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Uwe Johnson wollte sich in dem Text, der sein letzter werden sollte, ein weiteres Mal der Welt der JAHRESTAGE widmen ' im Mittelpunkt des Buches, dem Johnson selbst den Arbeitstitel HEUTE NEUNZIG JAHR gab, steht Heinrich Cresspahl, Schreiner in Jerichow, Mecklenburg. Seine Tochter Gesine, die wir aus den JAHRESTAGEN kennen, betreibt eine "Spurensuche", die sich ganz um den Vater dreht; und diese Suche wird zu einem Blick auf zwei Jahrhunderte, zu einer Geschichte Mecklenburgs und Deutschlands von 1888 bis 1978. Das war der Plan. Johnson starb über der Arbeit. Das Fragment endet mit dem Sommer…mehr

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Produktbeschreibung
Uwe Johnson wollte sich in dem Text, der sein letzter werden sollte, ein weiteres Mal der Welt der JAHRESTAGE widmen ' im Mittelpunkt des Buches, dem Johnson selbst den Arbeitstitel HEUTE NEUNZIG JAHR gab, steht Heinrich Cresspahl, Schreiner in Jerichow, Mecklenburg. Seine Tochter Gesine, die wir aus den JAHRESTAGEN kennen, betreibt eine "Spurensuche", die sich ganz um den Vater dreht; und diese Suche wird zu einem Blick auf zwei Jahrhunderte, zu einer Geschichte Mecklenburgs und Deutschlands von 1888 bis 1978. Das war der Plan. Johnson starb über der Arbeit. Das Fragment endet mit dem Sommer 1946.
In einem faszinierend dichten, rhythmischen Stil mit seiner ganz eigenen Ironie erzählt Johnson Historie, die große und die kleine, durchwebt mit poetischen Einschüssen, die Cresspahl und seine Tochter noch einmal lebendig werden lassen '"mit zuverlässigem Heimweh nach Mecklenburg". Johnson dürfte dieses Heimweh geteilt haben, nach Mecklenburg, nach dem Wasser, nach der Ostsee. Das Buch zeigt zu dem Fragment HEUTE NEUNZIG JAHR deshalb Fotos des jungen Warschauer Fotografen Rafal Leszczynski, die zu diesem Heimweh passen könnten, Bilder von der Ostsee ' eine Studie über das Licht und das Wasser an der Küste Polens.
Autorenporträt
Uwe Johnson, geboren im Juli 1934 in Cammin, Pommern, heute Kamien Pomorski, Polen, gestorben im Februar 1984 in Sheerness-on-Sea, an der Themse-Mündung, einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Sein Hauptwerk: die vier Bände der JAHRESTAGE. Rafal Leszczynski, Jahrgang 1973, Fotograf und Filmemacher, lebt und arbeitet in Warschau und in Ustka an der Ostsee-Küste. Dort enstanden in den Jahren 1999 bis 2005 auch die hier gezeigten Fotos.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Jahrestage rückwärts
Uwe Johnsons tabellarisches Erzählen / Von Stephan Speicher

Für den Herbst 1984 - im Jahr zuvor war nach langem qualvollem Stocken der vierte und letzte Band der "Jahrestage" erschienen - kündigte der Suhrkamp Verlag ein neues Buch von Uwe Johnson an: "Eine Familiengeschichte vom Oktober 1888 bis zu jenem Winter 1978 . . . Anfangs ist es eine Spurensuche, die eine Gesine Cresspahl beschreibt nach der Kindheit ihres Vaters im vorigen Jahrhundert . . . Mit wem immer ein Junge aus dem Dreikaiserjahr zu tun bekommt in seinem Leben und über den Tod hinaus, sie alle sollen hier versammelt sein, in ländlicher Gegend an der Müritz, in einer südlichen Vorstadt von London wie dereinst in New York, mit dem zuverlässigen Heimweh nach Mecklenburg . . . Ob es am Ende bleibt bei der Enkelin Marie, den beiden letzten Augen Cresspahls, hier wäre es zu erfahren." Eine Fortsetzung der "Jahrestage" also wurde damals in Aussicht gestellt. Im Material erweitert, sollte sie in beide Zeitrichtungen erweitert werden.

Dazu kam es nicht mehr. Johnson, der Ende 1983 diesen Vorschautext selbst verfaßt hatte, starb im Februar 1984. Sein Vorhaben blieb Fragment, das Norbert Mecklenburg nun aus dem Nachlaß herausgegeben hat: "Heute Neunzig Jahr". Der geplante Untertitel "Die Geschichte der Familie Cresspahl" ist gestrichen, es fehlte ihm auch die Deckung durch das Werk. Denn die zeitliche Erweiterung des Stoffs ist allein rückwärts ausgeführt als eine Geschichte Heinrich Cresspahls von seiner Geburt an. Die Jahrestage hingegen gehen ja ausgiebig nur bis auf die erste Begegnung zwischen Cresspahl und Lisbeth zurück, und frühere Begebenheiten werden bloß splitterhaft erwähnt. Die Fortführung über den August 1968 hinaus hatte der Autor sich vergeblich vorgenommen. Sein Fragment endet im Jahr 1946, gerade daß Jacob, der spätere Geliebte Gesines und Vater ihrer Tochter, noch einen Auftritt hat.

Johnson selbst nannte sein Verfahren in diesem Nebenwerk "tabellarisch", irritierenderweise. Denn natürlich ist es kein Prinzip graphisch hergestellter Übersichtlichkeit. Man spricht wohl besser von einer annalistischen Methode. In chronologisch ziemlich strenger Folge wird ein Leben in seinen verschiedenen sozialen Milieus und historischen Bedingtheiten berichtet. Das Bedingende, das Allgemeine überwiegt, das Bedingte, Individuelle, Fiktive tritt dagegen zurück. Doch wird der Berichtscharakter in seiner möglichen Festigkeit durch Einreden der Erzählerin, der Tochter Gesine, fortwährend in Frage gestellt. Da sind Lücken, Mutmaßungen, Extrapolationen: "Da ich bei ihm meine Meinung über das Verhalten Liebknechts unterstellte, habe ich seine versäumt." Da sind Wünsche: "Daß er in Amsterdam bedrucktes Papier aus Abfallkörben gegriffen hätte wie die Armen New Yorks, ich verweigere es." Und vor allem ist da die beständige Kritik geläufiger Bilder, vor allem wie die Schulen der SBZ/DDR es lieferten. Auffallend stark wird etwa die Zusammenarbeit von NSDAP und KPD respektive des Hitlerschen Reiches mit der Sowjetunion betont.

Gleichwohl folgt "Heute Neunzig Jahr" einem einfachen Erzählprinzip. Einfach ist das Prinzip zumindest gegenüber den "Jahrestagen", auf die das neue Buch zu beziehen ist. Am markantesten ist das Fehlen der New Yorker Ebene und der Gespräche Gesines mit ihrer Tochter Marie, mit denen das große Werk die Erinnerung an Jerichow, Mecklenburg und Deutschland erst in Gang setzte. Es fehlt daher auch der Krieg in Vietnam, und damit ein tragendes Moment des Johnsonschen Verfahrens.

Denn die "Jahrestage" setzten nicht General Westmoreland mit Himmler gleich, auch wenn manche Leser es so lesen wollten. Vielmehr sollte eine Welt gegen eine andere gehalten werden, um unter abweichenden Bedingungen zu prüfen, wie Menschen ihre Integrität wahren oder verlieren in Situationen, die sie nicht erzeugt haben, zu denen sie sich aber gleichwohl verhalten müssen. In der Variation der Bedingungen, denen der Erzähler das Personal unterwirft, liegt dabei ein eigentümliches Bemühen um Gerechtigkeit, gewonnen aus Genauigkeit und Umsicht.

So ist das "Jahrestage"-Konzept zusammengeschrumpft. Die Erzählerin Gesine ist ebenfalls blasser. Sie wirkte auch in den Jahrestagen auf manche Rezensenten etwas trocken oder gar langweilig. Aber dieser opake Charakter, dem man nicht leicht auf den Grund seiner Leidenschaften, Antriebe, Sehnsüchte sah, der so eigenartig unmotiviert sein New Yorker Leben führte, er bewahrte ein Geheimnis, um dessen Öffnung das Erinnern kreiste. Den Eindruck eines solchen Geheimnisses, das die Figur beschwert und das der Leser mit ihr teilen möchte, erweckt die Gesine des nun publizierten Textes nicht. Aber was ist dann ihr Existenzrecht? Den Vergleich des neuen Buches, aus dem Nachlaß fragmentarisch hervorgezogen, mit dem Hauptwerk des Autors zu ziehen, muß ungerecht sein. Es ist aber zwingend. Die Publikation des Nachlaßwerks richtet sich vorrangig an die Leser der "Jahrestage", wie es auch Johnson selbst 1983 aussprach. Figuren und Ereignisse gleichen sich, beide Arbeiten hängen in ihrer Entwicklung voneinander ab.

