Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170768
  • ISBN-10: 3932170768
  • Artikelnr.: 14159861
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Krankheit der Jugend
Camille de Toledo sucht Therapien für seinen Globalisierungsweltschmerz / Von Claudius Seidl

Als alles anfing, war Camille de Toledo sehr krank, er fühlte sich zumindest so, er spürte etwas, das er das "Asthma der Seele" nannte, ein Gefühl der Angst, der Atemnot und der Beklemmung in dieser globalisierten Welt, welche, so kam es dem Patienten jedenfalls vor, kein Außen mehr kennt, kein Jenseits, kein Gegenüber. Er wußte aber, daß er, wenn er das Seelenasthma kurieren wollte, trotzdem hinausmußte, an die frische Luft, und weil er den Weg nicht alleine fand, hat er die besten Therapeuten aufgesucht, die Professoren Deleuze und Guattari, den Doktor Foucault, auch Scharlatane wie den Anarchisten Hakim Bey und Naturheilkundler wie die deutschen Romantiker des frühen neunzehnten Jahrhunderts.

Ob Toledo am Schluß geheilt war, oder ob er nur ein wenig Linderung erfuhr, das wird nicht ganz klar aus seinem Krankheitsprotokoll, welches er in Frankreich vor zwei Jahren unter dem seltsamen Titel "Archimondain Jollipunk" veröffentlichte und das jetzt den schönen deutschen Titel "Goodbye Tristesse" trägt - und womöglich ist das ja auch weniger wichtig als die Wirkung, welche das Buch auf seine Leser haben möchte. Es ist wohl, um bei den medizinischen Begriffen zu bleiben, auch als eine Art von Impfung gedacht; man fängt sich bei der Lektüre das Seelenasthma selber ein, man spürt die Beklemmung, wird von den Panikattacken erfaßt, damit man gestärkt und vielleicht sogar immun daraus hervorgehe, und insofern sind jene Passagen, in welchen das Lesen zur Qual wird und der Autor zu einer Nervensäge, der man nur noch zurufen möchte: "Komm endlich zur Sache, Mann!", kein Beleg für das Scheitern. So eine Therapie muß ja auch mal wehtun.

Daß Frankreich sich so sehr für diesen Autor interessierte, lag aber nicht bloß daran, wie heftig Toledo an der Welt litt und noch immer leidet. Es lag auch am Nachwort, in welchem sich der junge Mann (als das Buch herauskam, war er sechsundzwanzig) als den mißratenen Sohn einer prominenten Industriellenfamilie vorstellte, und weil der Text andauernd schillert zwischen Pamphlet, Theorie und Autobiographie, mobilisiert er naturgemäß auch voyeuristische Instinkte, womit Toledo sich nicht unbedingt immer einen Gefallen tut. Von seinem tief empfundenen Leiden am herrschenden System, so möchte man ihm immer wieder raten, soll er, der verwöhnte Sohn reicher Eltern, doch mal jenen Leuten berichten, deren Problem mit dem Kapitalismus eher darin besteht, daß sie keine bezahlte Arbeit haben oder der Lohn nicht für die Miete reicht.

Aber andererseits sind natürlich die Sehnsucht nach einer Welt, die sich nicht bloß in Wachstumskurven abbilden läßt, das Bedürfnis nach einem Gespräch, bei dem einem nicht ständig die Volkswirte dazwischenquatschen, der dringende Wunsch nach einem Glück, von welchem der herrschende ökonomische Diskurs keinen Begriff und keine Vorstellung hat, absolut legitim. Ohne das Recht der Jugend, das Ganze für das Falsche zu halten, wäre die Literaturgeschichte sehr viel ärmer - und als Literatur sollte "Goodbye Tristesse" auch gelesen werden: nicht nur in jenen Passagen, wo man sich fragt, ob Toledo noch alle Metaphern beisammen habe, bis man merkt, daß die Prosa längst in der Fiktion angekommen ist, einer Fiktion allerdings, welche die Furcht des Autors, an der Wirklichkeit zu ersticken, ziemlich genau dokumentiert; nicht nur in jenen Passagen, wo Toledo sich mit enormem sprachlichen Aufwand einen Weg in Richtung draußen bahnt und gar nicht zu bemerken scheint, daß man links und rechts von seinem Weg noch die Spuren erkennen kann, die, nur zum Beispiel, Antonio Gramsci oder Pier Paolo Pasolini bei der gleichen Suche hinterlassen haben. Wogegen ja auch nichts einzuwenden ist; die Landkarte, auf welcher der Weg nach draußen verzeichnet ist, kann anscheinend nicht vererbt werden, die muß wohl jede Generation aufs neue anfertigen.

Daß man Toledos Prosa als Literatur lesen sollte, liegt aber vor allem daran, daß Toledo sein Außen, sein Jenseits, während er noch mit (zum Teil eher kindischen und naiven) Argumenten darum ringt, bis er, als seine Lösung, eine "Romantik der offenen Augen" präsentiert - daß er dieses Außen von Anfang an gefunden hat: in seiner Sprache, die sich der Verfügbarkeit und Leichtverständlichkeit konsequent verweigert: "Meine Seele hat Asthma", so geht es los, und so aufgeregt, so subjektiv und manchmal fast hysterisch geht es weiter, tief hinein in den eigenen Kopf, die eigenen Gefühle und Erinnerungen und schnell wieder weit hinaus, nach Mexiko, in den Dschungel, wo Subcommandante Marcos den "Don Quichotte" auf seinem Nachtisch liegen hat, und zurück in jenes Denken, welches Rainald Goetz einmal "französelnd" genannt hat, und vermutlich liest sich das auf französisch geschmeidiger als im Deutschen, wo die Begriffe der Anschauung und die Abstraktionen sich viel deutlicher unterscheiden und entsprechend härter aufeinanderkrachen. Aber sollte Camille de Toledo sich gelegentlich fragen, ob auch er in der Gefahr sei, vom falschen Ganzen vereinnahmt zu werden, dann kann man ihm nur antworten: Nein, Monsieur, seien Sie beruhigt, so schnell schießt der Kapitalismus nicht.

Und genau da liegt die größte Schwäche dieses Buchs, das viel rhetorischen Aufwand betreibt, um immer wieder zu beklagen, daß alles, wirklich alles, was in der Kunst und in der Populärkultur einst rebellisch, widerständig, böse war, längst aufgefressen worden sei, weichgekaut und dann wieder ausgespuckt, zum freundlichen Gebrauch in der Apple-Werbung oder in Management-Seminaren. Aber nein, Monsieur, möchte man da antworten, auch auf Ihrem Buch klebt doch ein Preisschild. Und daß man sich gegen die totale Vereinnahmung schon dadurch schützt, daß man die Gebrauchsanleitungen erstmal in den Papierkorb wirft, dann den Laustärkeregler ganz nach oben schiebt und schaut, was danach passiert, das lehrt die Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte, die Toledo jetzt endlich nachbüffeln muß.

Camille de Toledo: "Goodbye Tristesse". Bekenntnisse eines unbequemen Zeitgenossen. Aus dem Französischen von Jana Hensel. Tropen-Verlag, Berlin 2005. 191 S., geb., 18,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Sascha Michel findet die Kapitalismuskritik, die Camille des Toledo im vorliegenden Buch ausbreitet, zwar durchaus bedenkenswert, am Ende aber erscheint sie ihm allzu "harmlos und naiv", als dass er damit etwas anfangen könnte. Toledo, der für eine "Romantik mit offenen Augen" plädiert, richtet seine Kritik an die "Hässlichkeit und Leere kapitalistischer Lebenswelten", erklärt der Rezensent, weshalb er keine "konzisen Analysen" der Verhältnisse bietet, sondern vielmehr sein Augenmerk auf die "Evidenz typologischer" Erscheinungen lenkt. Michel gefällt, dass der französische Autor auch die "eigene Verstrickung" in das kapitalistische System zu erkennen vermag und so vor einem "blinden Romantizismus" geschützt ist. Die aktuelle Relevanz des Buches sieht der Rezensent darin, dass Toledo die Beteiligung der "Linken" am herrschenden Kapitalismus aufzeigt und ihre revolutionären Projekte zu Grabe trägt. Allerdings kann er sich bereits mit der Ausgangsthese, der Kapitalismus lasse kein "Außerhalb" zu, nicht anfreunden und meint, dass Toledos "totalisierende Kritik" bereits hier "in sich widersprüchlich" ist. Auch stört ihn, dass diese rein "ästhetische Kritik", indem sie sich weigert, Analysen der "gesellschaftlichen Widersprüche" mit einzubeziehen, wirkungslos bleibt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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