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Das ehemalige sowjetische Vielvölkerreich befindet sich in einer Phase des allgemeinen Umbruchs, es beginnt, sich in seine historischen und ethnischen Bestandteile aufzulösen. Eine zeitgemäße Gesamtdarstellung der Geschichte Rußlands von der frühmittelalterlichen Reichsbildung um Kiew bis zum Untergang der Sowjetunion wird daher ihr Augenmerk nicht mehr vornehmlich auf die einheitstiftenden Faktoren in der tausendjährigen Geschichte Rußlands richten, sondern sie wird die divergierenden und zentrifugalen Kräfte mehr ins Blickfeld rücken. Deshalb behandelt der Autor neben den Ereignisabläufen…mehr

Produktbeschreibung
Das ehemalige sowjetische Vielvölkerreich befindet sich in einer Phase des allgemeinen Umbruchs, es beginnt, sich in seine historischen und ethnischen Bestandteile aufzulösen. Eine zeitgemäße Gesamtdarstellung der Geschichte Rußlands von der frühmittelalterlichen Reichsbildung um Kiew bis zum Untergang der Sowjetunion wird daher ihr Augenmerk nicht mehr vornehmlich auf die einheitstiftenden Faktoren in der tausendjährigen Geschichte Rußlands richten, sondern sie wird die divergierenden und zentrifugalen Kräfte mehr ins Blickfeld rücken. Deshalb behandelt der Autor neben den Ereignisabläufen der ostslavisch-russischen Geschichte, die mit den Zentren Kiew, Moskau, St.Petersburg/Petrograd/Leningrad verbunden sind, auch die peripheren Regionen und ihre fortbestehende heterogene Vielfalt, die bisher allen Einigungsbestrebungen widerstanden hat.
Autorenporträt
Dr. Edgar Hösch war Professor für die Geschichte Osteuropas und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilian-Universität München
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Schnipp, schnapp, der Bart ist ab
Heiko Haumann und Edgar Hösch sehen die Geschichte Rußlands von der Dorfstraße und vom Feldherrnhügel / Von Sonja Zekri

Wenn eine Königsdisziplin wie die Gesamtdarstellung nach Jahren der Kinderlosigkeit plötzlich Zuwachs erhält, ist das ein Grund zur Freude. Sind es Zwillinge, verdoppelt sich die Freude. Seit Günther Stökl Anfang der sechziger Jahre seine "Russische Geschichte" schrieb, hat man sich daran gewöhnt, daß der Stökl alle paar Jahre eine Neuauflage, aber keinen Nachfolger erhält. Jetzt ist es gleich eine Doppelgeburt: Heiko Haumann und Edgar Hösch haben je eine "Geschichte Rußlands" geschrieben.

Haumann und Hösch sind Professoren für osteuropäische Geschichte - der eine in Basel, der andere in München -, und auf den ersten Blick ähneln sich ihre Bücher wie ein doppeltes Lottchen dem anderen: Land, Zeitraum, Erscheinungszeitpunkt und Titel sind identisch, beiden Bänden hat man zahlreiche Illustrationen und eine aktuelle Bibliographie gegeben - wobei das Haumannsche Werk mit Bildern, Fotos und Karten geradezu verschwenderisch ausgestattet ist -, ja, die Autoren verfolgen sogar dasselbe, wenn auch nicht überraschende Ziel: Vorurteile abzubauen.

Das Gerüst ihrer Darstellungen ist vorgegeben, und beide verfügen über die nötige Selbstbeschränkung, um den Leser sicher durch die Fakten- und Datenmengen zu leiten. Die Stationen sind bekannt: Im 9. Jahrhundert landeten Rjurik, der Waräger, und seine skandinavischen Brüder am Dnjepr, um den Slawen gegen die Steppenvölker beizustehen: Der Beginn des Kiewer Reiches der Rus; in den folgenden Jahrhunderten prosperierte die Rus, ein loser Städteverbund, der von Fernhandel und Raubzügen lebte und der nach dem Rotationsprinzip regiert wurde. 1240 fielen die Mongolen über Kiew her, das der Goldenen Horde politisch und militärisch nichts entgegenzusetzen hatte; die Khane übernahmen die Macht - sie waren in manchem besser als ihr Ruf: zumindest auf ihre religiöse Indifferenz konnte man sich verlassen. Noch unter den Mongolen stieg Moskau zur Regionalmacht auf, vor allem dank Iwan III., einem Zaren mit dem Gemüt eines Immobilienhais und dem Beinamen "kalita" - Geldbeutel.

Kirche und Thron rückten enger zusammen, die Orthodoxie legitimierte die Zaren, erhob dabei kaum weltlichen Machtanspruch. Als es 1667 zur Kirchenspaltung, zum "raskol", kam und sich die orthodoxen Fundamentalisten, die Altgläubigen, von der offiziellen Kirche lossagten, war dies nach Ansicht von Haumann auch eine Reaktion auf die Umbrüche der Zeit. Die Zaren versuchten, die kostspieligen Kriege mit Polen und Schweden durch immer neue Sondersteuern zu finanzieren. 1649 wurde die Leibeigenschaft gesetzlich fixiert. In diesem Durcheinander klammerten sich viele Bauern, Adelige und Kaufleute an die bisherige Glaubenspraxis der Altgläubigen. Immer wieder kämpften "Raskolniki" in den Bauernaufständen mit.

Spätestens jetzt waren Adel, Leibeigenschaft und Autokratie auf so unselige Weise verwoben, daß sich eines nicht reformieren ließ, ohne daß der Rest wackelte. Als in Rußland die Industrialisierung einsetzte, hatte das Land weder ein kapitalstarkes, aufgeklärtes Bürgertum noch einen unabhängigen Adel oder auch nur ein starkes Bauerntum. Ein besonderes Stadtrecht gab es nie: Stadtluft macht in Rußland nicht frei. Die "Großen Reformen" Mitte des neunzehnten Jahrhunderts brachten die Probleme erst richtig zum Vorschein. An Reformen dachte man in Rußland ohnehin immer nur, wenn Kriege finanziert oder Niederlagen verwunden werden sollten. Als der Zar 1905 die erste Duma wählen ließ, hatte er in den Ideen der Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten keinen Platz mehr. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, hat Gorbatschow gesagt. Die Zaren kamen fast immer zu spät.

In seiner Darstellung gebraucht Heiko Haumann einen Begriff wie einen Talisman in jedem Kapitel: "strukturelle Vielschichtigkeit". Darunter subsumiert er vieles, vor allem aber den Konflikt zwischen Selbstverwaltung und Zentralisierung, der sich in dem Riesenreich von selbst ergab. Haumann beschreibt ihn als Kampf mit offenem Ende: Die erste Volksversammlung, "wetsche", verzeichneten die Chronisten im Jahr 997, und die Selbstverwaltung auf dem Dorf regelte nicht nur das Steueraufkommen, sondern auch die Aufteilung des Bodens an die Familien. Solange die Bürokratie schwach war, blieb der zentralistische Staat auf diese Regelung angewiesen. Es war nicht die einzige Einschränkung der zaristischen Macht.

Selbst Peter I., nach Meinung von Haumann der einzige, wenigstens vorübergehend unumschränkte Selbstherrscher, konnte nicht schalten und walten, wie er wollte. Die reichen Fernkaufleute wiederum fürchteten Umsatzeinbußen durch die neue Handelsroute über St. Petersburg und sperrten sich gegen den Bau der Hauptstadt, so gut sie konnten. Der Hochadel wehrte sich stur gegen die Reformen. Er sah seinen Einfluß schwinden, weil nach dem Willen des Zaren auch Nichtadelige durch Leistung in den Adelsstand aufrücken konnten. Daß Peter I. den Bojaren die langen russischen Bärte abschneiden ließ, um sie mit dem westlichen Geist vertraut zu machen, ist überliefert. Standhaft boykottierte der Adel jeden Versuch, wenigstens der Oberschicht Bildung zu verschaffen: Eine Karriere beim Militär oder bei Hofe war prestigeträchtiger als das Studium. Peter I. reagierte zusehends ungeduldiger: Er forderte Eigenverantwortung, doch seine Beamten drängelten: Die russische Gesellschaft wurde zur "staatlichen Veranstaltung" (Dietrich Geyer).

Dennoch gehörte die spirituelle Überhöhung des Herrschers zum nationalen Konsens. In einem der spannendsten Kapitel erzählt Haumann, wie das messianische Charisma Alexanders I. sogar bis in den Westen strahlte: Aus Süddeutschland und aus der Schweiz flüchteten Anhänger der Erweckungsbewegung vor dem "Antichristen" Napoleon und pilgerten nach Südrußland, um in der Gegend von Samarkand, im heutigen Usbekistan, den Weltuntergang zu erwarten.

Die Industrialisierung verschlimmerte das Los der Leibeigenen: Ganze Dörfer wurden an die Besitzer von Bergwerken oder Fabriken verkauft. Erstaunlicherweise war die russische Gesellschaft dennoch offen für soziale Aufsteiger, und die Karriere vom Leibeigenen zum Unternehmer war, wenn auch nicht üblich, so doch prinzipiell möglich. Ausführlich widmet sich Haumann auch den Frauen und den Juden, allerdings schreibt er keine "Opfergeschichte". Das ist auch nicht nötig, denn die Russinnen lagen im europäischen Vergleich gar nicht schlecht: Es gehörte zum Alltag, daß die Frau die Geschäfte des Mannes vertrat, wenn dieser auf Reisen war; starb der Ehemann, wurde sie zum Familienoberhaupt. Die sozialrevolutionäre Bewegung - und ihre Attentate - sind ohne Frauen nicht denkbar. Juden waren im Zarenreich als Wirtschaftsfaktor mindestens ebenso wichtig wie als Sündenbock: In Krisenzeiten funktionierte der Antisemitismus als gut geölte Integrationsmaschine zwischen Staat und Volk. Dennoch oder gerade deshalb schrieben auch die Juden Revolutionsgeschichte, denkt man an den sozialdemokratischen jüdischen "Bund".

Wie die Bolschewiki die übrigen Revolutionsteilnehmer überrundeten, wie ihr Traum von der Weltrevolution auf das Maß der Sowjetunion schrumpfte, wie dieser Traum für ganze Völker zum Albtraum wurde und schließlich nach 74 Jahren endete, das alles schildert Haumann kritisch, aber nicht ohne Sympathie für die sozialistische Idee. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das mutig. Doch Haumann kann überzeugend darlegen, wie die Utopie von einer besseren Gesellschaft Wissenschaftler, Arbeiter und Künstler in eine nie gekannte Aufbruchstimmung versetzte; das gigantische Elektrifizierungsprogramm Goelro etwa ist ohne diese Euphorie nicht denkbar. Nur Bolschewisten und Bauern fanden nicht zueinander, zumindest nicht schnell genug für die ungeduldigen Kommunisten. Deshalb, und weil Gewalt inzwischen als politisches Mittel etabliert war, verrieten die Bolschewisten seiner Ansicht nach die humanitäre Idee: Die Frustration über das Nichterreichte machte die Militanz seit den zwanziger Jahren zum "Ersatzritus" - unter Stalin wurde sie zum Systemmerkmal.

Heiko Haumann ist ein glänzender Erzähler und plaudert sich in leichtem Ton durch die Jahrhunderte. Die vielen kleinen Geschichten um historische Persönlichkeiten sind in der Forschung nicht neu, aber selten haben sie sich so gut zu einem Gesamtbild zusammengefügt: die Adelige Morozowa etwa, die mit dem altgläubigen Protopopen Awwakum in wilder Ehe lebte und für ihren Glauben hingerichtet wurde, indem man sie in ein Erdloch eingrub und dort verhungern ließ; oder die Kosakenanführerin Alena, die mit Stepan "Stenka" Rasin, einem Robin Hood vom Don, Seite an Seite kämpfte. Oder Chruschtschow, der die Defizite der Planwirtschaft in seltener Selbsterkenntnis am Beispiel von Kronleuchtern schilderte: Deren Plan war in Tonnen festgelegt, und um ihn schnell zu erfüllen, produzierten die Betriebe immer schwerere Kronleuchter, bis diese schließlich von den Decken fielen: ein anschauliches Beispiel für die herrschende "Tonnenideologie".

Selten vereinfacht Haumann zu stark; aber die Erschließung Sibiriens mit dem Wilden Westen zu vergleichen ist kaum haltbar. Rauhe Natur, unwirtliches Klima und Pelzjäger gab es hier wie dort. Nur war der Osten viel dünner besiedelt als Nordamerika. Sibirien wurde nicht um den Preis des Völkermordes erobert. Und seine Erschließung wurde kein Gründungsmythos. Entwirft Heiko Haumann das Panorama Rußlands sozusagen von der Dorfstraße aus, so steigt Edgar Hösch auf den Feldherrnhügel. Seine "Geschichte Rußlands" ist detail- und dynastiegesättigt, spröder als Haumanns, aber faktenreicher: Wo Haumann episch wird, ist Hösch akribisch. Er richtet seinen Blick vor allem an den Rand des Vielvölkerstaates, zu dem Rußland seit der "Sammlung der russischen Lande" geworden war. Während Iwan III. fleißig Land im Osten sammelte, fielen die heute weißrussischen und ukrainischen Westgebiete, die Urgebiete des Kiewer Reiches, an Litauen, das nach 1569 mit Polen verbunden war. Das schuf religiöse und sprachliche Unterschiede, die nie wieder eingeebnet wurden. In der sowjetischen Geschichtsschreibung begegnete man dem mit bemerkenswerten historischen Interpretationen: Die Privatfehde des ukrainischen Kosaken-Hauptmannes Chmelnickij etwa, der nach einem Streit mit der polnischen Verwaltung Mitte des 17. Jahrhunderts zum Aufstand gegen die polnischen Magnaten blies, einen eigenen Staat ausrief und sich schließlich dem Zaren unterstellte, wurde als Beweis für die Sehnsucht der Ukrainer nach der Moskauer Zentrale gedeutet. Genau umgekehrt sieht es die Ukraine: Hier ranken sich um Chmelnickij nationale Mythen, der Privatkrieg gilt als Fanal des Aufbegehrens gegen die polnische Herrschaft.

H ösch zeigt, daß Rußland zwar ein Völkerkerker war, aber einer, der zu den gefangenen Völkern zuweilen milder war als zu seinem eigenen. Finnland etwa konnte eine Verfassung mit demokratischen Elementen behalten. In den polnischen Gebieten, die seit den Teilungen - "Inkorporierungen" nennt Hösch sie - zu Rußland gehörten, wurde die Bauernbefreiung so großzügig ausgelegt, daß der russische Muschik davon nur träumen konnte. Dies bedeutete jedoch kein grundsätzliches Umdenken, sondern nur einen Schlag gegen den nationalbewußten polnischen Adel, der Rußland mit den Aufständen von 1831 und 1863 herausgefordert hatte.

Nach Ansicht von Hösch hat der Zerfall der Sowjetunion nur eine Entwicklung nachgeholt, die etwa die Habsburger Monarchie oder das Osmanische Reich zu Anfang des Jahrhunderts vollzogen haben: die Aufteilung in Nationalstaaten. Zu dieser Entwicklung sieht er keine Alternative. Die aktuellen Versuche in Rußland, die Sowjetunion wiederzubeleben, weisen indessen in eine andere Richtung. Haumanns Blick in die Zukunft ist optimistischer: Er hofft, daß die Russen in Einzelinitiativen "von unten" einen goldenen Mittelweg zwischen russischen Besonderheiten und westlichen Ideen finden.

Heiko Haumann: "Geschichte Rußlands". Piper Verlag, München 1996. 736 S., 50 Abb., 13 Kart., geb., 78,- DM.

Edgar Hösch: "Geschichte Rußlands". Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 1996. 450 S., geb., 69,- DM.

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