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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2008

Im Anfang war das Wort, und das Wort wurde Bild

Protestanten sind bilderfeindlich. So steht es im Wörterbuch der Allgemeinplätze. Der Hamburger Germanist Heimo Reinitzer hat eine große Studie vorgelegt, die das Gegenteil beweist.

Es gibt sie doch: die schöne und überraschungsreiche theologische Buchveröffentlichung. Nicht immer stammt sie von einem Fachvertreter, manchmal erscheint sie an einem eher verborgenen Ort, leicht zu übersehen. Man sollte also nicht vorschnell in das beliebte Horn der Theologieverdrossenheit stoßen, sondern sich auf die Suche machen. Dann kann man erstaunliche Arbeiten entdecken, wie zum Beispiel die theologisch-ikonographische Studie "Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte" des Literaturwissenschaftlers Heimo Reinitzer (Christians Verlag, Hamburg 2006).

Mit bewundernswürdiger Findigkeit hat Reinitzer das Tor zu einer bisher kaum bekannten Bilderwelt aufgestoßen. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat er in Deutschland, Österreich und Polen Darstellungen der lutherischen Rechtfertigungslehre gesammelt und erforscht. In seinem zweibändigen, opulent ausgestatteten Werk stellt er fast dreihundert seiner insgesamt 860 Fundstücke vor. Das Spektrum ist groß. Reinitzer hat Altar-, Kanzel- und Andachtsbilder, aber auch Bibelillustrationen, Kupferstiche und Wandteppiche zusammengetragen. Auch das höhere Merchandizing der Reformationszeit hat er berücksichtigt und Darstellungen von Luthers Kernbotschaft auf Tellern, Ofenkacheln, Kaminsteinen, Hochzeittruhen und Tintengefäßen aufgespürt.

Angefangen hat alles offenbar mit einem französischen Holzschnitt aus den zwanziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts, wahrscheinlich von Geofroy Tory. Luthers Grundeinsicht war es, dass der Mensch nur durch Gottes Gnade, ohne eigene Werke zur Seligkeit gelangt. Die Anforderungen des Gesetzes kann er nicht erfüllen. Er ist auf die freie Gnade des Evangeliums angewiesen. Diese aber kann er nur erfahren, wenn das Gesetz ihn vorher auf seine schlechthinnige Abhängigkeit von Gott gestoßen hat. Der Holzschnitt setzt Luthers Lehre so um, dass er einen nackten Menschen unter einen Lebensbaum setzt. Dieser teilt das Bild in zwei Hälften. Auf der linken Seite steht das Gesetz mit seinen Manifestationen, auf der rechten Seite finden sich das Evangelium und seine Zeugen.

Damit war ein neuer Bildtypus geboren. Besonders schön schon hat ihn Hans Holbein d.J. in seinem kleinen Gemälde "Lex et Gratia" (ca. 1524) ausgeführt. Unter dem Lebensbaum, der links dürre und rechts grüne Zweige trägt, sitzt ein nackter Sünder. Jesaja und Johannes der Täufer bemühen sich um ihn. Sie weisen ihn auf die Gnade des Evangeliums und dessen Geschichte hin. Doch jeder Ausformung des Evangeliums entspricht auf der anderen Bildhälfte eine spiegelbildliche Gestalt des Gesetzes: Maria auf dem Berg Zion und Moses auf dem Sinai, die Kreuzigung Christi und die Erhöhung der ehernen Schlange, die Anbetung des Goldenen Kalbes und die weihnachtliche Erscheinung der Engel vor den Hirten, der Sündenfall Adam und Evas sowie der Gang Christi und seiner Jünger in den Garten Gethsemane, der Todessarkophag und das Auferstehungsgrab.

Der Mensch steht nicht wie Herkules am Scheidewege. Es liegt nicht in seiner Macht, sich für den einen oder anderen Bereich zu entscheiden. Er ist auf beide Gestalten der Offenbarung angewiesen und richtet sich doch auf das Evangelium aus. Sein Körper ist noch dem tödlichen Gesetz zugewandt. Aber sein Kopf folgt den wohltuenden Fingerzeigen des Jesaja und des Johannes. Sein Gesicht scheint zu zeigen, dass er ihre Predigt schon gehört und angenommen hat.

Dieser Bildtypus sollte eine weite und variantenreiche Wirkungsgeschichte haben. Viele Details wurden ergänzt, erweitert und verändert. Besonders folgenreich wurde die Verbindung von Bild und Wort. Schon Holbein bot eine Collage aus Gemaltem und Geschriebenem. Schließlich ging es um die Darstellung einer theologischen Lehre. Das Wort sollte Bild werden. Damit das Bild aber verstanden werden konnte, musste es mit Worten angereichert werden. Die Bilder über Gesetz und Evangelium besitzen einen ästhetischen Reiz, sind aber keine autonomen Kunstwerke, sondern dienen einem didaktischen Zweck. Wie sie ihn erfüllen, ist anspruchsvoll. Es dürfte schwerfallen, Kunstwerke zu finden, die mit ähnlichem Erfolg eine abstrakte theologische Lehre - etwa die Trinitätslehre - ins Bild setzen. Reinitzers Fundstücke elementarisieren Luthers Rechtfertigungslehre, ohne sie zu banalisieren. Sie stellen Gesetz und Evangelium einander nicht bloß gegenüber, sondern halten die paradoxe Spannung zwischen beiden Bildhälften. Denn auch wenn der Mensch sich nach dem Evangelium sehnt, bleibt er doch auch auf das Gesetz angewiesen. Denn erst das Gesetz gibt ihm die Einsicht in die eigene Verlorenheit, welche die Voraussetzung der Erlösung ist.

Das Klischee vom bilderfeindlichen Protestantismus ist wohl unausrottbar. Aber die "Gesetz und Evangelium"-Bilder belegen, dass die Reformation in der Lage war, einen ganz neuen Typ religiöser Bilder zu schaffen. Anders als bei orthodoxen Heiligen-Ikonen oder katholischen Marienbildern steht bei ihnen nicht ein Heilsbringer im Mittelpunkt, sondern der sündige und gläubige Mensch, der sich seiner Stellung zwischen Gesetz und Evangelium gewiss werden soll. Darum sind diese Bilder keine Gegenstände kultischer Verehrung, sondern Predigthilfen. Sie halten den Betrachter nicht zur Adoration, sondern zur Reflexion an.

In der evangelischen Theologie gehört es seit langem zum guten Ton, einander zu versichern, dass man Luthers Rechtfertigungslehre Zeitgenossen kaum noch vermitteln könne. Reinitzers Buch erinnert daran, dass diese Vermittlung einst - theologisch niveauvoll und künstlerisch kreativ - gelungen ist. Dadurch mag es den dogmatischen Theologen einen neuen Anstoß geben. Es macht aber auch bewusst, wie weit sich Protestantismus und Gegenwartskunst inzwischen voneinander entfernt haben. Denn die Bildwelt, die Reinitzer vorgestellt hat und noch weiter erforschen wird, ist historisch in einem doppelten Sinn. Sie ist von epochaler Bedeutung und zugleich unwiederbringliche Vergangenheit.

JOHANN HINRICH CLAUSSEN

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