Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 25,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Mit Einführung, Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register.

Produktbeschreibung
Mit Einführung, Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2004

Schmeißt mich in den Graben
Abermals gern gelesen: Ciceros Gespräche in Tusculum
Seine Schüler fragten einst Diogenes: „Wie sollen wir dich begraben, wenn du gestorben bist?” „Schmeißt mich in den nächsten Straßengraben”, war die Antwort. „Aber Diogenes, dann fressen dich doch die Vögel und wilden Tiere!” „Dann drückt mir einen Knüppel in die Hand, damit ich sie abwehren kann.” „Aber Diogenes, du merkst es doch gar nicht mehr, wenn sie kommen!” „So? Ich merke es nicht? Na, dann kann es mir auch egal sein, wenn sie mich fressen.”
Eine Schatztruhe an solchen und ähnlichen „Apophthegmata” sind die „Gespräche in Tusculum”, der meistgelesenen der philosophischen Schriften Ciceros. Hier findet man die Geschichte von den Spartanern, die auf die Drohung der Perser, sie würden mit ihren Pfeilen die Sonne verfinstern, erwidern: Desto besser, dann kämpfen wir im Schatten!, ebenso wie jene andere von Damokles, dem alle feinen Speisen auf den goldenen Tischen nicht mehr munden wollten, als er über sich das Schwert sah, an einem Rosshaar über seinem Nacken schwebend. Wie von selbst verbünden sie sich mit dem Gedächtnis des Lesers und lassen ihn manchmal fast vergessen, wozu sie erzählt werden: um auf einprägsame Weise klarzumachen, wie es mit dem Tod und dem Schmerz steht, der Schande, den Leidenschaften und dem Glück.
Vieles davon muss heute befremden. Warum kämpfen Cicero und die antike Philosophie mit solcher Erbitterung gegen die menschlichen Affekte, dass sie selbst das Mitleid und die Verliebtheit mit Stumpf und Spiel ausreißen wollen? Was bleibt vom beschworenen Glück eigentlich noch übrig, wenn man ihm die affektive Grundierung ganz und gar wegnimmt? Vernunft und Natur wären ein und dasselbe höchste Regulativ? Vernünftig ist die Atombombe, und natürlich die Filzlaus.
Glück in Prozenten gemessen
Was heute an diesem Buch interessieren kann, sind nicht seine Antworten, sondern die Art, wie gefragt wird. Was ist Glück? Vergeblich wird man sich damit an die moderne Philosophie wenden, und selbst an die Psychologie, die die Philosophie in solchen und ähnlichen Themen doch einmal beerbt hatte. Höchstens noch, dass ein soziologisches Institut eine Umfrage durchführt und feststellt, dass 28 Prozent aller Deutschen sich glücklich oder sehr glücklich fühlen. 28 Prozent: Das signalisiert, dass Glück doch immerhin nicht nur die märchenhafte Ausnahme bedeutet, sondern erlangbar ist - und dass die Mehrheit es dennoch verfehlt. Es ist eine beunruhigende Zahl. Was Glück wäre, ist damit aber noch keineswegs geklärt.
Und was den Tod betrifft, so hat Cicero an einem Punkt gestanden, der in der Gegenwart wieder erreicht sein dürfte: Die gesellschaftlichen und religiösen Traditionen bröckeln weg, und jeder sieht sich mit dem Faktum seiner Sterblichkeit allein konfrontiert. Wie Cicero hier zaudert, wie er die vielen Schulen, die Ersatz verheißen, referiert, wie er in einem Gemisch aus physikalischen Beweisen und ethischer Deklamation zum Glauben an ein Fortleben der Seele überreden will, und wie er sich zum Schluss doch damit zufrieden gibt, dass, wer gar nicht ist, immerhin auch nicht unglücklich sein kann - das entspricht ganz dem heutigen verwahrlosten Zustand des Todesproblems.
Die „Gespräche in Tusculum” sind, ihrer Wirkungsmächtigkeit zum Trotz, kaum ein Meisterwerk zu nennen. Sie wimmeln von leichteren Flüchtigkeits- und schwereren Denkfehlern, Missverständnissen ihrer griechischen Quellen, Verkürzungen und Unstimmigkeiten aller Art; und wenn der Rhetor Cicero das Ruder ergreift, weiß man nie, an welcher Stelle der Gedanke wieder herauskommt. In wenigen Monaten kurz vor der Ermordung Cäsars geschrieben (oder unter zahlreichen Störungen diktiert, wie man mutmaßen möchte), tragen sie das Merkmal der Hast, als ahnte der Verfasser, dass er selbst nicht mehr allzu lang zu leben hatte. Viel unergründlicher sind sie abgefasst als der Kommentar des Herausgebers und Übersetzers Olof Gigon, der dieses bedauernd ein ums andere Mal konstatiert.
Ewige Menschheitsprobleme
Aber diese Hast lässt sich ganz offenbar vom wichtigsten Verdienst des Buchs nicht abtrennen: dass es, unter wie widrigen Bedingungen auch immer, die großen dauerhaften Menschheitsprobleme in Angriff nimmt. Sie werden der gemächlich-pedantischen Schulphilosophie, die es damals auch schon gab, entrissen und in all ihrer Dringlichkeit vergegenwärtigt. Der Autor will die Philosophie von den Griechen zu den Römern bringen, er müht sich sehr um lateinische Begriffsentsprechungen und einheimische Exempel. Cicero, der als Politiker, Anwalt, Familienvater in einem reichen und verworrenen Leben wahrlich genug Anderes zu tun hatte, erlässt sich diese Aufgabe nicht. Er tut aber eigentlich noch mehr: Er findet dem Philosophieren überhaupt den angemessenen zeitgenössischen Ort und Rahmen. Wie sähe heute ein ernstes und ambitioniertes Buch aus, das das Gleiche leisten wollte wie Cicero vor zweitausend Jahren?
BURKHARD MÜLLER
MARCUS TULLIUS CICERO: Gespräche in Tusculum. Herausgegeben und übersetzt von Olof Gigon. Artemis & Winkler, Berlin 2003. 394 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr