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Zwanzig Texte, faszinierende Variationen, die sich wie Sketche lesen, über den Wortgebrauch, über die Suche nach dem treffenden Wort, über die kaum wahrnehmbaren Schwingungen der Sprache. Dieses Buch zeigt Nathalie Sarraute in ihrer ganzen Meisterschaft.

Produktbeschreibung
Zwanzig Texte, faszinierende Variationen, die sich wie Sketche lesen, über den Wortgebrauch, über die Suche nach dem treffenden Wort, über die kaum wahrnehmbaren Schwingungen der Sprache. Dieses Buch zeigt Nathalie Sarraute in ihrer ganzen Meisterschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Worthülsen schwirren und huschen vorüber
Mit dem ganzen Charme des Eigensinns: Nathalie Sarraute im Palast des "Hier" / Von Kristina Maidt-Zinke

Ihren Roman "Tu ne t'aimes pas" von 1989, der unter dem deutschen Titel "Du liebst dich nicht" vor fünf Jahren bei uns erschien, hielten manche Kritiker für das letzte Lebenszeichen einer längst aus dem Literaturbetrieb hinauskomplimentierten, museumsreifen Avantgarde. Aber Nathalie Sarraute, je nach Quelle so alt wie das Säkulum oder Jahrgang 1902, schrieb weiter. Wenn ihr neues Buch "Hier" heißt, dann klingt das zumindest auf deutsch auch wie eine Anwesenheitsmeldung, und das "Jetzt", das im französischen "Ici" mitschwingt, weist jede Erwartung memoirenhafter Retrospektive zurück: Madame lebt und arbeitet ganz in der Gegenwart.

Zwanzig abgeschlossene, doch motivisch aufeinander bezogene Prosastücke enthält der schmale Band. Im vierzehnten findet man einen Satz, der sich als ebenso selbstironische wie selbstgewisse Anspielung der Autorin auf ihr Werk und seine Rezipienten lesen läßt: "Es ist tatsächlich dasselbe Hier, dieses Monument, dieser riesige Palast, es ist tatsächlich derselbe Name, der Name, den Hier nach außen hin trägt, der auf seinem Giebel steht . . . alle, die vor seiner imposanten Fassade stehen, vor seinen hohen, geschlossenen Türen, wissen, daß sie nie die Genehmigung erhalten werden, ihn zu besichtigen, sie wissen, daß es eine Gunst ist, eine Belohnung, die nur wenigen Auserwählten zuteil wird, ein paar seltenen Eingeweihten, die bewiesen haben, daß sie die Schätze, die es birgt, zu würdigen wissen . . ."

Eindrucksvoll, aber den wenigsten zugänglich - so stellen sich heute die Errungenschaften jener literarischen Bewegung dar, die in den fünfziger Jahren in Frankreich angetreten war, um mit jahrhundertealten Erzählkonventionen endgültig zu brechen und den realistischen Roman als abgewirtschaftete Illusionsmaschine zu entlarven. Nathalie Sarraute, die nie zum Zirkel des Nouveau Roman gehören wollte, mußte sich gleichwohl gefallen lassen, als dessen einziges weibliches Mitglied, ja dessen Pionierin katalogisiert zu werden. Man wird die gebürtige Russin Sarraute als diejenige in Erinnerung behalten, die den damals eingeschlagenen Weg bis zum Ende des Jahrhunderts mit äußerster Hartnäckigkeit verfolgte. Und man wird an ihren Büchern den Widerspruch zwischen einem revolutionären Programm und einer dahinter zurückbleibenden Praxis beispielhaft nachvollziehen können: das Scheitern des Versuchs, die moderne Literatur inhaltlich und formal auf den zeitgemäßen Stand zu bringen, den Musik und bildende Kunst mit ihren jeweiligen Ausdrucksmitteln immerhin erreicht und behauptet haben. In "Hier" scheitert die betagte Anti-Autorin noch einmal mit dem ganzen Charme ihres Eigensinns.

Von neuem beackert sie das Feld, das sie in ihren 1939 erstmals veröffentlichten Prosaskizzen "Tropismes" für sich entdeckt und seither mit nahezu kriminalistischer Akribie erforscht hat: die Schattenzone unterhalb des menschlichen Wachbewußtseins, in der sie eine unablässige Aktivität subtilster Regungen, Stimmungen, Spannungen und Reflexe ansiedelt, analog zu den vegetativen Tropismen, den durch äußere Reize ausgelösten Orientierungsbewegungen der Pflanzen. Dieser Bereich jenseits der Sprache ist in Nathalie Sarrautes Konzeption nicht etwa das Flußbett des inneren Monologs, sondern die abgedunkelte Bühne eines ununterbrochenen "Prä-Dialogs", weil die mikroskopisch feinen Vorgänge, die sich hier vollziehen, stets Reaktionen auf widerstreitende Wahrnehmungen und Empfindungen sind, auf Einflüsse also, die von außen in den menschlichen Innenraum eindringen.

