zwischen den Protagonisten ist neben dem lyrischen Motiv des Mondes, der die Menschen und ihre Machenschaften bescheint, der Taxifahrer Matsui des auf Nachtfahrten spezialisierten Taxiunternehmens "Blackbird". Eine weitere zentrale Figur ist ein mysteriöser Fahrgast namens Shuro, der sich mal als Meisterdetektiv ausgibt, mal als Schauspieler, der einen Detektiv spielt. Er klappert die Kinos der Stadt ab, um als traurige Erinnerungsarbeit in leeren Nachtvorstellungen Filme seines Vaters, eines notorischen Nebenrollen-Schauspielers, zu verfolgen.
Raffiniert verwebt Yoshida die Suchbewegungen der im Lebenslabyrinth und in den Straßen Tokios verirrten Großstädter, die sich, indem sie einander ihre Verluste und Versäumnisse, aber auch Träume erzählen, ihrer "eigenen unbeständigen Spur" vergewissern. Dem klassischen Tokio bei Nacht mit 24-Stunden-Läden und All-night-Restaurants stehen Retro-Orte und Refugien gegenüber wie ein Krämerladen für gebrauchtes Werkzeug, der Dinge wie "Mondlichtverstärker" und unsichtbare Tinte feilbietet. Oder das von vier Frauen geführte Bistro "Drehkreuz", das neben Matsuis Taxi ein Dreh- und Angelpunkt ist für Nachtschwärmer.
Der an Filme wie "Night on Earth" erinnernde, mit filmischen Überblendungen arbeitende Roman ist selbst in "Filmkunstkreisen" angesiedelt: So spielt die Requisiteurin Mitsuki, die auch Material für Shuros Meisterdetektiv-Filme beschafft und Matsuis Stammkundin ist, eine wichtige Rolle. Yoshidas Roman um Antiquare und Requisiteure atmet die Magie von Trödel und Theaterluft auf der Suche nach der im Furor der Modernisierung Japans verlorenen Zeit.
Auch die Liebe, Bindungs- und Verlustängste der Großstädter und Japans "Trend zur späten Heirat" werden thematisiert, etwa, wenn ein nicht mehr abstreifbarer Ring, den Mitsuki von ihrem Freund, einem kauzigen Vogelliebhaber, geschenkt bekam, sie in Angst und Schrecken versetzt. Da wäre ferner die nachts für "Telefonseelsorge Tokio Null Drei" arbeitende Kanako, die selbst am Verlust ihres verschollenen Bruders knabbert. Auch taucht im unmerklich ins Surreale spielenden Roman eine in Trauerkleidung gewandete Telefon- und Sprachbox-Entsorgerin auf. Sie symbolisiert den Abschied vom analogen Japan und die wachsende Anonymität der digitalen Netzwerkgesellschaft.
Ein rekurrierendes (Traum-)Motiv ist das Laufen auf einem nicht enden wollenden Weg - Symbol für die Tretmühlen der Leistungsgesellschaft. Notausgänge aus existentiellen Irrgärten bieten neben Trösterinnen der Nacht wie den in Japan "Mama-san" genannten Barbesitzerinnen und Kanakos Telefonseelsorge das Antiquariat für gebrauchte Werkzeuge: Es steht für die Vision, den zweck- und pflichtengebundenen Dingen und Menschen eine neue Bestimmung zu geben: Der surreale Laden verkauft einzelne Treppenstufen wie die "letzte Stufe" vor dem ersten Stock als Trittbretter zur Erkenntnis oder Erfüllung eines Traums.
Yoshidas Figuren sind oft infantil, unreif und ihrer Jugend verhaftet. Im Tokio der unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten, in der Träumer und das Prekariat abgehängt sind, kann Weiterkommen aber auch Solidarität außerhalb des kapitalistischen Drehbuchs bedeuten oder Rückbesinnung auf die im Buddhismus gelehrte Verbundenheit aller Geschöpfe.
Die Helden des Romans lernen, dass Weiterkommen auch Innehalten und Neujustieren der Stellschrauben des Schicksals bedeuten kann. Die Abschiedserzählung vom Moratorium der Jugend zeigt, dass sich Glück weder festhalten noch erzwingen lässt. Doch auch im Großstadtdschungel, über den die "trüben Sterne von Tokio" wachen, eröffnen sich Transitzonen des Glücks: "Gute Nacht, Tokio" ist eine zarte Ode auf die Rätsel, Tücken und Frustrationstoleranzen, aber auch unerwarteten Glücksmomente des Lebens. Zugleich taugt der Roman als Ratgeberliteratur und Traumerfüllungsfibel. STEFFEN GNAM
Atsuhiro Yoshida: "Gute Nacht, Tokio". Roman.
Aus dem Japanischen von Katja Busson. Cass Verlag, Bad Berka 2022. 191 S., geb., 22,- Euro.
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