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Wir alle haben irgendwo im letzten Winkel unserer Wohnung eine durch den Zufall kuratierte Sammlung von Gegenständen, von denen wir uns, willentlich oder nicht, nie getrennt haben. Vielleicht sind gerade sie es, die die ehrliche Geschichte über unser Leben erzählen.
Als Jarvis Cocker sich daran macht, seinen Dachboden aufzuräumen, stößt er auf ein kaum zu überschauendes Durcheinander von Gegenständen, die alle mit einem Moment seines Lebens verknüpft sind, und die merkwürdige Fragen aufwerfen: Wer glaubst du, zu sein? Was bedeutet dir Kleidung? Und wieso liegen hier oben so viele kaputte…mehr

Produktbeschreibung
Wir alle haben irgendwo im letzten Winkel unserer Wohnung eine durch den Zufall kuratierte Sammlung von Gegenständen, von denen wir uns, willentlich oder nicht, nie getrennt haben. Vielleicht sind gerade sie es, die die ehrliche Geschichte über unser Leben erzählen.

Als Jarvis Cocker sich daran macht, seinen Dachboden aufzuräumen, stößt er auf ein kaum zu überschauendes Durcheinander von Gegenständen, die alle mit einem Moment seines Lebens verknüpft sind, und die merkwürdige Fragen aufwerfen: Wer glaubst du, zu sein? Was bedeutet dir Kleidung? Und wieso liegen hier oben so viele kaputte Brillen?

Fotos, Eintrittskarten, ein orange-grünes Polyesterhemd, halbvolle Kaugummiverpackungen, alte Magazine und angefangene Notizbücher - Jarvis beginnt zu sortieren. Und er beginnt, sich zu erinnern. An eine Jugend im Sheffield der 70er, den naiven Traum, Popstar zu werden, an die Schule und an Jobs, und an eine Erfolgsgeschichte, die ihn zu einem stilbildenden Musiker der goldenen Britpop-Ära machen wird.

Das Ergebnis dieser literarischen Inventur ist eine anrührende, unterhaltsame und fesselnde Geschichte der Popkultur des 20. Jahrhunderts und die Betrachtung eines einzigartigen Lebens, seiner Glanzpunkte und der Momente, die man lieber auf dem Dachboden vergessen hätte.
Autorenporträt
Jarvis Cocker, geboren 1963, gründete als Teenager in Sheffield die Britpop-Band Pulp - mit dem festen Vorhaben, Popstar zu werden. Nach mehreren Welthits in den 1990er Jahren ist er bis heute ein gefragter Musiker und Songschreiber. Er hat eine legendäre BBC-Show, war Herausgeber beim renommierten Verlag Faber & Faber und spielte eine Rolle in Harry Potter und der Feuerkelch. Er lebt in London, Paris und Nordengland. Harriet Fricke, geboren 1968, lebt in Hamburg und hat u. a. die Autobiografien von Brian Wilson, Debbie Harry, Elton John und Michelle Obama (teils im Team) übersetzt. Ingo Herzke, geboren 1966, lebt in Hamburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Alan Bennett, A. M. Homes, Bret Easton Ellis, A. L. Kennedy und Gary Shteyngart.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2022

