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Dimitri S. Lichatschow ist einer der wenigen Überlebenden des dem Gulag vergleichbaren Arbeitslagers auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer. Als Gewissen und gleichsam "genius loci" Leningrads gehört er neben Alexander Solschenizyn und Dancik S. Baldajew zu den großen Zeitzeugen der jüngeren Geschichte Rußlands. In seinen Erinnerungen führt er deren Schrecknisse in aller Klarheit vor Augen: die Unterdrückung einer reichen Kultur zu Beginn der 20er Jahre, das Leben in der Verbannung, der großemTerror der jahre 1936/37, die Blockade leningrads 1941/42, die Schauprozesse bis gegen die 80er Jahre…mehr

Produktbeschreibung
Dimitri S. Lichatschow ist einer der wenigen Überlebenden des dem Gulag vergleichbaren Arbeitslagers auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer. Als Gewissen und gleichsam "genius loci" Leningrads gehört er neben Alexander Solschenizyn und Dancik S. Baldajew zu den großen Zeitzeugen der jüngeren Geschichte Rußlands. In seinen Erinnerungen führt er deren Schrecknisse in aller Klarheit vor Augen: die Unterdrückung einer reichen Kultur zu Beginn der 20er Jahre, das Leben in der Verbannung, der großemTerror der jahre 1936/37, die Blockade leningrads 1941/42, die Schauprozesse bis gegen die 80er Jahre und die letzten, um so aggressiveren Zuckungen der Reaktion gegen die Reformen in der Ära Gorbatschow. Aber es werden in diesem Buch auch die Gegenwelten lebendig, in prägnanten Schilderungen des geistigen Lebens inmitten der Diktatur und in Porträts jener Zirkel und bedeutenden Persönlichkeiten, die die Garanten seines Fortlebens waren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.1997

In der Hölle Freiheit finden
Die Lebenserinnerungen des Petersburgers Dmitri Lichatschow

Dmitri S. Lichatschow: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika. Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Wiedling, herausgegeben von Igor P. Smirnov. edition tertium, Ostfildern 1997. 396 Seiten, 30 Abbildungen, 48,- Mark.

Wer fast das gesamte zwanzigste Jahrhundert in Petersburg beziehungsweise Leningrad zugebracht hat, dem kann die durchlebte Zeit im Rückblick wie eine Perlenschnur menschlicher Tragödien erscheinen. Dmitri Lichatschow, der große alte Mann des russischen Geisteslebens, hat ein erfülltes Forscherdasein hinter sich, spielte dank seiner moralischen Autorität bei Gorbatschows Reformpolitik eine wichtige Rolle und steht auch zu Jelzin bis heute in regelmäßigem Kontakt. Doch seine Lebenserinnerungen sparen diese Dinge aus. Der Autor hat das Straflager, den Terror der dreißiger Jahre und die Leningrader Blockade durchgemacht, und die Wucht dieser Eindrücke schiebt alles andere mit grausamer Selbstverständlichkeit beiseite.

Dabei hatte das Jahrhundert vielversprechend begonnen. Wie viele seiner Generation beflügelte Lichatschow die geistige Aufbruchsstimmung der zwanziger Jahre, die er mit einem Karneval vergleicht. Allerdings mußten der Student Lichatschow und etliche seiner Gesinnungsgenossen ihren Hang zum freimütigen Austausch und zur unvoreingenommenen "fröhlichen Wissenschaft" mit einer Haftstrafe in dem früheren Kloster auf den Solowetzki-Inseln im Weißen Meer bezahlen. Der Gelehrte schildert die rauschgiftsüchtigen, von Läusen zerfressenen Waisenkinder dort, den absichtlich im Altarraum der Klosterkirche untergebrachten Abort, die willkürlichen Erschießungen. Und dennoch ermöglichten damals das Kriminologische Institut, ein Museum und Theater, vor allem aber die Beschränktheit der Aufseher vielen Häftlingen willkommene geistige Betätigung und Austausch. Die wirkliche geistige Verarmung setzte daher eigentlich erst nach der Entlassung ein, als sich viele Ex-Häftlinge in isolierten Verbannungsorten ansiedeln mußten und physisch wie psychisch gebrochen waren.

