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Keine ausführliche Beschreibung für "Giuseppe Verdi und das Risorgimento" verfügbar.

Produktbeschreibung
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Autorenporträt
Birgit Pauls ist Dipl.-Mathematikerin und Projektmanagementfachfrau (RKW/GPM) mit langjähriger Erfahrung in Programmierung und Datenbankdesign; betriebliche Datenschutzbeauftragte (GDDcert.); IT-Trainings für UnternehmerInnen, Freiberufler und Angestellte in zahlreichen, z. T. von EU und BRD geförderten Projekten; Mitglied in verschiedenen Unternehmernetzwerken und Erfahrungsaustauschkreisen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Die Musik als Geburtshelferin eines einigen Italiens
Hier singt das Volk! Aber spielte wirklich Verdi zum Risorgimento auf? Birgit Pauls besichtigt eine Legende / Von Günter Metken

Durch die Via Solferino und die Via Magenta ist in Italien schon jeder gegangen; an der Piazza del Plebiscito hat er sein Eis genossen. In Turin und anderen Städten sind ihm die Denkmäler der Militärs, Politiker und Monarchen aufgefallen, die einander heftig zugestikulieren und in Bildern von Giorgio de Chirico eine gespenstische Schatten-Existenz führen. Die Halbinsel ist mit einem Netz solcher Bezeichnungen und Figuren überzogen, das sie mythisch zusammenhält. Und um einen Mythos geht es auch: den des Risorgimento, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Einigung des Landes führte. Bis dahin war Italien kaum mehr gewesen als die geographische Bündelung von Ungleichartigem in Sprache, Geschichte und ökonomischen Gewicht. Politisch zersplittert, empfand man sich allenfalls kulturell als zusammengehörig und bezog aus einer blühenden Vergangenheit Argumente für die ohnmächtige Gegenwart.

Das Etruskische als Ursprung, die Latinität Roms, die Kultur der Renaissance, die Oper als europäischer Export speisten den Patria-Diskurs, seitdem Napoleon derartige Ideen angeschoben hatte. Das Wir-Gefühl als Basis nationaler Identifikation kam dann durch sinnstiftende Mythen zustande. "Die Geburt einer Nation", das ist das Thema dieser erhellenden Studie, wurde quasi herbeierzählt. Eine nationale Liturgie der Namen, Monumente und Feiern, der erhebenden Ansprachen und Gesänge begann, den religiösen Kult abzulösen. In dieser Phase der Nationenbildung sind Geschichten und Mythos keine Gegensätze; sie stützen einander und gehen ineinander auf. Erst im nachhinein wird das Chaos des politischen Epos historisiert und gestrafft.

Stets Gemeinschaft simulierend, wirkt der Mythos nach dem von Lévi-Strauss entdeckten Prinzip der "bricolage" oder Bastelei. Ausgewählte Daten, Schlachten, Personen oder Kunstwerke erscheinen als strukturelle "Invarianten" immer wieder, ob sie nun "stimmen" oder im Sinne vereinfachter Zitate arrangiert sind. Was nicht entspricht, bleibt auf der Strecke. Politische Mythen formen sich seriell in mehreren Phasen mit dem gleichen Personal und in rigoroser Blickfeldverengung, die komplexe Zusammenhänge beiseite läßt.

Zur Profilierung bedarf der Patria-Diskurs eines Feindbildes. Im Fall des Risorgimento war dies die stereotyp "grausame" Fremdherrschaft der Österreicher im Norden, der Bourbonen im Mezzogiorno. Daß die schließlich an die Macht gelangte Dynastie der frankophilen Savoyer Italien kaum näherstand als die längst "naturalisierten" Habsburger und Bourbonen, wurde großzügig übergangen. Allerdings begannen die Piemonteser schon in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts damit, sich über Wandmalereien im Turiner Königsschloß den alten italienischen Geschlechtern anzusippen. Der Mythos nutzt hier die Geschichte als Legitimationswissenschaft, auch wenn er die historische "Lega Lombarda" aktualisiert. In diesem Bund hatten die anno 1162 an sich untereinander verfeindeten Städte sich gegen Barbarossa zusammengetan, der Mailand besetzt hielt. Im Mythos muß der deutsche Kaiser als Eindringling herhalten, obschon sich seine Gegner keineswegs wie solidarische Landsleute aufgeführt hatten. Jedenfalls war die alte Lega genauso norditalienisch orientiert wie das moderne Risorgimento, das sich auf die Oberschichten des Piemont und Veneziens, der Lombardei und der Toskana stützte, deren Sprache dem multikulturellen Stiefel auferlegt wurde. Wie Don Fabrizio ironisch in Lampedusas Roman "Der Leopard" feststellte, fühlte sich der vorindustrielle Süden von den neuen Herren genauso beherrscht und ausgebeutet wie vordem von den Bourbonen.

