Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 39,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Albrecht Schaeffers Roman Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene, in neun Büchern dargestellt, erschien zuerst 1920 im Insel-Verlag in drei Bänden mit einem Umfang von zusammen etwa 2500 Seiten. Das Werk markiert einen End- und Wendepunkt der deutschen Literatur: Der letzte groß angelegte Entwicklungsroman, der, von der Form her ins 19. Jahrhundert verweisend, die literarischen Mittel des 20. benutzt - zum Teil vorwegnimmt. Nicht zuletzt wegen der wegweisenden psychologischen Zeichnung der Charaktere und des expliziten Eingehens auf…mehr

Produktbeschreibung
Albrecht Schaeffers Roman Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene, in neun Büchern dargestellt, erschien zuerst 1920 im Insel-Verlag in drei Bänden mit einem Umfang von zusammen etwa 2500 Seiten. Das Werk markiert einen End- und Wendepunkt der deutschen Literatur: Der letzte groß angelegte Entwicklungsroman, der, von der Form her ins 19. Jahrhundert verweisend, die literarischen Mittel des 20. benutzt - zum Teil vorwegnimmt. Nicht zuletzt wegen der wegweisenden psychologischen Zeichnung der Charaktere und des expliziten Eingehens auf Probleme der Psychoanalyse nannte Sigmund Freud den Autor einmal in einem Brief »meinen Dichter«.Im Mittelpunkt der Handlung steht der Prinz Georg Trassenberg, dessen Entwicklung durch alle Selbstzweifel hindurch bis zum Erreichen von Eigenständigkeit und zur Übernahme der Regierungsverantwortung den Roman bestimmt.Daneben ist der Helianth jedoch auch ein Zeitroman, der tatsächlich das »Leben zweier Menschen von heute« umfassend darstellt. Er war damit der Roman einer Generation, der um 1900 Geborenen. Ernst Kreuder bemerkt, »daß die Generation, die vor dem ersten Weltkrieg heranwuchs, im Helianth sich selbst wiederfand.« Und der Romanist Leo Spitzer wies bereits 1928 auf die Modernität der Schaefferschen Prosa und auf die stilistischen Ähnlichkeiten zum Werk Marcel Prousts hin.____________________Albrecht Schaeffer hat den Helianth im New Yorker Exil 1948 noch einmal neu geschrieben. Diese Fassung, die sich im Nachlaß Schaeffers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet, erscheint nun zum erstenmal im Druck (einen Auszug veröffentlichte 1950 Alfred Döblin in der Zeitschrift Das goldene Tor). Die Neubearbeitung strafft die Handlung, ohne ihr etwas von der ursprünglichen Bildungs- und Entwicklungsthematik zu nehmen. Getreu seinem versachlichten Spätstil präzisiert Schaeffer jedoch die mitunter überladene und preziöse Sprache und betont zunehmend die historische Dimension der Handlung.Durch die Edition des Helianth soll nicht allein immer wieder formulierten Anregungen, Schaeffers Bücher nachzudrucken, und den zahlreichen Hinweisen auf die Bedeutung des Autors - von Hans Hennecke und Peter Härtling bis zu Sven Hanuschek, Adolf Muschg, Henning Rischbieter und Bernd Rauschenbach - Genüge getan werden. Es geht um mehr. Ein Autor, der einmal sehr erfolgreich war und der die deutschsprachige Literatur dieses Jahrhunderts zum Teil geprägt hat, soll durch sein bestes Werk aus dem Strom des Vergessens geborgen werden. Nicht als eine Verbeugung vor der Vergangenheit, sondern zur Bereicherung der Gegenwart.»Schaeffer war ein Kamerad auf dem steinigen Weg der Literatur.«Hans Henny Jahnn, Grabrede für Albrecht Schaeffer, 1950
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Es kommt ein Kahn geladen
Albrecht Schaeffers monumentaler Bildungsroman "Helianth", aus dem Nachlaß ediert / Von Rolf Vollmann

Gegen Ende des Werks, durch das achte Buch, fährt auf den Flüssen und Kanälen der Norddeutschen Tiefebene, zwischen Elbe und Ems, einer dieser langen dunklen Kähne durch den Spätsommer und Herbst. Das ganze Innere des langen Kahns, dreißig Meter, wirkt wie ein "unendlicher sanft erleuchteter Raum oder Gang", der durch "lichtfarbene Vorhänge aus Glasperlen, oder kleinen Glasröhrchen", in einzelne Räume abgeteilt ist. In die langen, dunklen Wände sind Glaskästen eingebaut, die beleuchtet werden können, Aquarien mit Wasserpflanzen und Fischen: die also dort sind, wo sonst, hinter ihnen jetzt, das wirkliche Wasser ist.

