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  • Verlag: Diaphanes
  • ISBN-13: 9783935300612
  • Artikelnr.: 12825032
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Wir möchten lieber nicht
Zum Menschenbild der europäischen Bildungsplanung

Die "Bologna-Erklärung" zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Bildungsraums ist in Deutschland mit dem Tenor kritisiert worden, die in einer humanistischen Tradition überlieferten Bildungs- und Erziehungskonzepte würden ökonomisch funktionalisiert und damit beseitigt. Die niederländischen Bildungsforscher Jan Masschelein und Maarten Simons ("Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums", Zürich/Berlin 2005) haben diesen Gesichtspunkt programmatisch beiseite gelassen und fragen statt dessen nach dem Menschenbild, das sich in Sprache und Denken der europäischen Bildungsplaner zeigt. Immerhin heißt es ja in der Erklärung von 1999, ein Europa des Wissens sei nicht weniger als die "unerläßliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung" sowie die "unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft".

Ihre Argumentation spitzen Masschelein und Simons zur These zu, daß die Zutrittsberechtigung zum europäischen Hochschulraum das Bekenntnis zu einer bestimmten Form des Erwachsenseins voraussetzt: "Diejenigen, die nichts einbringen oder einsetzen können und somit auch keine aktive, unternehmerische Haltung zum Selbst einnehmen, haben hier keinen Platz." Das weitverbreitete Unbehagen an einem solchen Aktivierungsprogramm hänge mit einer dunklen Seite allen Erwachsenseins zusammen, mit "etwas, das nicht produktiv ist oder werden kann", einer Passivität, die sich den Aufrufen zum unausgesetzten kommunikativen Tätigsein wie dem "permanenten Qualitätstribunal" still und mit schlechtem Gewissen entziehe.

Das Auffallendste in der Kartographie des europäischen Bildungsraums sei die Bedeutung, die der Infrastruktur beigemessen werde. Netzwerke und Informations- und Kommunikationskanäle sollen für die permanente Selbstmobilisierung jener Erwachsenen sorgen. Der öffentliche Raum wird als einer zwischen unternehmerischen Einrichtungen und Personen verstanden, in dem es kein anderes Ziel gibt als Zirkulation von Kapital und Informationen. Als solcher wolle dieser Raum von vornherein die Lösung für alle Fragen des Zusammenlebens der Bürger bieten. Die Frage nach den Bedingungen des Zusammenlebens sei nicht vorgesehen, was sich auch an der erstaunlichen Unfähigkeit der neuen Bildungspolitiker zum Dialog ablesen läßt. Im europäischen Bildungsraum sei ein Ort, "an dem man stillstehen, eine Pause einlegen, eine Frage stellen oder nachdenken kann", nicht vorgesehen. Man gehe vielmehr davon aus, daß es über all diese Fragen selbst keine Diskussion gebe.

Insbesondere sei dieser Raum nicht als Raum des Mitseins gedacht, der von einer Vielzahl von Menschen geteilt wird. Etwas wie Unrecht - jenseits von ethischen oder juristischen Entscheidungen -, wie Last und Zumutung des Zusammenlebens könne darin nicht zur Sprache kommen. Das Ideal der europäischen Bildungsplaner sei die Immunisierung gegen belastende Gefühle des Ausgesetztseins. Die Aufforderung, "sich unternehmerisch zu verhalten und jede soziale Beziehung als eine transparente Regel, Norm, einen Vertrag oder eine Vereinbarung zu sehen", wirke immunisierend. Die unaufhörlichen Parolen vom Leben als Lernprozeß und vom Studieren als produktiver Praxis im Hinblick auf Erträge lassen keinen Raum für die Reflexion, daß Studium etwas Lästiges und Einsames sein kann. Denn gerade im Studium könne sich unversehens "unser Nichterwachsensein, eine Passivität, eine Passion" manifestieren.

Es sei Passivität, die den Menschen auf die Möglichkeit hinweise, Verantwortung zu übernehmen. So stelle sich die Frage nach der Art von Freiheit, die den europäischen Studenten versprochen werde. Jeder, der in pädagogische Beziehungen eingebunden sei, wisse, daß man darüber nicht nur im Sinne von Verträgen sprechen kann. Alle Beteiligten würden dabei vielmehr auf Situationen des Ausgesetztseins und der Unbestimmbarkeit rückverwiesen. Erziehung zur Autonomie basiere auf solchen Situationen, sei gerade Durchbrechung von Immunisierungen, führe aus dem Raum des Fraglosen hinaus. Zuletzt gehe es darum, ob Schule und Universität unter dem Regime der Immunisierung zukünftig noch Räume für ein Denken mit anderen sein können, das der Erfahrung Rechnung trägt, so daß die Welt für den Menschen auch im fortgeschrittenen Modernisierungszustand noch ein Überraschungsfeld bleibt.

Mit traditionellen Ideen von Systemveränderung oder Aufbegehren gegen die "Repräsentanten und Machthaber des Systems" ist gegen den immunisierenden und damit virtuell Individualität vernichtenden Aufruf, sich unternehmerisch zu verhalten, nichts auszurichten, wie Masschelein und Simons meinen. Widerstand könne im globalisierten Raum der Bildung allenfalls darin bestehen, einfach anderes als das zu tun, was von uns verlangt wird.

FRIEDMAR APEL

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