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Produktdetails
  • Verlag: Schwarzkopf & Schwarzkopf
  • Seitenzahl: 256
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 346g
  • ISBN-13: 9783896021472
  • ISBN-10: 3896021478
  • Artikelnr.: 25927568
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.1998

Herkunft, Heimat, Fremde
Ostdeutsche in Amerika

Go west! Ostdeutsche in Amerika. Porträts von Andreas Lehmann. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1998. 256 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 29,80 Mark.

Andreas Lehmann schreibt nicht von sich. Er erzählt - oder besser: er läßt erzählen -, was Leute mit einer ostdeutschen Vergangenheit, aufgewachsen in der Enge der DDR, dazu bewegte, kurz vor oder nach dem Fall der Mauer Deutschland zu verlassen und in Amerika eine neue Heimat zu suchen. Oder das, was sie dafür halten. Auskunft geben Musiker und Leichtathletin, Paparazzo, Softwaredesigner und Schauspielerin, Wurstverkäufer, Firmengründer, Wissenschaftler.

Vielleicht hätte ja auch der Lebensweg des Autors Andreas Lehmann in diese Sammlung gepaßt: In Cottbus geboren, Jahrgang 1964, studierte er in Leipzig Journalistik, war kaum fertig, als die Demonstrationszüge skandierten "Wir sind das Volk" und "Einig Vaterland". Er begann, in Berlin als freier Autor für Wochenzeitungen wie den "Freitag" und die "Wochenpost" zu schreiben, suchte seinen Platz und fand ihn - vorübergehend - als Stipendiat an der Duke University in Durham, North Carolina.

So oder ähnlich beginnen die meisten Amerika-Geschichten, die das Buch "Go west!" festhält. Der Lebensweg der Schriftstellerin Gabriele Eckart, sie ist 43 Jahre alt, fällt hier aus dem Rahmen. Sie ist die einzige der Porträtierten, die nicht ging, um sich auszuprobieren, die nicht auszog, etwas Aufregenderes zu suchen als das elitäre, festgefügte deutsche Staatswesen. Und: Sie ist die einzige der Befragten, die nur mit Wut und Scham an ihr früheres Leben zurückdenken kann. Daß die DDR sie fast in den Wahnsinn trieb, überdeckt alle Erinnerung. Seit sie Anfang der achtziger Jahre ihr Projekt "Mein Werder-Buch" bei Verlagen vorgestellt und schließlich in der Bundesrepublik veröffentlich hatte, fand sie keine Ruhe mehr. "Ich bekam eine richtige Paranoia, ich konnte nicht mehr unterscheiden, was wahr ist und was nicht", beschreibt sie aus der sicheren Entfernung des amerikanischen Kontinents ihr Gefühl jener DDR-Jahre, bevor sie 1987 in die Bundesrepublik übersiedelte. Dort aber war sie ein Niemand. Die Angst, die sie im Osten umtrieb, legte sich nicht, und eine Identitätskrise kam hinzu.

"Wenn ich nicht nach Amerika gegangen wäre, würde ich schon tot sein", sagt Gabriele Eckart gleich in den ersten Sätzen ihrer Geschichte, "hier habe ich mich beruhigt." Sie hat mit ihrem Weggang keine Heimat verloren, sie hatte nie eine. Und nun, mit dem Abstand der Jahre und Flugstunden, scheint ihr dieses Wort auch nichts mehr zu bedeuten.

Daß es den anderen Protagonisten in Lehmanns Buch anders geht, macht seinen Reiz aus. Denn die einzelnen Lebensberichte sind, durchweg von den Porträtierten selbst und damit nicht immer sehr spannungsreich erzählt, allesamt auch Auseinandersetzungen mit dem Begriff Heimat, mit dem Ich, mit der Herkunft aus einem Land, das sie eingezwängt und eingeschränkt hatte - und aus dem sie doch Erfahrungen aufheben.

"Die DDR ist das, woher ich komme", sagt Christian Rook, 27 Jahre alt, Forschungsstudent in Pennsylvania ansonsten habe er sie immer "zur Hölle gewünscht". Das war, bevor er nach Amerika ging. Als die Mauer fiel, gab er seinen Operngesang auf, schuftete nachts in der Bäckerei seines Onkels in Neukölln und tauschte die 50 DM lukrativ in DDR-Mark. Er trug keine Stoffbeutel mehr, sagte Plastik statt Plaste, wollte nicht erkennbar sein. "In Amerika habe ich einen gewissen Stolz entwickelt, daß ich aus der DDR komme." Er nutzte seinen Unterricht vor amerikanischen Studenten, um deren 007-Vorstellungen von Ostdeutschland zu revidieren. Kein festes DDR-Bild entstand da in Rooks Erzählungen, doch ein aus vielen zusammengewürfelten Erfahrungen erlebbares. Vorausgesetzt, die Lust war da, sich auf seine ganz individuelle Sicht einzulassen.

Diese Neugier verlangt Andreas Lehmann auch dem Leser ab. Erst aus dem bunten Sammelsurium sehr eigenwilliger Ansichten und Rückblicke entstehen schemenhaft Bilder. Wie in einem Mosaik setzen sich Erlebnisse, Gefühle, verdrängte Erinnerungen zusammen. Und dann passen die Teile nicht zueinander und müssen neu geordnet werden.

Womöglich ist es ja mit der Identität wie mit dem Heimweh, das in Alexander Schems "Deutsch-amerikanischem Conversations-Lexicon" von 1869-74 so beschrieben wird: "Früher glaubte man irrthümlicherweise, daß das Heimweh nur den Gebirgsvölkern eigen sei; es kommt aber auch bei Bewohnern des platten Landes häufig vor und es scheinen vorzugsweise diejenigen Völker oder Individuen für diese Krankheit empfänglich zu sein, welche an eine einfachere, einförmigere, mit der nächsten Umgebung in der ausschließlichsten Verbindung stehende Lebensweise gewöhnt sind."

Cornelia Schwenkenbecher

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