Auf diesem Kahn "Argo" durch das Buch fährt Jason al Manach, schwarzäugig, ein wunderbarer Kenner aller Dichtungen, ein unerschöpflicher Erzähler wunderlicher Geschichten, ein trostreicher Freund aller Leute im Buch, und er weiß manchmal, was passieren wird; und fährt also auf diesem leise tuckernden Kahn, auch nachts, so klingt das, durch das Land, durch das Buch. Der Kahn (er taucht erst in dieser späten Fassung des Romans auf) könnte auch ein Bild sein für den ganzen "Helianth", der sozusagen ungesehn mit seinem unerahnbaren Innern fast ewig lange nun schon durch die Landschaften und Jahreszeiten unsrer Literatur fährt. Und es ist wirklich ein merkwürdiger Schock, den Kahn zu besteigen und dann in ihn hinabzutauchen zu Fahrten, von denen man sich nichts hat träumen lassen können.

Zunächst also die verschiedenen Fassungen dieses Buchs. Schon 1909, heißt es in einer Chronologie, die ein Freund Albrecht Schaeffers nach dessen autobiographischen Aufzeichnungen gemacht habe, wie er sagt, schon 1909 habe sich Schaeffer danach mit einem Romanplan beschäftigt, dessen Hauptpunkt die Liebe zweier Brüder zu ein und demselben Mädchen gewesen sei, und der eine bringt dann den andern um - tatsächlich kommt diese Geschichte dann im großen Roman vor, und die Personen heißen wie damals Josef, Erasmus und Renate. Aus demselben Jahr 1909 soll auch, nach eben jener Quelle, der Plan zu einem Buch über eine Ulrika Tregiorni stammen - auch sie ist dann eine Hauptfigur im großen Roman. 1916 habe Schaeffer dann ernsthaft mit dem Roman begonnen, im Juli 1920 sei er abgeschlossen gewesen und dann im März 21, mit der Jahreszahl 1920, dreibändig bei der Insel in Leipzig erschienen. In den Jahren 1918 und 19 - und aus diesen Jahren auch stammend, Stücke gewissermaßen, die, obgleich zu den Figuren des großen Romans gehörend, dort gleichwohl nicht erscheinen würden - publizierte Schaeffer drei Bücher, nämlich "Gudula", "Elli" und "Josef Montfort". Davon nachher.

Den großen Dreibänder von 1920 (oder eben 21; jedenfalls nicht, wie häufig zu lesen steht, 20-24) habe ich vor mir liegen, er hat insgesamt an die 2400 Seiten, in einer sehr schönen Fraktur bedruckt, ungefähr 640000 Wörter, das ist die Stärke von Tolstois "Krieg und Frieden" oder zweimal die "Buddenbrooks" und gratis dazu die "Königliche Hoheit". Aus dem Jahre 1924 gibt es eine Dünndruckausgabe, ebenfalls dreibändig, mit dem Vermerk: "5. bis 8. Tausend". 1928 erschien eine vom Autor auf 1700 Seiten gekürzte zweibändige Ausgabe, von der er meinte, sie sei viel besser als die große alte Fassung, er habe alles Überflüssige weggemacht.

Albrecht Schaeffer gab seine alten Werke, wenn er sie denn wieder herausgeben konnte, oft in umgeschriebenen Fassungen heraus, und immer redete er sich und dem Leser ein, die umgeschriebenen Fassungen seien die wesentlich besseren. In der Vorrede zu jener zweibändigen Ausgabe sagt Schaeffer, er habe den "Helianth" seinerzeit schon 1917 in den Satz gegeben, die Umstände hätten dann aber den Druck hinausgezögert - das wird geschwindelt sein, Schaeffer gab auch seinem Leben gern neue Fassungen und gesteht einmal, in Tagebuchblättern aus dem Jahre 1918, er habe keinen Sinn für Daten; in diesem Diarium ist vermerkt, er habe Ende 1918 das neunte, letzte Buch des großen Romans abgeschlossen, jedenfalls zum ersten Mal.