Disco 2022
Kunstfasern, Kragenstäbchen und der
Masterplan für die Weltherrschaft der Band „Pulp“:
Die Autobiografie von Jarvis Cocker ist ein großes
poparchäologisches Vergnügen
VON PETER RICHTER
Da streunt man eines schönen Sommertages bisschen durch das Londoner Viertel Marylebone, wo es heute eigentlich nur noch Milliardäre und deren Baristas zu betrachten gibt, die allerdings kaum voneinander zu unterscheiden sind. Dann tut sich auf einmal der Boden auf, und man stürzt in einen Nachbau des Kinderzimmers von Jarvis Cocker: Stahlstadt Sheffield, kunstfaserigste Siebzigerjahre und natürlich in jeder Hinsicht „The North“, wie es auf den Autobahnschildern Englands immer so schön heißt, wo das ja weniger eine rein geografische als vielmehr immer auch eine soziale und kulturelle Richtungsangabe, wenn nicht gar Diagnose darstellt. Und das nun also mitten in „The South“, wo der einerseits posher nicht sein könnte, und wo andererseits aber die rührende kleine „Gallery of Everything“ in der Chiltern Street diesen Sommer für ein paar Wochen der Brunnen war, durch den man eben staunend ins Wunderland von Jarvis Cockers Kindheit fallen konnte (nahezu buchstäblich übrigens, nämlich über eine irre steile Kellertreppe).
Jarvis Cocker? Sagt der Name auch Jüngeren noch was? Wissen zum Beispiel all diese milchschaumbärtigen Baristas von Marylebone mit ihrem Milliardärsgehabe überhaupt, wen sie da unter sich haben? Es ist ja nicht so, dass der Mann nicht mehr tätig wäre. Im Gegenteil, ständig erscheinen neue Soloplatten, Kooperationen mit Künstlern wie Chilly Gonzalez oder Aufnahmen seiner preisgekrönten Radiosendungen bei der BBC: Wer einst wegen seiner Band Pulp ein Bewunderer von Jarvis Cocker geworden ist, wird auch seit deren Auflösung noch reichhaltig bedient. Aber die großen Pulp-Erfolge, dieser Tatsache muss man mal so kalt ins Auge sehen, sind jetzt auch schon wieder ein Vierteljahrhundert her. Da wurde es mit anderen Worten allmählich mal Zeit für eine Retrospektive.
Nun war von einem wie Jarvis Cocker von vornherein nicht zu erwarten, dass er seine Autobiografie so angehen würde wie all die Musiker, die ihre Ghostwriter im Wesentlichen dazu anhalten, dem Sex, Drugs & Rock’n’Roll-Standardwerk „The Dirt“ über die Band Mötley Crüe von Neil Strauss hinterherzuschreiben. Cockers Referenzbuch war offensichtlich eher die „Geschichte der Welt in 100 Objekten“ von Neil MacGregor, dem einstigen Direktor des British Museum. Pop im Sinne von „populär“ ist dieser Ansatz aber natürlich auch, denn diese Art von Objektgeschichten sind seit einiger Zeit ja ein boomendes Genre auf dem Sachbuchmarkt.
Wer sich in seiner Erzählung an Objekten entlanghangelt, kann die auch ausstellen und den ganzen Kram, der sich während so einer Prä-Popstar-Jugend im rauen Norden angesammelt hat, nun triumphierend in die feine Chiltern Street von Marylebone kippen. „Good Pop, Bad Pop“ hieß die Ausstellung zum Buch, und seit die leider vorbei ist, bleibt der Welt nur noch das schöne Buch zur Ausstellung, das ebenfalls „Good Pop, Bad Pop“ heißt. Und dieses betont laue Wortspiel bezieht sich auf das literarische Verfahren.