Auf eine etwas fahrige Weise, im Ergebnis aber wohl treffend hat Norbert Mecklenburg das eigentümliche Schicksal des von ihm herausgegebenen Buches beschrieben. Was Johnson sich 1983 vornahm, beruhte auf sehr viel älteren Arbeiten. Die Typoskripte, mit denen er arbeiten wollte und die jetzt die Textgrundlage der Veröffentlichung bilden, waren 1975 angefertigt worden, und dies bereits als Klärung und Fixierung älterer Arbeiten. Aus Textzeugen und Briefen läßt sich nicht viel rekonstruieren. Nur der interpretierende Vergleich ermöglicht es, eine Entstehungsgeschichte plausibel zu machen.

Danach ist es unwahrscheinlich, daß Johnson sein großes Werk, Anstrengung und Erfüllung seines Lebens, auf eine nicht bloß kürzere, sondern auch simplere Fassung herunterstimmte. Sehr viel näher liegt es anzunehmen, er habe in der ersten Arbeitsphase der "Jahrestage" eine Skizze angefertigt, die als Chronologie der öffentlichen und privaten Ereignisse dienen konnte. Auch daß "Heute Neunzig Jahr" die Ereignisse in ziemlich gleichmäßiger Kürze aufreiht, wo die "Jahrestage" sich sehr unterschiedliche Ausgiebigkeiten herausnehmen, spricht für die Chronologie Norbert Mecklenburgs.

Danach wären also drei Zeitschichten zu unterscheiden: zunächst, sehr hypothetisch, die ursprüngliche Fassung kurz vor Entstehung des ersten Bandes der "Jahrestage" als frühe Fixierungen des Unternehmens. Dann die Wiedervornahme, zu der die Reinschrift 1975 gehört, als Johnson in seine Schreibkrise geriet, an der die Fortführung der "Jahrestage" schon zu scheitern drohte. Und zuletzt das Jahr 1983. Der letzte Band war vollendet, und um die Bitterkeit des erreichten Ziels zu übertönen, könnte Johnson eine Arbeit vorgenommen haben, die jedenfalls einen raschen Abschluß versprach.

Dazu ist es nicht mehr gekommen. Der Titel "Heute Neunzig Jahr", der sich auf Heinrich Cresspahls Geburtsdatum 1888 bezieht, setzte die Beobachtungsposition von 1978 voraus. Das ist nicht erreicht, nicht einmal begonnen worden, der erhaltene Text ist aus der Sicht des Jahres 1968 geschrieben. Was Gesine, mutmaßliches Opfer der Niederschlagung des Prager Frühlings, nach 1968 erfahren hat, bleibt ungesagt. Das neue Werk ist eine Hilfskonstruktion der "Jahrestage", eine technische zu Anfang, eine psychische zuletzt. Trotzdem ist es ein mehr als nur philologisch interessantes Dokument. Der Johnson-Leser wird in seiner Sucht nach weiterem Material sein Glück finden. Der Autor hat andere Bewertungsmöglichkeiten angedeutet, die auch die Lektüremöglichkeiten der "Jahrestage" ergänzen können. Und zuletzt hat auch diese Minderfassung, als die man "Heute Neunzig Jahr" wohl bezeichnen darf gegenüber der Größe der "Jahrestage", ihren Rang in Sprache und Haltung des Autors.

In der Sprödigkeit, sprachlich in der Bevorzugung von Parataxe und betont unsensationeller Wortwahl, in der nur sanft ironischen Umständlichkeit sprechen sich Gefühle aus, die ihren Ernst bewiesen haben in der Kollision mit der Zeit. Durch das ganze Johnsonsche Werk zieht sich der Versuchscharakter, im schriftstellerischen Verfahren wie in den Lebensentwürfen seiner Figuren. Auch in dieser letzten Arbeit, die der Autor sich vornahm, zeigt sich dessen Substanz, die Doppelnatur des Versuchs: Anteil an der Wissenschaftlichkeit des Jahrhunderts und seiner ergebnislosen Suche nach einem richtigen Leben, altmodisch gesprochen, Anteil an seiner Unerlöstheit.

Uwe Johnson: "Heute Neunzig Jahr". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Norbert Mecklenburg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 205 S., geb., 36,- DM. Das erste Viertel des Textes hat Johnson für den Rundfunk gelesen. Eine Tonkassette ist veröffentlicht: "Versuch einen Vater zu finden. Marthas Ferien". Text und Tonkassette. Herausgegeben von Norbert Mecklenburg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988. Br., 18,- DM.

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