1939 verließ Schaeffer, unverfolgt von den Nazis, Deutschland, er wollte, schreibt er einmal, seinen Kindern das Gift nicht zumuten, wovon die Luft in Deuschland voll sei. Er erzählt von einem Amerikaner, der einmal gefragt habe, ob es denn nicht wenigstens sieben Deutsche gegeben habe, die freiwillig gegangen seien nach Hitler - er sei einer der sieben. Er ging nach Amerika. (In Marbach, im Deutschen Literaturarchiv, liegt seit 1957 der ganze erhaltene Nachlaß Schaeffers, darunter eine dünne Wachstuchkladde mit Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1932 und 38, 39; eine deutliche lateinische Schrift, wie immer bei ihm; ich habe die Kladde durchgesehn: nichts von Gründen und Motiven, nur Fakten, Zug- und Schiffsverbindungen und irgendwann, fast ein Fremdkörper, ein Gebet; das ist alles.)

Und hier, in Amerika, in den Jahren 1947 und 48, schrieb Schaeffer den Roman noch einmal um, den ersten Band nicht so sehr, dann immer spürbarer, bis hin zum Kahn, dem Bild des Werks im Werk vielleicht. Er starb 1950, kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland. Das Buch wollte keiner mehr drucken; es geriet in den Nachlaß, seit 1957 also liegt es in Marbach. Dort aus den Magazinen heraus haben es Rolf Bulang, als Editor, und Stefan Weidle, als Verleger, geholt. Gedruckt, in einer Antiqua natürlich, hat es jetzt 1900 Seiten, mit noch 580000 Wörtern und, wie gesagt, dem Kahn.

Nun jene vorhin erwähnten erzählenden Bücher aus dem Umkreis des "Helianth": "Gudula" ist ein historischer Roman, er erzählt von Vorfahren jener Herzogsfamilie, aus der die Hauptfigur, der junge Prinz Trassenberg, im "Helianth" stammt - diese Familie regiert ein Land, das ungefähr dem heutigen Niedersachsen entspricht, mit der Hauptstadt Hannover, Altenrepen im Buch. Helianth, um auch das gleich zu sagen, hängt nicht, wie man fürchten muß, wenn man Schaeffer aus andern als seinen erzählenden Büchern näher kennt, mit Heliand zusammen, dem Heiland der altsächsischen Evangelienharmonie, sondern heißt Sonnenblume, aus griechisch "helios" und "anthos".

"Josef Montfort" ist nicht, wie alle schreiben, ein Roman, sondern eine Sammlung von Geschichten um eine Person herum, in Schaeffers Fall von ganz hinreißend guten Geister- und Gespenstergeschichten mit ein bißchen Sherlock Holmes dabei und viel Freud; hier gibt es auch Geschichten, die einen ganz unvermuteten Witz zeigen, den Schaeffer jedenfalls in dieser Epoche manchmal zur Verfügung gehabt haben muß - ein wunderschönes Buch, Background gewissermaßen für jenen Josef Montfort, der im großen Roman eine der eindrucksvollsten unter den Hauptfiguren ist, ein bißchen ein Superman auf dem Niveau der alten Weltliteratur, umgeben von wunderbaren Frauen, mit der Schwäche, daß sein Bruder ihn nachher, wenn auch etwas indirekt, umbringen kann. Es lag Schaeffer nichts an wirklichkeitsgetreuen, realistischen Figuren; man kann ruhig sagen, daß er die ganze Romanliteratur, soweit sie uns lieb und teuer ist, nicht mochte oder wenigstens nicht begriffen hatte - seine Naivität in diesem Punkt, wenn er nun selber einen Roman in Angriff nimmt, ist hanebüchen und im Grund unverzeihlich, aber offenbar mußte er sie haben, um diesen staunenswerten "Helianth" schreiben zu können.

