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Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 229
  • Abmessung: 20mm x 119mm x 199mm
  • Gewicht: 262g
  • ISBN-13: 9783518582558
  • Artikelnr.: 07078458
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.1997

Bodenlose Gewißheiten
Gegen die dauernde Überforderung: Helm Stierlin hat eine Therapie für postmoderne Zeitgenossen

Die Physiognomie der systemischen Psychotherapie, die Helm Stierlin, emeritierter Direktor der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie an der Universität Heidelberg, in seiner Aufsatzsammlung "Haltsuche in Haltlosigkeit" skizziert, ist die Doppelgesichtigkeit des Januskopfes, mit der sie sich dem Menschen zuwendet, den die beschleunigte kulturelle Evolution an einen Punkt geführt hat, an dem ihn die wachsende Komplexität seiner Umwelt in seiner biologischen Trägheit zusehends mehr überfordert. Er sieht sich auf seiner konstitutionell gebotenen Suche nach Realitäts-, Identitäts-, Selbstwert-, Gesundheits- und Heilsgewißheit vom Schwindel der Postmoderne erfaßt.

Zwei Szenarien innerpsychischer und zwischenmenschlicher Konfliktlösungsstrategien zeichnen sich in dieser Situation ab: der freiwillige Erwerb von Scheuklappen, um Halt in den erstarrten Orientierungsmustern bleibender Werte zu suchen, und die vorsätzliche Haltlosigkeit, die sich jedem Zweifel und jeder Irritation aussetzt. Der systemische Therapeut, der einer krank machenden Einseitigkeit durch den Perspektivenwechsel vorbeugen will, macht sich zum Anwalt beider Strategien, sowohl der Nichtveränderung wie der Veränderung: "therapeutisches Splitting". Das Gleichgewichtsorgan, das dem Schwindel der Postmoderne trotzen soll, ist die "Ambivalenztoleranz". Die Gewitztheit, die den postmodernen Schwindel entlarven soll, ist das Kontextbewußtsein für die innere und äußere Umwelt des Individuums. Das Ziel, auf das Stierlin hinauswill, ist die "Selbstregulation".

Man sieht: Die systemische Therapie handelt mit Patentrezepten, deren Patent darin besteht, keine Rezepte anzubieten und dadurch den innerpsychischen Konflikt von einzelnen und den zwischenmenschlichen Konflikt von Familien im geschützten Raum der Behandlung zu erhöhen. Unter der doppelgesichtigen Maske des Januskopfes verbirgt sich angewandte, das heißt therapeutisch gewendete Dialektik. Klienten, die diese Absicht bemerken und als höhere Form der Bevormundung durchschauen, wird man ihre Verstimmung nicht verargen können.

Verstimmt ist aber auch der Leser über die Nachlässigkeit des Suhrkamp Verlages, dessen Lektoren sich im eigenen Haus nicht mehr auszukennen scheinen: Ein Buch des Philosophen Jacques Derrida, das im Literaturverzeichnis unter dem Titel "Die Sprache der Differenz" geführt wird, ist dort 1975 nicht erschienen (am nächsten kommt ihm der ein Jahr später veröffentlichte Sammelband "Die Schrift und die Differenz"); und der Herausgeber der kritischen Studienausgabe von Friedrich Nietzsches Schriften heißt nicht "Montenari", sondern Montinari. Rätselhaft ist auch, daß das im Text angeführte Erscheinungsjahr einer Monographie über Nietzsches Krankheit der Angabe in der Bibliographie widerspricht. Diese Unübersichtlichkeit ist bei aller therapeutischen Agilität zuviel der Identifikation mit dem Aggressor Postmoderne. MARTIN STINGELIN

Helm Stierlin: "Haltsuche in Haltlosigkeit". Grundfragen der systemischen Therapie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 229 S., br., 38,- DM.

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