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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.1998

Wir treiben das Material an einen äußersten Punkt
Zwei Basler Baumeister suchen die blaue Mauerblume: Gerhard Mack dokumentiert das Werk von Herzog & de Meuron

Wenn es ein Kennzeichen zeitgenössischer Architektur gibt, ist es die Vielzahl der Formen. Man kann allerdings den Spieß auch umdrehen und sagen: Die Form wird weniger wichtig, das Material gewinnt an Attraktivität. Innenräumen, die flexibel zu nutzen sind, werden Hüllen, glatte Hautschichten vorgehängt, die über subtile, reflektierende Eigenschaften verfügen. Nicht länger nur die rationale, funktionale Qualität eines Gebäudes, sondern auch die sinnliche, emotionale Ausstrahlung eines Hauses gerät in den Blick.

Die beiden Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron wählen häufig einfache oder anonyme Baukörper, damit die Tiefe der Wahrnehmung stärker spürbar wird. Der Stoff der Oberfläche wirkt intensiver. In einem Interview äußerten sie einmal: "Wir treiben das Material, das wir verwenden, an einen äußersten Punkt, an dem es von allen anderen Aufgaben, als ,zu sein', befreit ist." Durch einen reduktiven Umgang mit Form und Material streben sie danach, ein elementares Verhältnis des Menschen zur Architektur zu erzeugen. Theoretiker haben den beiden Praktikern rasch das Etikett "Minimalisten" angeheftet. Eine solche Kennzeichnung hilft zur Orientierung. Doch man darf sie sogleich wieder vergessen.

Gerhard Mack hat den ersten Band des Gesamtwerks von Herzog & de Meuron vorgelegt, der die Zeit zwischen 1978 und 1988 umfaßt. In der Einleitung verzichtet er auf eine kategoriale Einordnung der beiden Architekten und stellt statt dessen ein Schlüsselerlebnis voran. Bevor Herzog & de Meuron ein eigenes Architekturbüro gründeten, gehörten sie einer Basler Clique an, die in Zusammenarbeit mit Joseph Beuys einen Fastnachtsumzug mit Filzanzügen veranstaltete. Vom bildenden Künstler lernten sie, Materialien aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang herauszulösen. Ihren Arbeiten haftet, so Mack, ein Gestus des Romantischen an, der Sinn für das Poetische, der dem Bekannten etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles entlockt. Im Aufsatz "Die verborgene Geometrie der Natur" von 1988, der im Anhang abgedruckt ist, verrät Jacques Herzog: "Die Wirklichkeit, die wir meinen, ist also nicht das real Gebaute, das Taktile, das Materielle. Wir lieben zwar dieses Greifbare, aber nur in einem Zusammenhang innerhalb des ganzen (Architektur-)Werkes. Wir lieben seine geistige Qualität, seinen immateriellen Wert." Fast ist es wie bei Rousseau und anderen Romantikern der Zeit um 1800. Herzog nennt die eigenen Arbeiten "individuelle Landeflächen".

Ein Teil der Bauten und Entwürfe von Herzog & de Meuron wird von Mack ausführlich vorgestellt, sämtliche Werke der behandelten Epoche werden am Ende des Buches kurz dokumentiert. Es ist besonders reizvoll, daß es sich bei diesen frühen Werken weniger um prestigeträchtige Großprojekte handelt als vielmehr um Bautypen, die von etablierten Architekten oft verschmäht werden: um Einfamilienhäuser, Reihenhäuser und Fabrikhallen. Während sonst in kleineren und mittleren Städten gerade diese Gebäudeformen unendliche Eintönigkeit erzeugen, gelingt es Herzog & de Meuron, in Einfamilienhaus- und Gewerbezonen belebende Akzente zu schaffen.

In Oberwil bei Basel setzten sie der Beziehungslosigkeit der Einfamilienhauszone mit ihrem "Blauen Haus" eine verdichtete Form entgegen. Ähnlich wie bei den anderen Bauten, die im Buch umfangreicher dargestellt werden, illustriert eine Reihe von guten farbigen Fotos das Gebäude von außen wie von innen. Schon beim Anblick der Bilder ist man gefesselt. Macks Analysen und Beschreibungen machen verständlich, warum das so ist. Dadurch, daß das "Blaue Haus" als schmaler Längsriegel konzipiert wurde, der an den Rand der Parzelle gerückt ist, erhielt die gesamte Parzelle eine energische Gestaltung: Für die Zufahrt, für das Haus und einen Sitzplatz entstand ein umfaßter Raum, und der Großteil des Grundstücks blieb als Garten erhalten. Drei Seiten weisen kompakte Wände mit nur kleinen, tiefsitzenden Fensteröffnungen auf, die dem Bau Festungscharakter geben; überraschend jedoch fehlt die südliche Seite ganz. Glas und Sperrholzelemente dienen dort als Vorhang. Im Inneren verleiht ein offener Wohn-Eß-Bereich im Erdgeschoß dem schmalen Raum Weite. Zahlreiche Skizzen, Auf- und Grundrißpläne, die ebenfalls kommentiert werden, geben schließlich Einblick in den Schaffensprozeß.

Das "Fotostudio Frei" in Weil am Rhein versetzten die Architekten gegenüber einer bestehenden Villa weit nach hinten in den Garten. Der Studiohalle wurde ein kleiner Bürotrakt vorgelagert und zur Villa ein Verbindungskorridor geschaffen. Man griff auf Formen und Materialien der kleinen Gewerbebetriebe und Hinterhofbebauung der Umgebung zurück. Der Genius loci wurde neu interpretiert, inspirierte zu einem Reichtum der Kontraste. Die Fotohalle ist eine Holzkiste, die teils mit Teerpappebahnen beschichtet, teils mit Sperrholzplatten geschuppt ist. Sie wird durch schräg aufgesetzte Lichtkuben, die mit Titan-Zink-Blech verkleidet sind, belichtet. Industriematerialien, die sonst beliebig verwendet werden und häufig schäbig verkümmern, wurden so eingesetzt, daß ein Phantasiebild entstand: ein Dampfschiff.

Die Eigenart des gesichtslosen Vorortviertels von Basel wurde durch Spiegelung verstärkt, zugespitzt, neu herausgefordert. Hier verkörpert sich eine Architektur, die im Fachjargon als "Dirty realism" bezeichnet wird. Eine Vielzahl möglicher Welten kommt zur Darstellung. Der Bürotrakt mit flachem Dach, horizontalem Bretterverschlag und quadratisch gegliedertem Bandfenster zitiert die frühere Kindergartenarchitektur in Basel und verströmt, wie Mack herausstellt, "die fröhliche Atmosphäre der mobilen Architektur aus den Vereinigten Staaten".

Während andere im Augenblick erbittert darüber streiten, ob ein historisch geschlossener oder modern offener Stadtgrundriß zu bevorzugen sei, ob man Fassaden mit Stein oder Glas verkleiden soll, lassen sich Herzog & de Meuron klugerweise von der jeweiligen Situation leiten. Einen Ort, der stark vorherbestimmt ist, akzentuieren sie nur leicht; an einem Ort, der wenig vorgeprägt ist, wagen sie eine Neugründung. Alle Materialien interessieren sie gleich stark, einerlei, ob Stein, Glas, Metall, Holz oder Beton. Wichtig ist, wie die Stoffe zusammengefügt, in welcher Art sie verwendet werden. Je nach Ort werden andere Aspekte wirksam. Aus dem Vorgefundenen entsteht eine veränderte Form, die eine neue Spannung zum Ort erzeugt.

Nicht immer stößt das Wagnis der Architekten auf Gegenliebe. In der "Siedlung Pilotengasse" in Wien-Aspern sahen sie eine Fassade mit Längsstreifen vor, welche nur die Technik des Putzauftrags voneinander abgehoben hätte. Man mußte sich den künftigen Mietern beugen und einen farbigen Schutzanstrich anbringen. Eine Kunst, die sucht und tastet, die stets neu erfindet, birgt Risiken. In den Bauten von Herzog & de Meuron stecken aber immer Kraft und Herausforderung. Schon die Frühwerke bezeugen, daß die beiden Basler eine ausdrucksstarke Stimme bilden im Orchester zeitgenössischer Architektur. ERWIN SEITZ

Gerhard Mack: "Herzog & de Meuron". Das Gesamtwerk. Band 1. 1978-1988. Text deutsch und englisch. Verlag Birkhäuser, Basel 1997. 238 S., Abb., geb., 148,- DM.

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