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Produktdetails
  • Verlag: Carl Friedrich von Siemens Stiftung
  • Seitenzahl: 102
  • Erscheinungstermin: 4. Dezember 2016
  • Deutsch
  • Abmessung: 24cm x 12.5cm
  • Gewicht: 167g
  • ISBN-13: 9783938593271
  • ISBN-10: 393859327X
  • Artikelnr.: 47272846
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2017

Das ganze wunderbare Gewebe
Erziehung des Lesergeschlechts: David Wellbery erschließt Goethes "Faust" aus unerkannten Quellen

Kennst du den Faust? Welcher Leser wird diese Frage nicht bejahen? Der Faust ist, was vom Kanon übrig blieb; jedenfalls Goethes Bearbeitung des Stoffes und von dieser der Tragödie erster Teil. Ein Wunder ist es dann, wenn in einer Studie zu "Faust I" Neues beigebracht werden kann, und zwar in Gestalt von Altem, das man, solange Goethes Faust-Drama gelesen wird, schon hätte mitlesen können: Referenztexte, auf die sich Goethe an bestimmten Stellen so offensichtlich bezieht, dass man sie zum Verständnis dieser Stellen künftig immer heranziehen wird. Das Wunder ereignete sich vor anderthalb Jahren in der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung in einem Vortrag des Germanisten David Wellbery aus Chicago, der als Broschüre vorliegt und kostenlos über die Stiftung bezogen werden kann (David E. Wellbery: "Goethes Faust I". Reflexion der tragischen Form. Carl Friedrich von Siemens Stiftung: Themen, Band 102. 100 S.).

Intertextualität interessiert Wellbery als Signal von Selbstreflexivität. Bei Goethe wird die Tragödie sich selbst thematisch. Verweise auf zwei Sorten von Texten erweisen sich als eingebaute Spiegel. Da sind Schriften zur ästhetischen Theorie von zeitgenössischen Gesprächspartnern Goethes, die im Sinne von Dieter Henrich die Konstellation der Faust-Dichtung erschließen. Und da sind die Klassiker. In der Szene "Wald und Höhle" dankt Faust dem Erdgeist dafür, dass sich ihm in der Höhle "Wunder" der "eignen Brust" öffnen. Dort "schweben" ihm "von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch, / der Vorwelt silberne Gestalten auf, / und lindern der Betrachtung strenge Lust". Wer sind die Gestalten der Vorwelt? Wellbery zitiert aus der Abhandlung "Über die bildende Nachahmung des Schönen" von Karl Philipp Moritz die Schilderung, wie "in dem zum ersten Mal in sich versunkenen Menschen der Sinn für die umgebende Natur" erwacht: "Dann steigt in seinen ruhigsten Momenten die Geschichte der Vorwelt, das ganze wunderbare Gewebe des Menschenlebens in allen seinen Zweigen vor ihm auf."

Hinter Faust taucht schon am Anfang des Stücks, in der Szene "Vor dem Tor", in der Faust und Wagner mit dem Volk in die Natur hinausspazieren, eine Gestalt der Vorwelt auf, der Held der berühmtesten antiken Tragödie: König Ödipus. Das verbindende Element ist die Pest. Sophokles lässt sein Drama damit beginnen, dass ein Priester sich im Namen des Volkes an Ödipus wendet, von dem die Rettung aus der in der Stadt grassierenden Seuche erhofft wird. Goethe lässt einen "alten Bauern" Faust einen "Erquickungs-Trank" reichen, weil er ins Gedächtnis des Volkes als erfolgreicher Pestdoktor eingegangen ist. Faust klärt Wagner über die Wahrheit hinter dieser Legende auf: Die Mittel, die sein Vater, der ihn in der Alchemie unterwies, und er verabreichten, waren "weit schlimmer als die Pest". Faust hat überlebt und "muss erleben, / dass man die frechen Mörder lobt". Was dem Protagonisten der antiken Tragödie erst an deren Ende aufgeht, ist Faust von Anfang an bewusst: dass er ein Mörder ist. Als er in der Höhle seine "unruhige Wirksamkeit" (Moritz) unterbricht, verhält er sich wie der Theaterzuschauer; aus Hölderlins Tragödientheorie führt Wellbery die Figur der "Zäsur" ein.

Goethes "Faust" enthüllt in Wellberys Interpretation das "Formpotential" der Gattung der Tragödie, indem Held und Rezipienten die "Innenperspektive des produktiven Bewusstseins" einnehmen. So erstaunlich Wellberys Befunde sind, noch erstaunlicher ist ein Satz aus dem Prolog seiner Untersuchung: "So wie der Mensch Gattungswesen ist, sind es auch die Werke." Dann steckt auch in der Menschengattung ein Formpotential, das durch Selbstreflexion verwirklicht werden kann. Und David Wellbery, der heute siebzig Jahre alt wird, arbeitet selbst an der Weiterentwicklung einer Gattung: der anthropologischen Theorie der Kunst.

pba.

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