"Elli" ist eins der Bücher, die er dann, in diesem Fall für eine neue Ausgabe 1949, umgearbeitet hat, hier hauptsächlich stilistisch, auch wenn dann am Ende, als Elli stirbt, plötzlich ein Engel da ist, den die frühen Leser noch nicht hatten. Elli ist eine junge Frau, die durch die Hände von sieben Männern geht, von Klippe zu Klippe geworfen (Schaeffer mag Hölderlin), schließlich stirbt sie als Dirne. Die einzelnen Kapitel hießen in der ersten Fassung nicht Kapitel, sondern Treppen, etwas sonderbar, wie sich dann zeigt, denn man denkt bei Treppen offenbar an ein Aufwärtsgehen, hier aber, mit dem Mädchen, geht es ja hinab, wenn auch mit der erlöserischen Volte, daß Elli dann, wie der späte Engel zeigt, gerettet wird, nach oben also doch. Und die Männer sind zur Hälfte welche aus dem "Helianth", hier also in veränderter Perspektive.

Ganz am Anfang des Buchs übrigens heißt es über Elli in München in der zweiten Fassung: "Ihre Absicht in dieser Stadt war, das Studium der deutschen und französischen Sprache und Literatur zu beginnen, das sie mit dem Doktorexamen und dem des ,Oberlehrers' - wie er damals hieß - zu beschließen gedachte . . ." - die Gänsefüßchen um den Oberlehrer und die nachfolgende erläuternde Parenthese sind neu; mit andern Worten: die Überarbeitung, jetzt ganz abgesehn vom Stil, macht aus dem Roman einen historischen Roman, wir wollen uns das merken.

Schaeffer kam literarisch aus dem Kreis um Stefan George, sein Streben ging meistens ins Absolute und ganz Hohe. Sein Vater war Architekt. Er wuchs, 1885 geboren, hauptsächlich in Hannover auf und studierte dann klassische und deutsche Philologie. In solchen Bildungszusammenhängen ist die Romanepoche um 1918 herum (es gibt aus den dreißiger Jahren noch einmal drei Romane und einen aus dem Jahre 1949; ein allerletzter Roman liegt in Marbach, ich habe ihn gelesen, kein Wort darüber) eine Enklave des niederen Schreibens sozusagen, umgeben vom Meer des hohen Stils: große, der Antike sich immer wieder nähernde Gedichtzyklen (1914 ein Band vaterländischer Gesänge; ich hätte diesen wunderlichen Mann gern frei davon gewußt, aber leider war er's nicht, er, der dann so aufrecht war), Dramen und Mysterien und Legenden, dann eine schwer begreifbare Sache, ein "Parzifal" in 20000 Versen, ein "Demetrius" in fünf Akten, viele Erzählungen von oft großer symbolischer Tendenz, dann Übersetzungen, nämlich des "Goldenen Esels" von Apuleius, vor allem aber Homers, der "Ilias" und der "Odyssee", 1927 und 29 (letztere in Trochäen, à la "Nächtlich am Busento lispeln . . .").

Schaeffer war ein Liebling bibliophiler Vereine, viele seiner Sachen erschienen auf feinstem persischen Bütten und in Häuten seltener Tiere und dergleichen, aber natürlich in Auflagen von nur achtzig, hundertfünfzig Stück, vom Autor signiert sehr oft, aber wer las das schon? Immerhin, und doch eben von vielen kleinen Kreisen gehätschelt, unternahm Schaeffer in den zwanziger Jahren eine Unmenge von Lese- und Vortragsreisen. Er verdiente Geld, er bewohnte ein nicht kleines Haus mit Garten am Chiemsee, der Hund hieß Tasso.

Schaeffer liebte, wenn er fotografiert wurde, Posen. 1920 zu Weihnachten, also im Erscheinen des "Helianth", schickte er den Kippenbergs, dem Verlegerehepaar, ein Foto von sich, mit Widmung und ganz in Brauntönen: Er hatte einen dunklen Anzug an, mit ewig breiten Revers, das Jackett ist so künstlich verrutscht, daß man die Weste sieht, der Hemdkragen ist hoch und steif, mit fast senkrecht fallenden Kragenecken, so daß der Schlips, in diesen Brauntönen wie genoppt, nicht ganz oben sitzen kann. Schaeffer hat den linken über den rechten Arm geschlagen, die Hände kommen aus sehr weiten Ärmeln, die Manschetten sind auf einen einzigen großen Knopf gearbeitet; man sieht die wunderschöne Armbanduhr, länglich, eher eckig als oval, in den Fingern dieser Linken hält er eine weit herabgeglühte Zigarette, zerdrückt, filterlos. Sein Kopf ist ganz leicht gesenkt, er schaut leise aufwärts dem Betrachter in die Augen; seine eignen Augen haben etwas lichttechnisch leicht forciert Magisches in sich, man denkt an den jungen Gustaf Gründgens. Haare hatte er immer nur wenige, sie setzen hinter einer überhohen Stirn auf der Kopfmitte an: so daß er, im Halbprofil, einem Geistlichen mit Hinterhauptkappe ähnelt.