Die vorsprachliche Realität, solcherart von magnetischen Energien der Anziehung und Abstoßung beherrscht, ist bezogen auf die soziale Wirklichkeit und spiegelt deren Mechanismen. Deshalb treten bei dem paradoxen Unterfangen, jener Tiefenregion zur Artikulation zu verhelfen, die Unterströmungen und Vorstufen des allgemeinen Geschwätzes zutage: Leerformeln, Gemeinplätze, Worthülsen, Bruchstücke einer endlosen Pseudokommunikation flattern, schwirren, huschen dort vorüber, in einem schwerelosen, amorphen Zustand vor ihrer Verfestigung. Dies ist das Material, mit dem Nathalie Sarraute seit Jahrzehnten experimentiert. Daß ein Blick auf ihre Theorie für das Verständnis der Texte unentbehrlich scheint, läßt die Grenzen ihres Verfahrens erahnen.

Würde man die kreiselnden Konversationen, die in "Hier" versammelt sind, wirklich als Aufzeichnung von "kaum wahrnehmbaren Schwingungen der Sprache" erkennen, wie es der Klappentext suggeriert, wenn einem Nathalie Sarrautes Idee der "sous-conversation", der dialogisch flimmernden Innenwelt des Menschen, nicht geläufig wäre? Auf jeden Fall hat die Grande Dame der Geschwätzphänomenologie hier ihre Methode bis zur letzten Konsequenz geführt: Das Buch tarnt sich nicht mehr als "Roman", die polyphon redenden Stimmen geben sich nicht mehr den Anschein von Figuren. Wörter werden umstandlos zu Gebäuden, Gebärden oder handelnden Subjekten, anonyme Personen treten wie Schemen aus dem changierenden Sprachnebel und lösen sich in ihm wieder auf. Fließende Perspektiv-und Stimmungswechsel verlangen auch dem Leser das detektivische Gespür ab, von dem sich die ausgebildete Juristin Sarraute bei ihrer Enthüllungsarbeit im Parlando leiten läßt.

Redensarten und Topoi, Höflichkeitsfragen, Platitüden und Salonfloskeln werden wie Kiesel in den Teich der Assoziationen geworfen, wo sie Kreise ziehen, Luftblasen emporsteigen lassen und Trübes am Grund aufwühlen. Oder es wird ein Wort gesucht, das einem auf der Zunge liegt, ein Name, der sich in der Erinnerung eingenistet hatte, dann unsichtbar wurde und ein Gedächtnisloch hinterließ. Das Schließen dieser Lücke ist ein spielerisches Suchen, Tasten und Probieren, bei dem Laute, Silben, Wortpartikel wie Puzzlesteine hin- und hergeschoben werden: "Philippine", das Vielliebchen, "Tamarix", der rosablühende Baum, "Arcimboldo", der Gemüsemaler. Alles deutet darauf hin, daß Wörter und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen im Stadium ihres Entstehens, an der Schwelle des Bewußtseins, ergriffen werden sollen. Aber jener Mikro-Prozeß läuft in einer solchen Geschwindigkeit ab, daß die Sprache mit ihrem fatalen Beharrungsvermögen ihm nicht folgen kann. Es ist diese Diskrepanz, die peinlich fühlbar wird, wenn das seismographierte Gerede anfängt, uns ein wenig auf die Nerven zu gehen.

Auch versucht Nathalie Sarraute, den Wörtern eine Materialität und Sinnlichkeit zu verleihen, die so etwas wie ihre archaisch-magische Essenz heraufbeschwört. Ein "Ja" kommt angerollt "wie ein dickes bunt bemaltes Ei", ein "Warum?" leuchtet als "irrlichternder schwacher Schein am Ausgang eines Labyrinths". Vor solcher Spracharbeit, die auf der Ebene des Klangs und des Schriftbildes argumentiert, müssen Übersetzer die Waffen strecken: "Oui" mag eiförmig sein, "ja" ist es mitnichten. Ein Sarraute-Text liegt bei Erika Tophoven gewiß in den besten Händen, aber auch sie kann für den im letzten Stück umspielten Satz von Pascal, "Le silence éternel de ces espaces infinis m'effraie", keine deutsche Version erfinden, welche "den Glanz, die geschmeidige Härte des Stahls" und die "strenge Eleganz" evoziert, die der Autorin dabei vorschweben: Zu weich und unscharf ist, phonetisch gesehen, das "ewige Schweigen der unendlichen Welträume".

Der Tod ist gegenwärtig in diesem Buch, die schreckenerregende Unendlichkeit, das alles verschlingende Nichts. Daneben gibt es etwas Unzerstörbares, einen namenlosen Ort absoluter Geborgenheit und Sicherheit, der immer wieder als lichte Vision hinter dem Wortgeklingel aufscheint. Bei ihrem Sisyphos-Bemühen, mit sprachlichen Mitteln an die Grenze des Sagbaren vorzustoßen, hat Nathalie Sarraute offensichtlich doch noch etwas gefunden, das die Sphäre der "sous-conversation" transzendiert. Am Ende aber sucht sie Zuflucht und Erlösung ausgerechnet bei Arcimboldo, dem Renaissancemaler, der die bunte Fülle des Lebens abbildete - in jener unbekümmerten Mimesis oder Simulation des Realen, der sie als Schriftstellerin der Moderne eine so entschiedene Absage erteilt hat.

Nathalie Sarraute: "Hier". Aus dem Französischen übersetzt von Erika Tophoven. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997. 176 S., geb., 38,- DM.

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