Mittelmeer. Karl VI. ließ den Freihafen anlegen, Maria Theresia den Canal Grande. Triest beerbte Venedig als führendes Handelszentrum. Johann Joachim Winckelmann fand in Triest den Tod, Italo Svevo und Theodor Däubler, beides Söhne deutscher Kaufleute, wurden hier geboren. Rilke schrieb auf dem nahe gelegenen Schloß Duino seine Elegien, hielt Zwiesprache mit dem "gärtnernden Tod". Des Dichters Blick fiel täglich auf das zerklüftete Kalkhochland, das Triest umgibt. Dem "höhligen Karst" erwies er in den "Sonetten an Orpheus" dann eine späte Reverenz.
Erst seit dreiundzwanzig Jahren lebt der Leiter der Kriminalpolizei in der nach dem Ersten Weltkrieg italienisch gewordenen Grenzstadt, doch seine Versetzung aus Süditalien nach Venetien war vorherbestimmt. Der dreifache Familienvater heißt nämlich so wie "die kleinen weißen Tierchen ohne Augen, die nur in den unterirdischen Wasserläufen des adriatischen Karsts zu Hause sind". Commissario Proteo Laurenti ist die humane Sonderform des Proteus Anguinus Laurenti. Zwar ist er nicht mit Blindheit geschlagen, und daß er hellhäutig sei, wird niemand behaupten, doch ins poröse Kalkgebirge zieht es ihn oft. Gerade wurde Olga, eine junge slawische Kollegin Lillis, dort ermordet aufgefunden. Da Proteo Laurenti aber der Weg seiner Namensvettern verwehrt ist und er nicht durch die Risse im Gestein bis zu den Flüssen hinabtauchen kann, zieht es ihn zurück vom Karst an den Strand. Nackt springt er in das geliebte Element, denn "eine halbe Stunde schwimmen pendelt seine Seele wieder ein".
Der wassersüchtige Choleriker braucht wenig Schlaf, viel Kaffee und hat lediglich vier Kilo Übergewicht. Er mag keine Immobilienmakler, keine Klimaanlagen und keine Kraftfahrzeuge. Den schmutzbedeckten Dienstwagen läßt er meistens stehen, geht zu Fuß oder leiht sich den Motorroller seines sechzehnjährigen Sohnes Marco aus. Proteo Laurenti ist ein widerspruchsvoller Beamter, der sein Interesse an Kunst und Literatur beteuert, Künstler jedoch für ein "exzentrisches Völkchen" hält. Er ärgert sich über "die konservativen Triestiner", denen ein "gemächliches Leben" über alles gehe, und scheut doch selbst den Wandel, will aus der alten Wohnung nicht ausziehen und ebensowenig die erwachsene Tochter Livia in die Selbständigkeit entlassen.
Der redefreudige Vorzeige-Italiener wird nicht primär zur Aufklärung eines verworrenen Falles von Menschenhandel, Subventionsbetrug, Korruption und Mord gebraucht. Romanstrategisch ist er vielmehr für das mediterrane Flair zuständig. Deshalb muß er "Porcaputtana!" ausrufen, in einer Osmizza "einen Sprizz Bianco Bitter" trinken oder ein Tramezzino essen. Nötig ist diese rein rhetorische Verortung, weil Triest gesichtslos bleibt. Der Erzähler teilt mit, daß die Via Rossetti steil ansteigt und die Via Trento die "Sündenmeile" ist, daß ein Café "leider zu Tode renoviert" wurde und ein Verlagsgebäude "zu den minderen der typischen Bausünden jener Epoche, als man modern sein wollte", zählt. Wie die Häuser und die Straßen aber aussehen, erfährt der Leser keineswegs. Welche Farben Triest trägt, wonach es schmeckt, wie es riecht, ist diesem so stolz mit der Besonderheit Triests, dem Schicksal Winckelmanns, den Werken Svevos renommierenden Buch nicht zu entnehmen.
Der Mangel an Sinnlichkeit und die Dominanz der Benennung zu Lasten der Beschreibung setzt sich bei den Figuren fort, die attraktiv oder arrogant genannt werden, aber über keine Statur, keinen Gang, keine Mimik verfügen. Der Leiter der Küstenwache ist schlicht und stereotyp "der Seebär", Patrizia Isabella hingegen die "Lieblingstochter". Einzig die floskelhaft verwendeten Namen unterscheiden die Personen voneinander, die keine eigene Sprache haben. Was eben noch der Erzähler referierte, kehrt in wörtlicher Figurenrede wortgleich wieder.
Ein "verkitschtes Porträt" Livia Laurentis läßt der Autor seinen Helden drei Seiten lang lesen. Der "schreckliche Bericht", den der Commissario in einem Anzeigenblättchen namens "Mercatino" entdeckt, ruft bei dem erregten Polizisten Hohn und Spott hervor. Die dort vorexerzierte Aufblähung eines Textes durch Repetition des Banalen bildet indes das traurige Muster für sämtliche 332 Seiten des vorliegenden Werks. Als "sensibel und gefühlvoll" wird im "Mercatino" zweimal die Polizistentochter bezeichnet, womit über sie soviel ausgesagt wäre wie etwa über den Triester Sommer durch die dreifache Angabe der identischen Temperatur. Auch Heinichens klischeehafte Sätze über eine Journalistin und ihre "erschütternde private Niederlage" ausgerechnet zur Zeit des "großen beruflichen Erfolges" scheinen direkt dem "Mercatino" entnommen.
Mit dem holprig betitelten Roman "Gib jedem seinen eigenen Tod" debütiert Veit Heinichen als Alleinerzähler. Der ehemalige kaufmännische Leiter und Mitbegründer des "Berlin Verlages" verfaßte unter dem Pseudonym Viola Schatten gemeinsam mit einer Literaturkritikerin vier schmale Taschenbuchkrimis. Deren Heldin, eine Privatdetektivin und WG-Bewohnerin adliger Abstammung, ermittelte in Frankfurt mitten unter dezent bis gar nicht camouflierten, höchst realen Lokalgrößen, was 1991 für einen kleinen Skandal sorgte. Das erste Buch der Reihe, "Schweinereien passieren montags", hatte die Ausbeutung der Dritten Welt durch skrupellose Geschäftsleute zum Gegenstand.
Der Gegenstand ist geblieben, wenn auch die Dritte Welt jetzt auf dem Balkan und östlich von Polen beginnt, die Verbrecher aus Kroatien statt aus Hessen stammen und Veit Heinichen mittlerweile in Triest wohnt. Das Ergebnis der gewandelten Zeitumstände bei unveränderter Kapitalismuskritik sind Proteo Laurentis Protestgedanken. Wider das Bürgertum und für die käufliche Liebe optiert Triests erster Polizist, sofern er fern der Ehefrau und fern der Taten weilt. Im Karst versickern seine rebellischen Träume, und die kleinen weißen Tierchen ohne Augen wissen sie zu schätzen.
ALEXANDER KISSLER
Veit Heinichen: "Gib jedem seinen eigenen Tod". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001. 332 S., geb., 39,80 DM.
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