken wurde und die Hormone Freigang hatten - und wenn man sich das vorzustellen versucht, der kleine, eher zart gebaute Wolfe, ein Mann von über siebzig Jahren, umgeben von zwanzigjährigen Testosteronpaketen, und der DJ legt Dr. Dre auf und dreht die Lautstärke auf 120 Dezibel; und womöglich kippt ihm dann so ein betrunkener Spack auch noch ein Bier über die Manschette: Dann kann man schon verstehen, daß Wolfe glaubte, hier dem Abendland beim Untergehen zuzusehen. Und dabei ganz vergaß, daß er in den sechziger Jahren selber eine Prosa schrieb, die nach Musik, Motoren und manchmal nach dem Geschrei von Irrsinnigen klingen wollte. Aber niemals nach Zimmerlautstärke.

Das Problem, wenn Tom Wolfe sein Grauen protokolliert, besteht nicht darin, daß es ihn graust, sondern darin, daß er nicht Charlotte Simmons ist. Denn das Mädchen, das unschuldig und unverbildet aus den Bergen kommt und am College ein leidenschaftliches Ressentiment entwickelt gegen die Verdorbenheit und Korruptheit und den dekadenten Geschmack der Menschen um sie herum: Das wäre ja ein Konflikt mit großem Potential, das könnte (um ein wenig auszuholen) am Ende so spannend werden wie Rousseau in Paris, Heidegger in Davos, Charles Bukowski auf der Intellektuellenparty in Pacific Palisades.

Denn Charlotte Simmons, wenn man sie nur ließe, könnte sich ein Jenseits der Wahrheit und Herzensreinheit zumindest vorstellen, aber wer in ihre Gedanken fährt, ist eben Tom Wolfe, der Mann von der Upper East Side, die absolute Instanz in allen Fragen des Stils und des Status, der Mann, der einem anderen Mann nur auf die Schuhe zu schauen braucht, um dessen sozialen Ort zu kennen. Und insofern ist seine ganze Empörung bloß die einer alten, strengen Tante, die nicht etwa nach Umkehr, Umsturz und Revolte ruft. Sondern bloß nach Mäßigung: Ach, wenn diese Studenten doch ein bißchen mehr lernen und weniger trinken würden, wenn sie doch noch Brooks-Brothers-Hemden und Tweedsakkos trügen, und wenn sie, da sie schon auf Sex vor der Ehe nicht verzichten können, es wenigstens im Dunkeln trieben und mit möglichst selten wechselnden Partnern!

Du bist nicht Charlotte Simmons, möchte man ihm also zurufen - und vermutlich, weil hier sehr häufig von der "Madame Bovary" die Rede ist, würde Tom Wolfe dann auf Gustave Flaubert verweisen, der einst, auf die Frage, weshalb er sich so gut auskenne im Kopf seiner Heldin, geantwortet hat: "Madame Bovary . . . c'est moi." Was natürlich ein doppeltes Mißverständnis ist, weil, erstens, dieser Satz nicht auf dem Buchdeckel steht. Und weil er zweitens so ähnlich gemeint ist wie Umberto Ecos Antwort auf die Frage, mit wem er sich denn identifiziert habe, als er den "Namen der Rose" schrieb. "Mit den Adjektiven natürlich", hat Eco gesagt, und wenn Wolfe ehrlich wäre mit sich selber, müßte er eine ähnliche Antwort geben: wimmernd, kreischend, taumelnd, säuerlich, gottlos, panisch, ausdruckslos - das ist, wenn Wolfe heute eine Party beschreibt, der Adjektivausstoß von nur einer halben Seite. Und das ist die schlechte Nachricht dieses Romans (der nach etwa 300 Seiten doch noch einigermaßen spannend wird): Tom Wolfe, der einmal der größte unter den Reportern war, ein Mann von unstillbarer Neugier, dieser Tom Wolfe hat keine Neugier mehr. Er hat bloß noch Meinungen. Und von den meisten Dingen hat er eine schlechte Meinung, was die Lektüre nicht erfreulicher macht.

Sein Titel aber, "Ich bin Charlotte Simmons", wird im Museum der widerlegten Sätze einen Ehrenplatz bekommen, gleich neben "Wir sind Papst" und "Du bist Deutschland".

CLAUDIUS SEIDL

Tom Wolfe: "Ich bin Charlotte Simmons". Roman. Aus dem Englischen von Walter Ahlers. Blessing-Verlag. 794 Seiten, 24,90 Euro.

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