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"Er ist ein Eckensteher, ein Streuner, ein Flaneur. Mit seinem Hund - nein: an der Leine seines Hundes stromert er durch die Straßen und über die Boulevards von Paris und redet stumm vor sich hin oder zu seinem Hund hinunter, erzählt, fragt, beobachtet, beichtet. Er, der keine Geschichte, keine Vita und keinen »ordentlichen Lebenslauf« haben will, weil er glaubt, daß uns alle Lebens-Festlegungen letztlich Kopf und Kragen und Leben kosten, erzählt um so eindringlicher von Gott und der Welt und also von sich. Wer lebt wie Paul Nizons Streuner, den treibt etwas um, und es ist Nizons Erzählkunst,…mehr

Produktbeschreibung
"Er ist ein Eckensteher, ein Streuner, ein Flaneur. Mit seinem Hund - nein: an der Leine seines Hundes stromert er durch die Straßen und über die Boulevards von Paris und redet stumm vor sich hin oder zu seinem Hund hinunter, erzählt, fragt, beobachtet, beichtet. Er, der keine Geschichte, keine Vita und keinen »ordentlichen Lebenslauf« haben will, weil er glaubt, daß uns alle Lebens-Festlegungen letztlich Kopf und Kragen und Leben kosten, erzählt um so eindringlicher von Gott und der Welt und also von sich. Wer lebt wie Paul Nizons Streuner, den treibt etwas um, und es ist Nizons Erzählkunst, die daraus etwas Bewegendes, fast Wünschenswertes macht: die Geschichte von einem, der sich - anarchischer Hund! - die Ungeheuerlichkeit herausnimmt zu sagen: Keine Sinnfragen bitte, das führt zu nichts; der Weg ist das Ziel!"
Autorenporträt
Nizon, PaulPaul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1998

Tapetenwechsel für Streuner
Paul Nizon nimmt seine Geschichte an die lange Leine

Schon lange schnüffeln, tapsen und wedeln sie durch Paul Nizons Aufzeichnungen und Romane: große und kleine Hunde, zuverlässige Begleiter, in ihrer Zuneigung oft beständiger als ein Mensch. Das erlebt auch der Erzähler von Nizons jüngstem Buch, dessen Titel schlicht "Hund" lautet: "Immer ist dieser Hund da in meinen Gedanken, immer war dieser Hund da in meiner Wohnung." Eine richtige Wohnung hat er schon lange nicht mehr, dieser Pariser Streuner und Eckensteher, der ziellos durch sein Stadtviertel streift. Sein Leben lang ist er davongelaufen: der Arbeit, den Frauen, und schließlich hat er sogar den Hund zurückgelassen.

Das Untertauchen und das Weglaufen sind zentrale Themen des nun fast siebzigjährigen Paul Nizon. Seit seinem ersten Roman "Canto" (1963) beschreibt, nein: besingt er die Großstädte Rom, London und vor allem Paris, in dessen Straßen und Bordellen er das wahre Leben zu finden hofft. In der "Beichte am Mittag" meldet sich wieder einmal einer zu Wort, der dem bürgerlichen Alltag abhanden gekommen ist. In einem langen Monolog legt er, der Pariser Vagabund, Rechenschaft von seinem Leben ab, erinnert sich an große und kleine Fluchten, beschwört das Erlebnis einer einzigartigen Liebe und kehrt in Gedanken immer wieder zu seinem Hund zurück. Zwar bezeichnet Nizon sein Buch als "Beichte", doch es bleibt ein Selbstgespräch ohne metaphysischen Trost. Niemand wird diesen Rastlosen von seiner Unruhe befreien.

Täglich beobachtet der Flaneur die Passanten in den Pariser Straßen. Mit anderen spricht er kaum, in der Zeitung liest er von Menschen, die aus der Normalität gefallen sind: Deportierte, Mörder und Selbstmörder, Ausbrecher und jugendliche Straftäter - Spiegel seiner eigenen Verweigerung. Aber der Freiheit des Aussteigers sind Grenzen gesetzt: Mehr und mehr beschäftigt ihn ein Mann mit auffälliger Löwenmähne, der regelmäßig seinen Weg kreuzt und ihn zu verfolgen scheint.

Ein Schriftsteller, wie der Streuner mit Schrecken erfährt: Sollte er, der sich aus allem heraushalten will, ein Romanstoff geworden sein? Sollte er gar wie ein Hund an der Leine der Einbildungskraft eines anderen geführt werden? Den Grund für sein Unbehagen kennt er genau, denn "Geschichten sind Anschläge auf das Leben". Spätestens hier wird deutlich, daß Paul Nizon in beiden Gestalten, dem bindungsscheuen Herumtreiber und dem löwenmähnigen Schriftsteller, zwei Porträts seiner selbst zeichnet. Wieder einmal wird er zum "Autobiographie-Fiktionär", wie er sich vor Jahren genannt hat.

Was am Anfang des Buches als ziellose Plauderei erscheint, entpuppt sich an seinem Ende als allegorische Gestaltung eines Lebensproblems: Plakativ stehen zwei Existenzweisen einander gegenüber, die Nizon zu verbinden sucht: die Jagd nach dem "wahren Leben", indem man aus der Seßhaftigkeit ausbricht, und das fast zwanghafte Schreiben, der Drang, dem eigenen Erleben Sprache und Form zu geben. Diesmal geht die Konfrontation von Schriftsteller und Flaneur glimpflich aus. Ist das die versöhnliche Vision eines in die Jahre gekommenen Künstlers?

Die glatte Konstruktion hat ihren Preis, denn Nizon fällt es in dieser "Beichte" schwer, jene suggestive Sprache zu finden, mit der er seine Leser oft in seinen Bann zog. Hier stößt man viel zu häufig auf ein albernes Zeugma - "Wir ließen einander freien Lauf und in Frieden" - oder stolpert über gespreizte und schwerfällige Wendungen. Wiederholt fällt Nizon aus dem Erzählen ins Dozieren, schreibt von einer "diesbezüglichen Abstinenz" oder stellt fest, daß sein Hund sich "von Augenblick zu Augenblick konstituiert". Mit solchen Sätzen entfernt er sich weit von der rauschhaften Geschmeidigkeit des Sprechens, die in diesem Buch gelegentlich durchklingt, etwa in der Beschreibung der großen "Liebeserschütterung".

Doch können die gelungenen Partien nicht die Brüche in der Erzählung überdecken. Dazu gehören die verstreuten scharfen Kommentare über die Fremden in Paris und die "Gangs aus den Vorstädten, diese neue Intifada". Solche pauschalen Urteile überraschen in ihrer Heftigkeit und vertragen sich schwer mit der distanzierten Gelassenheit, die Nizons Beobachter sonst an den Tag legt. Als Zeitkritiker vermag er kaum zu überzeugen.

Am Ende des Buches steht ein Aufbruch ins Ungewisse. Einen Tapetenwechsel habe er nötig, verkündet der Erzähler und ruft seinen imaginären Hund herbei. Paul Nizons Leser dürfen neugierig sein, wohin es diesen schreibenden Flaneur in seinem nächsten Buch treiben wird. SABINE DOERING

Paul Nizon: "Hund. Beichte am Mittag". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 148 S., geb., 36,- DM.

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