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Produktdetails
  • dtv Taschenbücher
  • Verlag: DTV
  • Abmessung: 190mm x 124mm x 10mm
  • Gewicht: 176g
  • ISBN-13: 9783423305631
  • Artikelnr.: 24199224
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.1995

Daß weniger Gewalt sei
Antje Vollmers Dichter-und-Musen-Projekt

Antje Vollmer: Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 304 Seiten, 34,- Mark.

Statt dem ersten Kapitel ihres Buches über "Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation" ein Motto von Botho Strauß voranzustellen, hätte Antje Vollmer auch Woody Allen zitieren können: "Du hast eine überaus dumme Sendung über Auschwitz versäumt - viele grausige Filmausschnitte und noch mehr verwirrte Intellektuelle, die ihr Unverständnis gegenüber diesem systematischen Mord an Millionen zum Ausdruck brachten. Der Grund, warum sie die Frage ,Wie konnte so was je passieren?' nicht beantworten können, ist, daß die Frage falsch ist. Nach dem, wie der Mensch ist, müßte die Frage lauten: ,Warum passiert so was nicht öfter?'"

Warum so etwas überhaupt passiert, warum die Gewalt in der Welt ist und die Menschen einander Leid zufügen, das sind die wichtigen Fragen in Vollmers Essay. Auch verwirrte Intellektuelle kommen darin vor und die furchteinflößenden Gründe für ihre Verwirrung: Krieg in Europa, Chaos im Osten, religiöser Fundamentalismus, Hunger, Elend, Armut an vielen Orten der Welt; Bürgerkrieg in den Städten, wie Enzensberger ihn beschreibt: Müll auf den Straßen, Spritzbestecke im Park, Graffiti an allen Wänden - Wut auf das Unbeschädigte, Haß auf alles, was funktioniert.

Es ist schwer zu sagen, ob diese Bestandsaufnahme realistisch ist oder Fin-de-siècle-Geraune: Um das zu entscheiden, bedürfte es der Empirie, aber um Polizeistatistik geht es der Bundestagsvizepräsidentin nicht. Eher versucht sie eine Art Wesensschau der Gewalt. Nach Frau Vollmer entsteht sie dadurch, daß der Mensch Wünsche hat: Er will Nahrung, Arbeit, Liebe, Anerkennung, Würde, Luft zum Atmen. Aus der Konkurrenz um diese dauerhaft knappen Güter entstehen Konflikte - gerade mit denen, die einem nahe sind. Deshalb stehe am Beginn so vieler gewaltverarbeitender Mythen eine Geschichte von feindlichen Brüdern, schreibt Vollmer. Auch Leere könne Gewalt hervorrufen, und auch ein Zuviel an Egalität: Denn wenn alle gleich sind, wächst der Konkurrenzdruck ins Unermeßliche. Trägt also die Moderne mit der Forderung nach Gleichheit ihren Untergang schon in sich? Frau Vollmer bleibt bei der Antwort bedeckt, findet aber auf jeden Fall, daß die Gewaltbindemittel der Aufklärung - staatliches Gewaltmonopol, Rechtsstaat, Menschenrechte, Gesellschaftsvertrag - ihre Wirksamkeit verlieren. Spätestens seit Auschwitz und GULag ist unsicher, ob die Zivilisation als "Methode der kollektiven Selbsterziehung des Menschengeschlechts" einen effektiven Schutz gegen Barbarei bietet.

Das taten allerdings auch die Traditionen vormoderner Gesellschaften weniger, als man bei Vollmer heraushört: Zwar mögen Mythen, religiöse Kulte und Opfer zeitweise eine Art Gewaltbalance hergestellt haben - aber um den Preis einer sehr eingeschränkten Vorstellung davon, wer eigentlich Mitmensch sei. Die "Arena" mag für den römischen Staat integrierend gewirkt haben, menschlich war sie nicht. Insofern stimmt Vollmers Suche nach einer "neuen Arena" für die dritte, offenbar nachmoderne Stufe der Zivilisation, in der wir uns befinden, eher bedenklich: Wenn die Medien, ganz besonders das Fernsehen, ihre Rolle übernehmen sollen, wird es nicht ohne Blut abgehen.

Richtig ist, daß in Deutschland die "bürgerliche Mitte" der Gesellschaft fehlt und daß es keine Metropolenkultur gibt, die als Bollwerk gegen menschenverachtende Antizivilisation dienen könnte. Daß aber wirklich Rocksänger die "Citoyens der heutigen Zivilisation" sind, wie Frau Vollmer behauptet, darf man bezweifeln, selbst wenn sie tatsächlich das "Wirrwarr kollektiver Emotionen und Affekte auf sich versammeln und ihm einen unvergleichbaren, authentischen Ausdruck geben" sollten. Vielleicht stellen solche "Citoyens" latente Gewalt in Teilen der Gesellschaft ruhig - wer sich darüber freut, nimmt es aber mit der Emanzipation des Individuums nicht mehr sehr ernst. Schwierigerweise geht es doch genau um diese Frage: Wie man den einzelnen Menschen dazu bringen kann, sich einigermaßen anständig zu verhalten. Wenn das nicht gelingt, ist auch niemand da, der mit Antje Vollmer Gründungsakte im Sinne von Hannah Arendt vollziehen kann (die Aufforderung dazu ergeht erfreulicherweise erst im zweiten Kapitel, nicht schon auf Seite 13, wie sonst in aktueller politischer Gebrauchsprosa üblich). Dann fehlen auch die Menschen, die sich mit Gandhi in den Kopf des Gegners denken, um ihn durch Kompromisse zu entwaffnen - was weiter kein Verlust wäre, wenn es nur um Kompromisse mit der RAF ginge.

Ohne wieder Augenmerk für die Bildung und Erziehung des einzelnen wird es auch keine "neue geistige Elite" geben, die "zivilisatorische Codes" für das dritte Jahrtausend entwickelt: Und das ganze Dichter-und-Musen-Projekt, mit dem Frau Vollmer, ähnlich wie der Dichter Strauß, die Gesellschaft auf eine neue moralische Grundlage stellen will, fällt flach. Darum ist es legitim, nach dem Zustand der Erziehungsinstitutionen - Familie, Kindergarten, Schule, Hochschule - zu fragen; auch, festzustellen, daß er nicht gut ist. Vollmers vorauseilende Inschutznahme der "68er" gegen Schuldzuweisungen in diesem Bereich nützen ihrem Anliegen, daß weniger Gewalt sei, nicht. Bis sich also die Menschen irgendwie ändern, gilt weiter Woody Allens Handlungsanweisung: "Wir sollten alle da runter in den Süden fahren und es den Nazis da mit Baseballschlägern mal so richtig zeigen", schlägt er auf einer Manhattaner Cocktailparty vor. "Meinen Sie nicht, daß eine beißende Satire in der ,New York Times' besser wäre als Gewalt?" wird ihm geantwortet. "Vielleicht", sagt Allen, "aber Gewalt kommt bei den Nazis viel besser an." SUSANNE GASCHKE

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