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Bekannt für seine Zeichnungen aus dem"Berliner Milljöh", seine gesellschaftskritischen Hinterhof- und Hurenstücke, entpuppte sich Heinrich Zille (1858-1929) mit der Erschließung seines photographischen Nachlasses Anfang der 1990er Jahre auch als begnadeter (Amateur-)Photograph, der das Medium, wenn er es auch nicht kommerziell nutzte, mit einem professionellen Aufwand und einem technischen Erfindungsreichtum ausübte, die das gestalterische Niveau zeitgenössischer Berufslichtbildner weit übertrafen. Was Zille selbst als Nebenprodukte oder pures Rohmaterial ansah, ist für den heutigen Betrachter…mehr

Produktbeschreibung
Bekannt für seine Zeichnungen aus dem"Berliner Milljöh", seine gesellschaftskritischen Hinterhof- und Hurenstücke, entpuppte sich Heinrich Zille (1858-1929) mit der Erschließung seines photographischen Nachlasses Anfang der 1990er Jahre auch als begnadeter (Amateur-)Photograph, der das Medium, wenn er es auch nicht kommerziell nutzte, mit einem professionellen Aufwand und einem technischen Erfindungsreichtum ausübte, die das gestalterische Niveau zeitgenössischer Berufslichtbildner weit übertrafen. Was Zille selbst als Nebenprodukte oder pures Rohmaterial ansah, ist für den heutigen Betrachter ein photographischer Bilderschatz von atemberaubender Eigenständigkeit - ist Photographie der Moderne.
Unser 1995 zum ersten Mal erschienene Band präsentiert den kompletten photographischen Nachlaß. Darin wird Zilles formalästhetische Pionierposition deutlich und die Sozialgeschichte des deutschen Kaiserreichs am Beispiel der Stadtgeschichte von Berlin auf faszinierende Weise lebendig.
Autorenporträt
Heinrich Zille, geboren am 10. Januar 1858 in Radeburg bei Dresden; gestorben am 9. August 1929 in Berlin, war Maler, Zeichner und Fotograf.
Er war neun Jahre alt, als er 1867 mitten in der Aufbruchstimmung der Gründerzeit mit der starken Zuwanderung aus dem Osten und all ihren sozialen Auswüchsen zum ersten Mal nach Berlin kam. Als Sohn eines armen Handwerkers lernte er sehr schnell das dunkle Berlin kennen, dass er in seinen Zeichnungen immer wieder eindrucksvoll und anklagend porträtiert. Schon bald war Zille einem großen Publikum vertraut. Er publiziert im "Simplicissimus" und in den "Lustigen Blättern". 1924 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.1995

Ein Anarchist des Auges: Heinrich Zille als Fotograf

Als Nachzüglerin unter den Künsten kann die Fotografie noch mit klassischen Entdeckungsgeschichten aufwarten, beispielsweise mit der Auffindung des fotografischen Nachlasses von Heinrich Zille. Daß der Zeichner des Berliner "Milljöhs" ein fotografisches OEuvre in der Schublade verwahrt hatte, wußten allenfalls die Nachkommen, die noch in der alten Berliner Wohnung lebten. Erst 1966, Jahrzehnte nach Zilles Tod, wurden dort Hunderte von Glasnegativen und alten Abzügen entdeckt. Daß der Fund gerade damals gemacht wurde, ist kaum zufällig. Wie die Kunstszene hatten sich auch Zilles Erben einzig um die Pflege des grafischen Nachlasses gekümmert. Die Fotografien wurden erst bemerkt, als es Mode wurde, Fotos zu bemerken.

Heinrich Zille ist ein Fotograf, wie er aus Deutschland nicht bekannt war: der schamlos neugierige, hochbegabte Amateur, der sich, auch wenn er hauptberuflich Künstler ist, als Fotograf an keine Regel der Kunst gebunden fühlt. So haben Zola, Eakins, Munch und Bonnard fotografiert. Ihre Interpreten bemühten sich freilich, den ästhetischen Anarchismus dieser Bilder deutend zu zähmen. So wurden diese OEuvres als Hilfsmaterial für die eigentliche künstlerische Tätigkeit gedeutet. Die Kamera wurde als Bleistift, die fotografische Platte als Notizblock, das formal Ungewohnte als aufnahmetechnischer Fehler mißverstanden.

Auch Zilles Fotografien mit den Rummelplatz-Szenen, den illegalen Müllkippen, schäbigen Baracken, zerbröckelnden Mauern, diese Bilder mit schrägen Horizonten, stürzenden Linien und dem oft ins Bild sich einmischenden Schatten des Fotografen kümmern sich um keine ästhetische Norm. Entstanden sind sie zwischen 1882 und 1906. Zille war als Künstler noch kaum hervorgetreten, er verdiente seinen Lebensunterhalt als Lithograph der "Photographischen Gesellschaft". Als er den Stil für seine Karikaturen gefunden hatte, die Zeitschriften ihm Aufträge gaben, der Kunsthandel ihn ausstellte und er auch noch die Anstellung als Reprolithograph verlor, hörte er auf zu fotografieren.

Für Enno Kaufhold läßt sich an diesen Daten ablesen, daß Zilles Fotos, von Ausnahmen abgesehen, nicht als Bildnotizen verwendet wurden. Sie dokumentieren die Wahrnehmung des Künstlers, der seinen zeichnerischen Stil noch nicht gefunden hat und der von der Abstraktion des Fotos lernen will, wie sich der Formenreichtum der Wirklichkeit stilisierend bewältigen läßt. Die Fotografie, das ist Kaufholds These, diente Zilles Zeichenkunst nur insofern, als sie ihn überhaupt erst zum Künstler machte. Die Kamera formte und belehrte seinen Blick. Gezähmt hat sie ihn nicht. Das besorgten erst die Konventionen des Kunstgeschmacks. Niemals wieder war Zille so kühn wie damals, als er fotografierte. Heißt das, daß der Fotograf Zille bedeutender ist als der Zeichner? Ja, sagt Kaufhold, und man muß ihm recht geben, wenn man die ästhetischen Maßstäbe moderner Kunst anlegt. Nur als Fotograf praktiziert Zille eine skrupellose Ästhetik der Hauptsache: das Wesentliche groß und nah, der Rest nachlässig skizziert.

Kaufhold deutet den zum größten Teil in der Berlinischen Galerie verwahrten Nachlaß überzeugend und stellt ihn in einem akribischen OEuvrekatalog von fast sechshundert Nummern vor: die für lange Zeit maßgebliche Monographie. - Unsere Abbildung zeigt "Handstand machende Jungen", 1898. (Enno Kaufhold: "Heinrich Zille, Photograph der Moderne". Verlag Schirmer/Mosel, München 1995. 240 S., 140 Tfln., 570 Abb., geb., 98,- DM.)

WILFRIED WIEGAND

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