Nun also der "Helianth", den Schaeffer fertig hatte, als er so aussah. Gleich fällt auf, daß das Buch im ganzen seltsam zahlenmagisch aufgeteilt ist, neun Bücher zu neun Kapiteln, jeweils enthaltend Zeiträume, die nach Stunden oder Monaten ihrerseits durch neun teilbar sind und so weiter. Eigentlich macht man so etwas seit Dante nicht mehr, aber genau solche Anknüpfungen liebt Schaeffer. Man kann, wenn man sehr viele Romane gelesen hat, sagen, daß jede Größe in diesem Fach nicht zuletzt dadurch groß ist, daß sie Sachen macht, die man eigentlich nicht tun darf, aber Schaeffer zeichnet sich vor den meisten von ihnen dadurch aus, da er fast nur solche Sachen macht. Als ihm Oskar Walzel, der zwanzig Jahre ältere große Literaturhistoriker und -kritiker, nach dem Erscheinen des Buchs in einer großangelegten Rezension vorwarf, Hintertreppenelemente zu verwenden, verteidigte sich Schaeffer gegen diesen Vorwurf so töricht, daß man beim Lesen seiner Replik den Eindruck hat, das Gute an dem Buch müsse er in Trance geschrieben haben, und was er eigentlich gewollt habe, nehmen wir nun bloß mit in den Kauf.

Am Anfang - der Roman spielt ungefähr in den Jahren 1906 bis 1912 - ist da dieser junge Prinz, gerade hat er das Abitur gemacht, er ist verliebt, zweimal kommt ihm, in wunderbaren Momenten, dazwischen, daß er sein Wasser abschlagen muß, aber dann geht alles gut, nur daß er fast nichts weiß, wo hinein und alles, aber das schöne Mädchen federt das lieb ab und macht ihn zum Mann. Sein Vater sagt ihm, daß er in ein paar Jahren dann das Land regieren müsse, dazu müsse er sich selber nun erziehen; und das tut er jetzt.

Er irrt natürlich immerzu, zum Beispiel tritt er in eine Verbindung ein, er trinkt, er schläft ein bißchen herum. Aber dann sind wunderbare Freunde da, wir kennen ja schon Jason, den Tiefebenenkahnfahrer, wir kennen Josef Superman, wir lernen einen hervorragenden Maler kennen (Mustermenschen allesamt auf ihre Art, ein bißchen wie bei Simmel mitunter, aber Simmel denkt, seine seien real, das denkt Schaeffer nie), einen Musiker und Frauen, immer wieder Frauen. Vorn dran die schon besagte Renate, das vollkommen Schöne an Weiblichkeit (sie ist schon alles, Prinz Georg muß erst alles werden), ungeküßt, begehrt, ein Stern, vielleicht ein bißchen sehr platonisch. Andre Frauen dann auch: eine wahnsinnig Scharfe, eine Sterbenssüße (sie geht unter), eine Sterbensliebende (sie bringt sich um), endlich eine Stolze, Große, er merkt es erst zwölfhundert Seiten später, wir wissen gleich: Das wird die Seine werden, wenn er erst der Seine wird geworden sein.