Cocker hat nämlich irgendwann seinen Dachspeicher ausgemistet, jedenfalls lautet so die Behauptung, und dann sortiert, was behalten werden muss und was wegkann. Eine Packung Wrigley’s-Kaugummi aus der Kindheit fällt ihm so in die Hände und wird vorm Wegwerfen noch kurz wie eine Proust’sche Madeleine in den Tee der Erinnerung getunkt. Dann ein Aufnäher, der ihn als Anhänger des englischen Pop-Soziophänomens Northern Soul identifizierte. Oder eine Packung Hemdkragenverstärker aus Plastik. Später wird es noch ausführlicher darum gehen, dass auch die Hemden selbst wesentlich aus Plastik bestehen mussten. Das Synthetische der Dinge, die man am Körper trug, spielte eine mindestens so große Rolle wie die Klänge der Synthesizer, die später seine Mitstreiterin Candida Doyle bei Pulp spielen würde. Schon auf den allerersten Seiten begegnet man einem Schulheft, in das Cocker detaillierte Pläne für die „Pulp Fashion“, also das modische Outfit seiner noch zu gründenden Band, niedergeschrieben hat.
Der Sinn für die „Looks“ war der Musik wie so oft vorgängig, auch der Sinn dafür, irgendwie „off“ zu sein, ungewöhnlich, andersartig. Schon „Jarvis Cocker“ zu heißen, war für Jarvis Cocker eine Pein, von der er sich erst erlöst fühlte, als die Punks aufkamen, die sich Namen wie Johnny Rotten oder Johnny Moped gaben, während er seinem Gefühl nach so einen Punk-Namen schon von Geburt an trug. Ein frühes Foto zeigt den kurzhosigen Schlaks als einziges männliches zwischen lauter weiblichen Wesen – Großmutter, Mutter, Tanten, Schwestern. Der Vater hatte die Familie verlassen und lebte in Australien.
Mehr als nur ein Ersatz kommt in sein Leben, als sich die Mutter bei einem Urlaub auf Ibiza in den Hamburger Tauchlehrer Horst Hohenstein verliebt und dieser dem sehnsüchtigen Jungen zu Weihnachten eine halbelektrische Gitarre aus Deutschland mitbringt – ein Geschenk, das in die Geschichte der britischen Popmusik eingehen sollte. Denn nun kam zu den Aspekten von Look und Habitus endlich auch der musikalische, und wenn man weiß, was folgte, ist es beinahe gespenstisch, nun den „The Pulp Masterplan“ zu sehen, den Cocker schon als 15-jähriger Schüler mit linksgeneigter Schreibschrift aufs linierte Papier gebracht hat: Die Gruppe möge sich ihren Weg ins Musikgeschäft durch die Produktion von „fairly conventional, yet slightly off-beat, pop-songs“ bahnen, Erfolg haben und dann an der „Restrukturierung“ von sowohl Musikgeschäft als auch der Musik selbst arbeiten.
Es wird dann noch viele, viele Jahre – und in diesem Buch bedeutet das: Fundsachen, Fotos, Anekdoten – dauern, bis es so weit ist. Die ganzen Achtziger, die Thatcher-Ära, sind ein einziges Durchwursteln, bis schließlich diese benzinpfützenartig schillernden Meisterwerke entstanden, mit denen Pulp dann in den Neunzigern auf die Zielgerade zu Durchbruch und Welterfolg einbiegen würden. Cocker beendet seinen Rückblick konsequenterweise da, wo „Common People“ entsteht, sein größter Hit, das Lied, das vielleicht am konsequentesten die Formel umsetzt, mit der Cocker seinen Masterplan für Pulp musikästhetisch und inhaltlich unterfüttert hatte: „Scott + Barry + Eurodisco + Gritty Northern Realism = The Future“. Wenig später brüllten die Zehntausenden beim Glastonbury Festival schon wie besessen die Zeilen: „She came from Greece and had a thirst for knowledge …“
Der ungeschminkte Sozialrealismus des Nordens, der hier also Kombination mit dem Schmelz von Croonern wie Scott Walker und Barry White sowie kühlen, geradlinigen Disco-Beats zur Blüte kam, galt einer kontinentaleuropäischen Champagner-Linken auf Authentizitätssafari durch Englands Klassengesellschaft. Und so etwas stößt natürlich in Sheffield genauso auf Resonanz wie in Marylebone.