Das Gefängnis lehrte Lichatschow, was Freiheit ist. Sich selbst und seine Schicksalsgenossen, die beträchtliche Energien für die Behauptung eigener Gedanken aufwandten und damit bereits von den äußeren Umständen abhängig waren, bezeichnet er als die Dissidenten der zwanziger Jahre. Echte Freiheit trat ihm indessen in Gestalt eines Philosophen entgegen, der gegenüber seiner Umwelt größte Gelassenheit an den Tag legte, weil er ganz in seine innere Welt abgetaucht und damit unbesiegbar war.

In den dreißiger Jahren hatte die allgemeine Angst das öffentliche Leben gefrieren lassen. Lichatschow, der damals aus der Haft entlassen wurde, erzählt von bäuerlichen Flüchtlingen, Opfern der Kollektivierung, die in Leningrad ihre letzte Habe verkauften und im Winter in Toreinfahrten übernachteten. Aus den Häusern und Betrieben verschwanden die Opfer des großen Terrors und der Säuberungen. Doch in der Hoffnung, von der Vernichtungsmaschinerie nicht wahrgenommen zu werden, taten die Menschen angestrengt so, als bemerkten sie nichts.

Die erschütterndsten Passagen des Buches sind der Hungersnot während der Leningrader Blockade gewidmet. Zu dieser Zeit hat der Autor Frau und Kinder, doch die Fülle schicksalhafter Ereignisse verdrängt privat Bedeutsames. Vor dem Leser entrollt sich eine Chronologie des Sterbens. Die ersten Opfer sind Flüchtlinge aus zerstörten Randgebieten, die keine Lebensmittelmarken erhielten, gefolgt von den aus ihren Betrieben Entlassenen, die ebenfalls ihre Marken verloren. Von den Wissenschaftlern starben vor allem die praxisfernen Forscher wie Mathematiker oder Ethnographen, während sich viele Zoologen durch die Jagd nach ebenfalls hungernden Tieren das Leben retteten. Suggestiv schildert Lichatschow die Physiologie des Hungertodes, die dunklen Gesichter der Sterbenden mit ihren entblößten Zähnen, das fortschreitende Versagen der Muskulatur, beginnend mit der Feinmotorik, wie er es an sich selbst beobachtete. Man erfährt von Menschen, die Sterbenden ihre Kleider, Schmuck oder Lebensmittelmarken stahlen, von Kannibalismus, aber auch von solchen, die ihre letzten Tage damit zubrachten, Bilder zu malen oder Aufzeichnungen für die Nachwelt zu führen. Der Hunger ist eine eigene Realität, so lautet Lichatschows Fazit: der Hunger offenbare radikal das Heldenhafte oder das Bestialische im Menschen.

Zum sowjetischen Terror in der geistigen Sphäre, der bis in die "liberalen" sechziger Jahre betrieben wurde, gehörten die öffentlichen ideologischen Züchtigungen unabhängiger Köpfe in wissenschaftlichen Anstalten, wie sie auch Lichatschow mehrfach über sich ergehen lassen mußte. Sein Markenzeichen war die vornehme Distanziertheit, was in manchen Situationen fast herausfordender wirken konnte als offener Widerstand - vor allem auf die Sicherheitsorgane.

Als sich der Wissenschaftler 1975 weigerte, den Schmähbrief gegen Andrej Sacharow zu unterzeichnen, wurde der schon damals betagte Gelehrte in seinem Treppenhaus überfallen und verprügelt. Auch die versuchte Brandstiftung in Lichatschows Wohnung ein Jahr später gehörte zu den damals üblichen Einschüchterungsmaßnahmen der Geheimdienste. Zur Zeit der Machtübernahme durch Gorbatschow hatten sich diese Maßnahmen abermals "verfeinert".

Gorbatschow, der Lichatschow während seiner Palastrevolution zu Hilfe gerufen hatte, lud den Gelehrten zu einem Treffen mit Parteifunktionären in Leningrad ein und ging nach Abschluß seiner Rede, wider die ungeschriebenen Regeln, zu ihm, um ihn persönlich zu begrüßen. Am nächsten Tag erhielt der alte Mann eine Vorladung ins für ihn zuständige Krankenhaus, wo ein Psychiater den Menschen untersuchen wollte, der die städtische Parteiversammlung gestört habe. Von dieser Lappalie erfahren wir allerdings nicht durch den Autor selbst, sondern durch das Vorwort des aus Leningrad stammenden, heute in Deutschland lebenden Literaturtheoretikers Igor Smirnow, der sich als Lichatschows Schüler versteht. (Siehe auch Feuilleton.) KERSTIN HOLM

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