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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1998

Was Zerbst war
Eine gerettete Stadtgeschichte

Reinhold Specht (1883 bis 1960), weiland Leiter des anhaltischen Staatsarchivs und Zerbster Stadtarchivar, gilt als einer der besten Kenner anhaltischer Geschichte. Er gehörte noch zu jener Generation von Historikern, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt eine damals moderne Landesgeschichtsschreibung Sachsen-Anhalts begründeten. In Fachkreisen allseits bekannt ist seine "Bibliographie zur Geschichte von Anhalt" von 1930.

Im Jahre 1924 beauftragte die Stadtverwaltung der früheren anhaltischen Haupt- und Residenzstadt Specht mit der Ausarbeitung einer Geschichte der Stadt Zerbst. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kam es nicht zur Fertigstellung des Werkes; Specht wurde zur Wehrmacht eingezogen. Ein Luftangriff am 16. Oktober 1945 zerstörte die bis dahin zauberhafte Stadt Zerbst schwer und vernichtete auch den größten Teil der Bestände des Stadtarchivs. Die Vorarbeiten für die Stadtgeschichte blieben aber erhalten. Specht, 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, ordnete die wenigen Reste des Stadtarchivs und ging daran, die Stadtgeschichte zu vollenden. Seine Aufzeichnungen waren nunmehr von besonderem Wert, da die meisten Quellen unwiederbringlich verloren waren.

1955 war das Werk vollendet. Die Drucklegung scheiterte aber an den mittlerweile in der DDR eingetretenen Verhältnissen. Die Geschichtsideologie der Ulbricht-Ära, die das "bürgerliche" Werk Spechts als nicht dem herrschenden Geschichtsverständnis entsprechend begriff, verhinderte den Druck. Materielle Engpässe, charakteristisch für die DDR, wie der Mangel an Druckpapier kamen hinzu.

Aus Anlaß des tausendfünfzigsten Jahrestages der Ersterwähnung von Zerbst hat nun die gegenwärtige Stadtverwaltung das Projekt von 1924 zu Ende gebracht und das zweibändige Werk der Öffentlichkeit übergeben: eine solide, in ungewöhnlich umfangreicher Weise quellengestützte Arbeit der "klassischen" Schule der Stadtgeschichtsschreibung, wie sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts entwickelt worden ist. Das umfangreiche Werk hat allerdings ein aus wissenschaftlicher Sicht problematisches Schlußkapitel, das mit "Zerbst von 1914 bis 1932" überschrieben ist. Hier stellt der Autor erlebte Zeitgeschichte dar. Seine persönlichen Erinnerungen und subjektiven Wahrnehmungen haben ohne Zweifel einen eigenen Reiz, bilden aber einen Bruch gegenüber der sonstigen Arbeit, die geeignet ist, einer breiten Leserschaft den Zugang zu wichtigen Fragestellungen der mitteldeutschen Geschichte zu eröffnen.

Ein ausführlicher Bildteil (zweiter Band) mit historischen Aufnahmen der 1945 so gut wie vollständig zerstörten Stadt vermittelt einen Überblick über das verlorene Stadtbild. MATHIAS TULLNER

Reinhold Specht: "Geschichte der Stadt Zerbst". Zwei Bände. Herausgegeben von der Stadt Zerbst. Anhaltische Verlagsgesellschaft, Dessau / Verlagsbuchhandlung Friedrich Gast, Zerbst 1998. Je Band 360 S., Abb., geb., zus. 80,- DM.

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