Wie es irgendwann hieß, könnte die spätere Frau des griechischen Motorradministers Varoufakis Anlassgeberin des Stücks gewesen sein. Aber die kann sich eigentlich nicht beschweren: Mit Cockers elegantem Sarkasmus war sie noch ganz gut weggekommen; man stelle sich mal vor, sie wäre stattdessen den Sleaford Mods in die Hände gefallen. Jedenfalls weiß spätestens von da an jeder selbst, wie die Geschichte von Jarvis Cocker weiterging: Superstar-Status und Ruf als singende Intellektuellenbrille des sogenannten Britpop.
Dabei bringt Cocker selbst das „B-Wort“ bis heute nicht über die Lippen. Und zwar aus purer Verachtung: Erst habe man ja noch gedacht, da geschehe etwas einigermaßen Interessantes, leicht Linkslastiges im Mainstream. „Aber dann wurde es von Tony Blair gekapert, und ein paar Jahre später hast du Geri Halliwell in einem Minikleid mit dem Union Jack drauf. Dann passiert unglücklicherweise noch Robbie Williams, und du weißt, jetzt ist alles vorbei.“
Diese bemerkenswerten Aussagen traf Cocker allerdings nicht in seiner Autobiografie, sondern im Gespräch mit einem Autor des Gratismagazins der Supermarktkette Waitrose & Partners, also zwischen Keks- und Cocktail-Empfehlungen. Dass er sein Buch selbst dort vermarktet, entspricht natürlich auch schon wieder ganz hinreißend der Strategie, grimmigen Sozialrealismus mit Puderzucker zu glasieren.
„Please do not read the lyrics whilst listening to the recordings“, befahl einst das Kleingedruckte auf den Pulp-Platten. Aber vielleicht, wer weiß, würde es Jarvis Cocker ja genehmigen, zu „Common People“ ein wenig in so einem Waitrose-Werbeblättchen zu blättern, während er „I took her to a supermarket“ sowie „Pretend you’ve got no money“ haucht. Und zu so knisternden Stücken wie „Acrylic Afternoons“, „Underwear“ oder „Disco 2000“ vielleicht sogar auch in „Good Pop, Bad Pop“ mit seinen vielen Fotos von erstaunlichen Textilien und ambitionierten Provinz-Tanzdielen, mit seinen charmanten Plaudereien und seinen absolut zwingenden Rezepten für alle, die auch schon mal mit dem Kopf auf der Schulbank von der Eroberung der Weltherrschaft mit einer Gitarre geträumt haben. Ab Oktober soll es zu diesem Zweck, bei Kiepenheuer & Witsch, sogar eine deutsche Ausgabe geben.
„Jarvis Cocker“ zu heißen, war
eine Pein, bis sich die Punks
Namen wie Johnny Rotten gaben
„Dann passiert noch
Robbie Williams, und du weißt,
jetzt ist alles vorbei“
Jarvis Cocker: Good Pop, Bad Pop – An Inventory. Jonathan Cape/Penguin, London 2022. 368 Seiten, 22 Euro.
Die Formel lautet: Scott + Barry + Eurodisco + Gritty Northern Realism = The Future. Jarvis Cocker 2022.
Foto: Daniel Cohen/Rough Trade Records
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Kai Spanke mahnt zunächst zur Vorsicht dabei, was man Jarvis Cocker alles glauben sollte - denn in seiner Quasi-Biografie, die sich an skurrilen Gegenständen auf seinem Dachboden entlanghangelt, gehe der Pulp-Gründer recht frei mit Fakten um. So sei etwa seine Sehschwäche nicht, wie er laut eigener Angabe sein ganzes Leben lang erzählt habe, auf eine Hirnhautentzündung im Kindesalter zurückzuführen, wie Cocker im Buch selbst zugibt. Trotz solcher "Schlenker" liest der Kritiker aber gerne, welche Geschichten sich an Cockers Dachboden-"Zeug" (der Begriff scheint Spanke dann doch angemessen) wie kaputten Brillen, Kaugummipackungen, Spielzeug oder einem Gebissabdruck entspinnen - über Cockers Kindheit, aber auch die Anfänge des Projekts Pulp: Fasziniert vollzieht der Kritiker etwa an einem alten Notizbuch des Musikers nach, wie dieser die Philosophie und den Kleidungsstil der Band bereits mit 15 Jahren entwarf. Das Buch ist weniger Biografie als "poparchäologisches Projekt", das den Kritiker mit "selbstironischem Charme" für sich einnimmt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2022

