offenbar unheilbaren Melancholikers", schließt Willemsen seinen Bericht, und man ist geneigt, hier einen Moment des Wiedererkennens zu vermuten.
Auch Big Roger begegnet uns, auf seinen Weltreisen zu den freien Radikalen unter den Zeitgenossen, zu Madonna und Margaret Thatcher, zu Dame Edna und dem Dalai Lama, als Melancholiker. Dabei spielt er noch einmal die Sprachmusik der großen Bildungsreisenden, draußen in der weiten Welt fällt ihm ein, was "Oken 1877" über den Pongo pygmaeus schreibt; in der Modeschöpferin Vivienne Westwood erkennt er "eine genaue Leserin der ,Dialektik der Aufklärung'"; und als er sich dem "Froschkopf" im "Pathologisch-Anatomischen Cabinet" der Berliner Charité nähert, zieht er Paracelsus und Joseph Vogl zu Rate. "Agent als Metapher", schießt es ihm in John le Carrés Landhaus durch den Kopf, und: "Hat nicht auch Robert Musil seinen ,Mann ohne Eigenschaften' eine Zeitlang ,Der Spion' nennen wollen?"
So begegnet der Leser in diesen Porträts dem Porträtierenden: ein souveräner Reisender zwischen Leben, Literatur und Glamour-Tratsch. Alles erscheint wie ein einziges großes Gespräch, mit den gedruckten Autoritäten der Wissenschaft wie mit den Stars des neuzeitlichen Medienbetriebs. Quincy Jones "verriet mir mal überraschend", daß Mick Jagger sein Leben lang Tina Turner sein wollte. "Als ich Eichinger auf Jean Seberg anspreche, wird er sofort weich." Eichinger wird weich, Peter Fonda aber bleibt cool, "als ich ihn später einmal nach der Szene frage" - wie Fonda nämlich der Seberg wegen Warren Beatty Prügel angedroht haben soll. Das alles ist eitel, aber nicht der Kern der Sache, sondern vielleicht bloß Ausdruck des Erstaunens, wie einer aus dem "Habitat" (ein Lieblingswort Willemsens) seiner Bücherstube so offenbar umstandslos in Gedankenaustausch mit echten Weltstars geraten kann, dem Fernsehen sei Dank. Es ist unbedingt amüsant, dem Interviewer dabei über die Schulter zu sehen, wie er Madonna in Verlegenheit bringt ("Haben Sie auch eine Botschaft an die Impotenten?"), man freut sich über funkelnde Vergleiche: "Da saß sie" - Margaret Thatcher - "streng und starr, wie einer Russenpuppe von Barbara Cartland entstiegen." Sehr komisch ist auch der Bericht von einer erotischen Bedrängnis, der sich der Tokio-Tourist in einer Hostess-Bar in Shinjuku nur entziehen kann, indem er ein Madonnenbildchen aus dem Portemonnaie zückt: "My girlfriend!".
Gern zeigt sich Willemsen den Zuschauern als Schiffbrüchiger, und bisweilen scheitert er nicht einmal grandios. Einem Melancholiker mag es nicht schwerfallen, davon zu erzählen. Denn letztlich geht es um anderes. "Dies ist die Geschichte einer Rührung", beginnt Willemsens Spurensuche im Fall der unglücklichen Jean Seberg. Harald Schmidts zeitweiliger Ausstieg aus dem Fernsehen sei von "nationaler Rührung begleitet" gewesen. Und im Gespräch mit dem bewunderten Michel Piccoli berührt er den Punkt, an dem vielleicht die Nervenbahnen dieses Buches zusammenlaufen: Der Schauspieler beklagt eine "Entwicklung von Kultur insgesamt, in der Rührung oder die Fähigkeit zu rühren immer schwächer wird". Manchmal, vor allem im Angesicht schöner Frauen, droht unseren Reisenden die Rührung auch zu übermannen: "Sie waren authentisch!" ruft er der Sängerin Sinead O'Connor zu, und in der Vergangenheitsform solch eines kühnen Satzes vibriert das begeisterte Bedauern des unrettbaren Melancholikers. Im Dschungel des Medienbetriebs ist er auf der Suche nach den letzten Rührungen der Kultur.
HOLGER NOLTZE
Roger Willemsen: "Gute Tage". Begegnungen mit Menschen und Orten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 416 S., geb., 19,90 [Euro].
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