Kommen wir zu den Personen und ihren Darstellern in der mythologischen Ausführung des Risorgimentos. Ungeachtet ihrer Komplexität und divergierenden Interessen sind sie bilderbogenhaft schabloniert und durch eingängige Etiketten - "Il Re Galantuomeo", "Milord Cavour" - dem Publikum nahegebracht. Camillo Benso Cavour war als Ministerpräsident von Piemont die treibende Kraft des Risorgimento, ein französisch sprechender Realpolitiker, der die Expansion seines Königshauses und den Anschluß Norditaliens an das cisalpine Europa betrieb. Ihm wird als "Visionär" gern Giuseppe Mazzini beigeordnet, der allerdings ein polizeilich gesuchter, von der Halbinsel verbannter Republikaner mit kommunistischen Anwandlungen war. Er strebte Gesellschaftsreformen an, träumte von Rom als neuer Mitte und hatte dementsprechend mit dem Königreich Piemont-Sardinien nichts im Sinn.

Als dessen Repräsentant wird ausgerechnet der Schürzenjäger Vittorio Emanuele zum lebenden Symbol der italienischen Einheit. Ihr Lieblingsheld war der ebenfalls von Frauen umschwärmte Giuseppe Garibaldi, Edler Wilder und (Italo)Westerner in einem, der als Freischärler fast außerhalb der Staatspolitik operierte. Cavour schob ihn gern als "Reinen" vor, um seine Machtpolitik zu romantisieren.

Der fünfte im Bunde war Giuseppe Verdi. Die zündenden Melodien seiner Opernkompositionen schienen der jungen Nation den Schwung und die Strahlkraft der Anfänge zu verleihen. Hartnäckig hält sich im Risorgimento-Diskurs die allseits übernommene Behauptung, Chöre aus frühen Opern Verdis, namentlich jener der gefangenen Juden in "Nabucco", hätten die fünf Revolutionstage von 1848 begleitet.

Das ist eine schöne, noch immer mitreißende Geschichte, die freilich den Tatsachen, wie sie Birgit Pauls aus Presseberichten, Briefen, Biographien und Archivmaterial gefiltert hat, nicht standhält. Die Opernhäuser standen unter Kuratel, ihr Besuch war Aristokraten und Großbürgern vorbehalten. Für den Mittelstand gab es erst nach 1860 erschwingliche Plätze. Während der "Cinque Giornate" blieben die Theater ohnehin geschlossen, und vom Absingen Verdischer Hymnen ist in zeitgenössischen Rapporten keine Rede.

Während die anderen Protagonisten der opera semiseria "Risorgimento" in unserem Regie-Buch eher beiläufig auftreten, geht die Inszenatorin bei Verdi zur dichten Beschreibung über. Die italienische Oper war durch ihre weltweite Verbreitung, von der große Musikverlage profitierten, zugleich Wirtschaftsfaktor, sinngebende Instanz und symbolischer Überbau; alles zusammen verkörperte Giuseppe Verdi. Bis dahin gehörten Komponisten, trotz aller Erfolge der Bellini, Donizetti, Rossini, noch der etwas flitterhaften, unbürgerlichen Halbwelt an, welche die Oberschichten zu unterhalten und von ihrer politischen Untätigkeit abzulenken hatte. Erst Verdi gelang - dank seinem Können und diplomatischen Geschick - der Sprung vom dienstbaren Maestro zum unabhängigen Künstler-Unternehmer, der die Aufführungen seiner Werke strikt überwachte, nach der Weltgeltung Giacomo Meyerbeers strebte und diesen samt allen anderen Konkurrenten, den ewigen Antipoden Richard Wagner ausgenommen, schließlich übertrumpfte.

So ein gesellschaftlicher Aufstieg entsprach dem Wunschbild der werdenden Nation, die in Verdis elektrisierender, bezeichnenderweise fast ohne folkloristisches Kolorit auskommender Musik ihren Gemeinschaftsklang fand, namentlich in den unisono oder mit Oktavbegleitung ausgeführten Chören. Wie in der gleichzeitigen Historienmalerei, rückt hier die Statisterie für einen berauschenden Moment in den Vordergrund und avanciert zum mitwirkenden "Volk". Kann man deshalb vom "gesungenen Aufstand" sprechen? Der Mythos wollte es so. Er verabsolutierte Verdis berühmte Briefstelle über seine "Galeerenjahre", die wohl eher die Fronarbeit als abhängiger Musiker meint, und machte ihn zum "Papà dei chori". Dem steht entgegen, daß Verdis Musik erst von 1900 an durch technische Multiplikatoren wirklich breitenwirksam, erst dann auch per Schulbuch national instrumentiert wurde; auch die Faschisten taten das, obwohl Mussolini selbst kein Anhänger Verdis war.

Die Arbeit am Mythos aber biegt die Disparatheit des Faktischen in Zielstrebigkeit um und macht sich Oper um Oper gefügig - so etwa die 1848 entstandene "Battaglia di Legnano", die den Sieg der lombardischen Liga über Barbarossa zum Inhalt hat. Das Werk lag auf der patriotischen Linie des Risorgimento, wurde aber von der Kritik durchweg negativ beurteilt. Dennoch ließ es sich dank einer Koinzidenz in den Mythos integrieren: wenige Tage nach der römischen Uraufführung marschierte Garibaldi in die Ewige Stadt ein.

Einen Eckpfeiler der Risorgimento-Erzählung bildet "Un Ballo in maschera". Die Uraufführung in Neapel wurde 1857 angeblich durch die repressive Zensur der Bourbonen verhindert, weil auf der Bühne ein Tyrannenmord stattfinden sollte; das Vorbild war das Attentat, das 1792 während eines Maskenballs auf Gustav III. von Schweden verübt wurde. Der war allerdings ein liberaler König. Das umgearbeitete Libretto, das man Verdi als Ersatz vorschlug, verlegte die Handlung nach Florenz und in das Jahr 1385. Es tauschte also einen antiaufklärerischen Stoff gegen einen italienisch-national interpretierbaren ein. Wie die Verfasserin nachweist, zog sich Verdi schließlich wegen der in Neapel üblichen Raubdrucke von Partituren von dem Unternehmen zurück.

Die Premiere von "Ein Maskenball" 1859 wird gewöhnlich mit der Entstehung des berühmten Akrostichons V.E.R. D.I. in Verbindung gebracht. "Viva Verdi", soll die Menge gerufen und damit emblematisch den König - V.E.R.D.I. = Vittorio Emmanuele Re d'Italia - und die Einigung des Landes gefeiert haben. Nur: die Zeitzeugen einschließlich des sonst so aufmerksamen Ferdinand Gregorovius schweigen über das Ereignis. Rufe können doppeldeutig sein. Das häufig zu Verdis Premieren erklingende "Viva Italia" mag auch als Aufforderung an den zunehmend kosmopolitischen Künstler gewesen sein, sich nicht vom französischen oder gar deutschen Stil beeinflussen zu lassen. Der Komponist selber berief sich auf die Universalität der Musik und auf Meister der Tradition wie Palestrina, im Alter stilisierte er sich zum einfachen Bauern auf heimischer Scholle. Immer auf der Suche nach dem unauffindbaren patriotischen Landmann, griff der Mythos dies Rollenspiel begierig auf. Die mondänen Seiten Verdis, sein patrizischer Lebensstil und sein Tod in einem Mailänder Nobelhotel wurden hingegen weggekürzt.

Dekonstruktion ist nicht gleich Entmythologisierung. Eine solche scheint auch bei Verdi und dem Risorgimento kaum möglich; Politik und Mythos bedürfen einander und stabilisieren sich gegenseitig. Sind also schon die Mythenbausteine ambivalent und modulierbar, um wieviel mehr dann die Musik. Von hier aus wäre vielleicht ein Einwand gegen die These dieses findig und fündig verfaßten Buches denkbar. Die zugleich ungreifbare und körperhafte Musik läßt sich nicht zum Dokument plattdrücken. Sie dringt durch die Ritzen und hat dies sicher im auch gesellschaftlich abgeschotteten neunzehnten Jahrhundert getan. Gewiß kann der "gesungene Aufstand" auf der Opernbühne keinen realen historischen Prozeß vermitteln, wohl aber kann er dessen Möglichkeit suggerieren - und zwar bei Verdi als Intrigenstück: Kabale und Liebe vor patriotischer Kulisse. Von der politischen Realität des Landes wäre das gar nicht so weit entfernt.

Birgit Pauls: "Giuseppe Verdi und das Risorgimento". Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung. Akademie Verlag, Berlin 1996. 353 S., geb., 84,- DM.

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