gefilterte Erlebnis in Worte zu fassen.
"Mit-Schreiben" hat Handke das Verfahren bei seinen bisherigen vier Aufzeichnungssammlungen genannt, doch im November 1987, nach einem tiefen privaten Einschnitt, wandelte sich seine Konzeption von solcher Mit- zur Nach-Schrift. Fünfzehn Jahre nach Abschluß dieser Phase, die er selbst bis zum Juli 1990 datiert ("Danach fand und findet im übrigen kaum mehr ein Mit-Schreiben im Sinn der früheren Journale statt", heißt es im Vorwort), hat er nun die Notizen jener zweieinhalb Jahre publiziert: aus den damaligen Journalen "kopiert", also nicht bearbeitet; nur etliche Lektürefrüchte und Kunstwerkbeschreibungen sollen entfallen sein. Der Titel des fünften Aufzeichnungsbuchs ist gleichsam programmatisch: "Gestern unterwegs".
Dessen Texte entstanden in einer biographisch unruhigen Zeit, ehe der österreichische Schriftsteller ein neues dauerhaftes Domizil in Frankreich fand. Seine allein für das Jahr 1988 aus den Notizen rekonstruierbaren Reisen führten ihn in vierzehn Länder: nach Griechenland, Ägypten, Frankreich, Belgien, Holland, Japan, Alaska, Großbritannien, Portugal, Spanien, Österreich, Italien, Jugoslawien und Deutschland. Handke, der große Fürsprecher der Bedächtigkeit und der Verwurzelung, war von Unrast getrieben und über weite Strecken zu Fuß unterwegs. Das Gehen erschloß sich als die ihm gemäße Form der Wirklichkeitswahrnehmung. "Eines weiß ich: Die Welt im Gehen, Schauen, Bedenken, Betrachten, Weitergehen stellt sich anders dar als die Welt in den Zeitungen."
Mit dieser italienischen Aufzeichnung vom Oktober 1989 wird beiläufig ein Schlachtfeld eröffnet, auf dem Handke sich in den Folgejahren als Kombattant, Kriegsberichterstatter und Märtyrer zugleich tummeln sollte. Sein Zweifel am Bild der Welt, wie es die Medien malten, trieb ihn in den neunziger Jahren zum nimmermüden Einsatz für die vermeintliche Sache Serbiens. Dieses Engagement trübte den Eindruck eines bloß der Schönheit verpflichteten Protokollanten, als der sich Handke zuvor geriert hatte. Tatsächlich ist in "Gestern unterwegs" die kommende militärische Auseinandersetzung in Jugoslawien nur zu ahnen. Im August 1987 liest der Reisende zwar während einer Bahnfahrt in Mazedonien frühe Gedichte von Hölderlin und notiert: "Gott bewahre uns vor einem nationalen Aufbruch." Doch anderthalb Jahre später findet er im spanischen Linares eine Zeitung mit der Überschrift "Yugoslavia a los linderos de una guerra civil", und dazu fällt ihm nicht mehr ein als die Bemerkung: ",Los linderos', die Grenzwege, die Schwellen". Und er ergänzt in Klammern: "Name der Tageszeitung von Linares: ,Ideal'; neben der Redaktion die ,Ideal Bar'."
Ist das ein Kraussches "Dazu fällt mir nichts ein"? Unwahrscheinlich, denn Kraus wie Thomas Bernhard zählen zu Handkes literarischen Feindbildern. Handke sah sich damals noch als Betrachter des Unpolitischen, und so äußert er sich im November 1989 auch nur indirekt zum Fall der Mauer, obwohl er damals auf eigenen Lebensspuren im Taunus wandert. Keine Spur aber von der Diarienlust eines Peter Rühmkorf, wie sie dessen gleichzeitig entstandenes "Tabu 1" zeigt. Dabei pflegt auch Handke einen bisweilen geradezu faunischen Blick, zumal wenn es um die spärlichen Zeugnisse eigener Verliebtheit geht. Da weicht die existentialistische Selbstbetrachtung dem mit einemmal wieder aktiven Blick auf andere - den sonst nur Handkes Ausführungen zu Kindern spüren lassen. Wunderhübsch dabei die Bemerkung, daß der Mensch eine Spezies sei, bei der die "Raupen" weitaus schöner seien als die fertigen Wesen.
In den meisten seiner Aufzeichnungen ist Handke jedoch ganz bei sich, und deshalb darf "Gestern unterwegs" als ein Buch bezeichnet werden, das alles in den Schatten stellt, was wir von ihm seit fünfzehn Jahren lesen konnten - seit den Büchern eben, die noch in jener Phase der Unrast entstanden sind: der "Versuch über die Müdigkeit" und der "Versuch über die Jukebox", beide 1989 jeweils binnen weniger Tagen in Spanien geschrieben. In "Gestern unterwegs" spürt man diese beiden Textgewitter schon Monate vorher aufziehen. In diesen Passagen ist "Gestern unterwegs" vor allem Werkstatt.