Pop mit Masterplan

Musik ist bloß organisierter Krach: Jarvis Cocker, Gründer der Band Pulp, entrümpelt seinen Dachboden, erzählt von seinem Leben und hangelt sich dabei an interessanten und skurrilen Objekten entlang.

Bei dieser Lektüre ist Vorsicht geboten. Es könnte alles genauso gewesen sein wie geschildert. Womöglich haben sich aber auch einige dramaturgisch bedingte Schlenker eingeschlichen, und zwar ohne Rücksicht auf die Fakten. Jarvis Cocker, Musiker, Radiomoderator, Sänger und einziges dauerhaftes Mitglied der englischen Band Pulp, ist da ganz offen und weist selbst auf das Problem hin. Seine Familie habe immer gescherzt, er erinnere sich nicht an wichtige Lebensereignisse, könne allerdings sagen, wer die ersten Spider-Man-Comics gezeichnet oder in der Fernsehserie aus den Sechzigerjahren Batman gespielt hat.

Einmal behauptet er, seine Sehkraft sei infolge einer Hirnhautentzündung zurückgegangen, als er noch ein Kind war. Dann reicht er gleich nach, er habe das zumindest sein Leben lang erzählt: "Beinahe eine Heldengeschichte. & sie ist absolut wahr. Bis auf ein sehr wichtiges Detail. Das ist nicht der Grund, warum ich eine Brille trage." Seine Mutter habe ihn einmal darauf hingewiesen, dass er vor dem Krankenhausaufenthalt schon Brillenträger gewesen sei - und das auch mit einem Foto bewiesen. "Wenn ich selbst meine Lebensgeschichte nicht kenne", fragt Cocker, "wer dann?" Er nutzt diesen Exkurs wohlgemerkt nicht, um einen Freifahrtschein für beliebiges Fabulieren zu lösen, sondern um zur nächsten Frage überzuleiten: Was folgt aus dem Umstand, dass er die ersten fünf Jahre seines Lebens "in dichtem Nebel verbracht" hat?

Eine konkrete Antwort bleibt er zum Glück schuldig, lieber lässt er Revue passieren, wie er Leonard Cohen im Jahr 2012 interviewte, der seinerseits ebenfalls mit Antworten geizte. Er mochte sich nämlich nicht dazu äußern, wie Songs entstehen, und mahnte: "Das ist ein wirklich geheimnisvolles & einigermaßen gefährliches Gebiet, in das wir da vordringen." Ein Zauberkünstler verrät Cocker zufolge auch nicht seine Tricks. Wer den Schaffensprozess offenlegt, fürchte häufig "schöpferische Impotenz", besser ein saftiges Je-ne-sais-quoi als Einblicke in die Alchemie des Komponierens. Immerhin lässt uns der Autor wissen, worum es sich handelt, wenn man Gitarre, Schlagzeug, Bass, Keyboard und Gesang in eine Form bringt, die aus Strophen und Refrains besteht: "Musik ist bloß organisierter Krach."

"Good Pop, Bad Pop" funktioniert an keiner Stelle als Autobiographie im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um ein poparchäologisches Projekt, das am Zeitstrahl von Cockers Leben entlangführt und Mitte der Achtzigerjahre endet. Erfolgreich wurde Pulp allerdings erst 1995 mit dem Album "Different Class" und der Single "Common People". Der stilvoll sarkastische, sich hymnisch hochzwirbelnde Song über Angehörige der Oberschicht, die im Gewöhnlichen besonderen Glamour zu entdecken meinen, atmet den an Barry White, Scott Walker, Velvet Underground und den Beatles geschulten Signature-Sound der Band. Eleganter als Blur, cooler als Oasis und mit dem Pulp-Album "This Is Hardcore" von 1998 wohl der Höhepunkt dessen, was Britpop sein konnte.

Leser, die vor allem an der Hitphase der Band interessiert sind, werden sich allerdings nicht langweilen, weil der 1963 geborene Autor mit selbstironischem Charme durch seine wilde Sammlung von Gegenständen führt. Sie lagern auf einem Dachboden, der im Laufe der Lektüre ausgemistet wird. Cocker betrachtet gemeinsam mit uns einzelne Objekte, vergegenwärtigt sich deren Bedeutung, rekapituliert Stationen seiner Biographie und stellt jedes Mal die Frage: "Keep or Cob?" In seiner Heimatstadt Sheffield ist "Cob" ein Dialektausdruck der so viel bedeutet wie "wegschmeißen". Sag mir, was du hortest, und ich sage dir, wer du bist.