Zu sich zu kommen fällt dem Prinzen um so schwerer, als er gar nicht der ist, der er werden soll, nämlich der Sohn seines Vaters, wie er ihm eröffnet (er ist es dann doch, aber das steht wirklich auf einem andern Blatt, tausend Seiten weiter, denken Sie an das Hintertreppenelement). Das gibt große Turbulenzen; dann verliebt er sich auch noch in eine schon anderweitig Vergebene, aber das tun sie alle; und hinzu zu dem allen kommen diese tausend Sachen, die die Welt dem Romandichter so bietet: also die traumhaft Schöne, Renate, liebt vielleicht den Maler, wird aber geliebt von den Brüdern Montfort, die eine Fabrik haben, aber eine eingehende; nun hilft der Herzog aus, der Vater: dieser wahre Traum von einem Mann, wenngleich mit entzweien Füßen, er ist mal wo runtergefallen - es gibt später eine große Stelle, man zittert, wenn man sich ihr nahen sieht, da fallen er und Renate einander in die Arme, in den Schoß - es ist nicht leicht, das ganz ohne Ironie zu erzählen.

Der Herzog hilft aus, wie gesagt; aber er hilft dem Josef, nicht dem unbeholfenen Erasmus, den - aus Mitleid? wir wissen es nicht - die Schöne, Renate, heiratet: und der nun also noch eifersüchtiger wird auf Bruder Josef. Der Maler malt die Kapelle im Montfortschen Garten aus, auf deren Orgel Renate spielt (eine neugotische Kapelle, so geschildert, daß wir tatsächlich die totgeboren geglaubte Schönheit der Neugotik spüren), die kluge gute Ersterkannte des Prinzen singt immer schöner, der komponierende Freund heiratet ganz verkehrt, der Vater der Ersterkannten ergibt sich dem Trunk, Vater Montfort verblödet, die Singende erblindet, der Vater Herzog wird umgebracht - all diese tausend Dinge. Am Ende kriegt die Vollkommene ein Kind, sie weiß nicht von wem, und der Prinz die Seine.

Es ist sehr mißlich, ein unbekanntes Ding durch ein anderes erklären zu wollen, das noch unbekannter ist; aber es gibt (beim werdenden Regenten wird das dem einen und dem andern eingefallen sein) einen einzigen und gleich noch dickeren deutschen Roman, der allein diesem vergleichbar wäre, das sind Gutzkows "Ritter vom Geist" aus dem Jahr 1851 - auch so ein dunkler Kahn auf den nächtlichen Gewässern unserer Literatur, es ließe sich lange darüber reden. Ich habe in Marbach Schaeffers Aufzeichnungen zur Literatur und zu den Büchern seine Bibliothek durchgesehen, auch wegen Gutzkow; zwar sind gerade die Seiten zur deutschen Epik verlorengegangen, aber Gutzkow kannte er nicht, ich bin sicher.

Schaeffers Buch heißt im Untertitel "Bilder aus dem Leben zweier Menschen nach der Jahrhundertwende", die Erstfassung hieß: "Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der Norddeutschen Tiefebene". Ein bißchen umständlich, klar; das mit der Tiefebene, für den, der sie mag, ist aber doch schön; und dann sind es zwei Menschen, eben der Prinz, seine Perspektive ist die eine, um die es geht, und Renate, das ist die andere Perspektive. Schaeffer hat großen Wert auf diese Perspektivität gelegt, er glaubte was Neues gemacht zu haben, er kannte Henry James nicht, natürlich, er hätte auch nichts gemerkt. Er läßt aber andere Leute mit Briefen, mit Tagebüchern, mit Telefongesprächen zu Wort kommen, das gibt dem Buch eine wunderbare Lebendigkeit. Davon lebt das Buch: einerseits von dieser reizvollen Oberfläche, der ganzen unterhaltenden Romanhaftigkeit; und andererseits, und das ist nun wohl sein wahres Geheimnis, von der grenzenlosen Unbefangenheit, ja Bedenkenlosigkeit, mit der Schaeffer diese Welt baut.

Der Prinz, wie er aus sich macht, was die Welt braucht, und wie sie alle Stufen dazu sind oder Stützen, Freunde, Helfer, Mitarbeiter, und wie das Innere so wichtig ist, dieses Sichzurechtfinden zwischen den Träumen der Jugend und dem, was einer unter dem wirklichen Leben versteht: das ist alles erschreckend deutsch, und dann zu dieser späten Stunde, mag sein. Aber es ist alles auch ganz und gar zauberhaft. Es ist so herbeschworen immer noch so schön, wie es einmal vielleicht wirklich gewesen ist. Wenn Jason, wenn später die Schöne, die die Seine wird, Goethe zitieren, nun ja, das müßte nicht sein, wir wissen das; aber sie beide zitieren, in diesem Buch, Goethe so ungeheuer lebendig, daß sie recht haben, während sie reden, während wir lesen.