Aber das Buch ist auch Chronik, Rechenschaftsbericht, ästhetische Theorie. Und Steinbruch, in dem schon etliche Passagen der Romane "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Das Bilderverbot" vorformuliert wurden. Das indes sind die hemmenden Teile auf der Suche nach der verwanderten Zeit. Wo Handke sonst präzise ist, weil er fixieren will, was sich ihm gezeigt hat, ist er hier verschwurbelt, weil er die Bilder frei auszumalen beginnt.
Aber wer braucht den Romancier Peter Handke? Auf seiner Tippeltour durch ein "vereintes Europa der Feldwege und Ackermauern" gelingen ihm Momentaufnahmen, die nur mit dem Attribut der Feinmalerei aus der niederländischen Kunstgeschichte adäquat beschrieben werden können: Miniaturen alltäglicher Szenen in höchster Brillanz, in der mit dünnsten Pinseln Effekte hingetupft werden, die eine höhere Form des Realismus entstehen lassen. "In der zunehmenden Düsternis erschien dann ein Leuchten, klein, in einem der Feldmandelbäume: Harz war da ausgetreten und hatte sich an einem Zweig verklumpt, und durch dieses Klümpchen schien da oben die letzte Helligkeit des Himmels, in dem Harzball gesammelt und konzentriert." Ein solcher Einschluß des Lichts ist das, was Handke in den besten seiner Notate gelingt.
Sie können canettiesk sein, wenn er Typen bildet, den Fragenarr etwa oder die Zeithaberin. Auch der Wechsel zwischen "ich" und "er" bei der Selbstbeschreibung löst beim Leser dieselben subtilen Jagden nach inhaltlichen Kriterien für diese Distanzierung aus - doch sie bleibt hier wie da erfolglos. Handke allerdings sucht weniger als Canetti nach Schemata anthropologischen Verhaltens. Statt dessen notiert er immer wieder Verben für bestimmte Phänomene: für die Sonne (sie "läßt mich zurechtfinden"), für die Bewegung von Blättern im Nachtwind (sie "wirtschaften"), für Nußbaumblätter im Fallen (sie "brechen"), für die Müdigkeit (sie "gibt das Augenmaß"). Anderweitig längst bewährte Wörter reichern als Umschreibungen die Beschreibungen an - und alles jenseits jeder Metapherntheorie, aus schierem Mut, einen Vorgang in seiner Besonderheit zur Sprache zu bringen. Wie ein Botaniker in seinem Herbarium ungewöhnliche Exempla der Pflanzenwelt sammelt, so stellt Handke eine Kollektion von Wortbedeutungen zusammen, die nie ein Ohr zuvor gehört hat.
Auch das also ist "Gestern unterwegs": ein Sprachlabor. Ein gewagtes Unterfangen angesichts einer in Cividale notierten Maxime: "Vergiß nicht, du Idiot, daß Sprachlosigkeit (auch) deine Stärke ist." Das eingeklammerte Wort aber mildert die Strenge des Verweises - wie die zahlreichen Fragezeichen, die nach Aussagesätzen stehen und somit den Schatten des Ungewissen über manch schillernde Formulierung werfen. Seine Heimstatt findet der Wortwanderer Handke im Zweifel, und in einer französischen Redewendung die Rechtfertigung dafür: ",Ça n'entre pas dans la question'; als sei das Fragen, die Frage ein Haus, und ist sie das denn nicht? Eine Hütte, ein Obdach, ein Unterstand". Die eigene Frage im Notat legitimiert für Handke, was anderen als fragwürdig gelten mag.
Was sich uns in seinem Sprachspiel zeigt, ist ein Virtuosenstück des Schreibens, das mit Kategorien wie Aphorismen, Entwürfen, Maximen, Notaten oder auch Aufzeichnungen nur schwer zu fassen ist. Handke selbst bezeichnet seine Arbeit gleich mehrfach als "Tagewerk" - und suggeriert damit Handarbeit. Doch dieses Schreiben ist eine Sache des Kopfes: des konsequenten Schulterblicks, der eine andere als die gewohnte geradlinige Ansicht fokussiert. Kein Wunder, daß die Lektüre der Evangelientexte, der sich Handke im Februar und März 1990 widmete, eine besonders wichtige Erkenntnis erbracht hat: "Immer wieder spricht Jesus zu den Leuten ,sich umwendend'."
Handke ist in "Gestern unterwegs" noch kein Prophet. Gottlob. Er schafft auch keine Statuen, aber dem Schulterblick hat er ein Denkmal gesetzt. Nicht Bildhauer, Bildbauer muß man ihn dafür nennen.
Peter Handke: "Gestern unterwegs". Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Jung und Jung, Salzburg 2005. 553 S., br., 25,- [Euro].
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