Es geht also darum, eine betont subjektiv kuratierte Ordnung der Dinge herzustellen. Wer nun verstaubte Instrumente, Verstärker, Plektren und goldene Schallplatten erwartet, wird enttäuscht. Eine Gitarre jedoch - herangeschafft von dem deutschen Tauchlehrer Horst Hohenstein, den sich Cockers Mutter auf Ibiza angelachte - bekommt eine kleine Hauptrolle, weil mit ihr die ersten Pulp-Songs Form angenommen hatten. Interessanter ist der Rest: Spielzeug und Hemden, ein Weltempfänger und ein batteriebetriebenes Blechmodell der Mondlandefähre von Apollo 11, ein Gebissabdruck des Autors und lädierte Brillen (Cocker ist ein notorischer Brillenkaputtmacher), jede Menge Notizen und eine Packung Wrigley's Extra (aus der Zeit, als die Kaugummis noch in Streifen-, nicht in Drageeform verkauft wurden), Plastiktüten (hat Cocker immer dabei), die Nachbildung der Handtasche von Margaret Thatcher (schlechter Pop) und ein Ticket für die John Peel Roadshow in Sheffield. Daneben ist zu lesen: "Diese Eintrittskarte hat mein Leben verändert." Sodann: "Dies ist eine Reliquie." Der Radiomoderator war von 1967 bis 2004 regelmäßig bei der BBC auf Sendung und hat Rock-, Punk- und Independentsongs präsentiert. Er ist Cockers "größter musikalischer Einfluss".

An den Roadshow-Abenden legte Peel für sein Publikum stundenlang Platten auf, "ihn zu unterbrechen kam überhaupt nicht infrage". Doch Cocker musste etwas loswerden, eine Kassette mit vier Pulp-Songs, die die Band - zu diesem Zeitpunkt noch Schuljungen - unter Rumpelbedingungen aufgenommen hatte. Peel verlässt das Podium, der junge Jarvis steckt ihm das Demotape zu. Eine Woche später dann der Anruf. Chris Lycett, Peels Produzent. Ob man Lust habe, nach London zu reisen, um eine Radiosession aufzunehmen: "Ich weiß, es klingt abgedroschen, aber ich fühlte mich, als wäre ich gestorben & im Himmel wieder aufgewacht."

Das Verfahren, anhand von, man wird das so sagen dürfen, Zeug eine Geschichte zu erzählen, ist inzwischen ein eigenes Genre auf dem Sachbuchmarkt und deswegen so attraktiv, weil bestimmte Gegenstände den proustschen Madeleine-Taumel auslösen und eine verschüttete Schicht der Erinnerung freilegen können. Bei der Lektüre realisiert man allmählich, dass Cocker trotz der überzeugend vorgebrachten Beteuerung, er werde nichts über sein Songwriting preisgeben, fortwährend die Suche nach dem kreativen Prozess beschreibt. Dessen Stationen, Sackgassen und Glanzmomente werden anhand ausgewählter Dinge sichtbar. Vermutlich hätte eine andere Zusammenstellung zu einer anderen Geschichte geführt.

Überraschend ist, dass Cocker schon mit fünfzehn Jahren wusste, worauf es bei ihm ästhetisch hinauslaufen sollte. In einem Heft notiert er, wie er sich die "Pulp-Garderobe" vorstellt: "Dufflecoats (am besten blau oder schwarz). Pullover mit rundem Ausschnitt (die 'ranzigen' C&A-mäßigen, oder aus Wolle oder Baumwolle). Grellfarbige (am besten Neonfarben) T-Shirts und Sweatshirts, am besten mit abstrakten Designs bedruckt." Dazu Jacken von Oxfam und Röhrenhosen. Auch einen "Pulp-Masterplan" gab es damals. Die Band solle die Musikindustrie erobern, um sie anschließend zu unterwandern und umzuwandeln. Schriftzüge wurden genauso ausprobiert wie Plattencover. Die Philosophie der Gruppe: "Aus dem, was andere wegwerfen, etwas Neues machen." Das klingt chaotisch und überraschend, bescheiden und experimentell - also nach gutem Pop. KAI SPANKE

Jarvis Cocker: "Good Pop, Bad Pop". Die Dinge meines Lebens.

Aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022. 400 S., Abb., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Cocker erzählt hier nicht nur seine eigene (Punkrock-)Sozialisation, sondern auch eine universelle Coming-of-Age-Geschichte, in der sich jeder, der noch ein wenig Jugend im Herzen hat, wiederfinden kann.« Philip Dulle Profil 20230127