Ich will nun noch einen Schritt weitergehen. Schaeffer hat später an so etwas wie einer Kosmologie gearbeitet, einem Gesamtweltbild, auch das habe ich mir angesehn. Man muß das nicht tun, es ist alles in einem unguten Sinne dilettantisch, Gedanken naturforschender Laien mit dem großen Überblick, wie Steiner und Verwandtes; und wenn Schaeffer, essayistisch oder ernsthaft, über Goethe redet, dann ist man versucht, mit jenem auch diesen nicht mehr zu mögen. Wenn aber in dem Roman ein paarmal seine Leute die Art groß finden, wie Goethe die Welt gesehn haben mochte: unbeweisbar alles, ohne Fanatismus, ohne Lust auf Proselyten, nur für sich; so wie man die Welt sehn kann, gerade wenn es keine allgemeingültige Sicht auf die Welt mehr geben kann - dann verfängt das mit einem Male, dann wirkt das wunderbar anziehend, anheimelnd fast, aber anheimelnd wie etwas Altes zwar, aber frisch und neu entdeckt, und man fühlt, daß man etwas Ungeheures an Wahrheit verloren hat, wenn das alles fürs Existieren heute sinnleer geworden sein soll. Und das macht uns ja doch mit aus, daß wir etwas beweisen (und hinter den Tränen uns doch heimlich aneignen) können, von dem wir öffentlich vielleicht zugeben müssen, daß es keine Chance mehr hat in unserer Welt; und so ist es also in einer doppelt noch in Kunst versteckten Art genußvoll als eine heimlich tätige Reue, wenn wir im Roman bezaubert werden davon, daß nichts so ganz vergangen ist, wie eine Gegenwart gern möchte, die noch die Kunst auf ihre Relevanz hin prüft.

Nun dreht der Prinz in seinem Palais im alten dahingegangenen Hannover immer noch an seiner Lichtkurbel, wenn er nachts ins Zimmer kommt - ich hab' überall nachgesehn, aber selbst der alte Meyer kennt so was nicht. Ich habe für mich diese Fassung ein bißchen mit der Erstfassung verglichen, ich will es so sagen: In der neuen Fassung sehn die Figuren für den vergleichenden Leser so aus, als hätten sie alle den ersten Roman zu Ende lesen dürfen und seien nun ein Vierteljahrhundert später bittflehend dem in ihr Leben noch einmal versunkenen Autor ans Herz gegangen. Er hat sie zugelassen, nun wissen sie manchmal ahnungsvoll Dinge, die ihr Schöpfer zuerst auch nur ahnte, die er aber wußte, als er seine Welt noch einmal machen durfte. (Es muß für Schaeffer etwa 1948 schwer gewesen sein, einer Figur, die bei Wagnerscher Musik ein leises Schaudern spürt, vorzuenthalten, was Hitler aus Deutschland gemacht hat - so, andeutungsweise, schreibt sich denn ein Roman in einen historischen Roman um.) Und um mit einem solchen Gedanken auch zu enden, so ist ja der Umstand, daß wir dieses Buch nun endlich wieder lesen können, schließlich auch so etwas wie das Glück, eine Geschichte neu zu sehen und zu schreiben, die sich in das Vergessen eines solchen Buchs verlaufen konnte.

O, eh dies hier zu Ende ist: geboren wurde Albrecht Schaeffer morgen vor 110 Jahren, gestorben ist er, die Angaben schwanken, am 4. oder am 5. Dezember, also gestern oder aber eben heute, vor 45 Jahren. Ich habe das Horoskop gelesen, das er sich gestellt hat, er glaubte an die Sterne. Gott bewahre uns vor den Sternen, denn wir haben doch die Bücher und diese wunderbare Norddeutsche Tiefebene, voll mit Kähnen . . .

Albrecht Schaeffer: "Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen nach der Jahrhundertwende". Roman. Herausgegeben von Rolf Bulang. Mit einem Nachwort von Adolf Muschg. Weidel Verlag, Bonn 1995. 3 Bände, zus. 1890 Seiten, geb., zus. 168,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr