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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2002

Ach, du lieber Augustin
Ernst-Wolfgang Böckenförde packt die antike und mittelalterliche Rechtsphilosophie beim Kragen
Die schon länger erwartete „Geschichte” des emeritierten Freiburger Verfassungsrechtlers und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst- Wolfgang Böckenförde liegt nun vor. Sie ist „all denen” gewidmet, „die noch oder wieder an Grundlagenwissen interessiert sind”.
Das ist eine pointierte Stellungnahme im aktuellen Kampf der Grundlagenfächer der Juristenausbildung gegen das vermeintlich Moderne und Nützliche. Böckenfördes erste Botschaft lautet: Keine ernsthafte Jurisprudenz ohne Orientierung auf die theoretischen und historischen Grundlagen des Rechts. Diese Botschaft ist dem Rezensenten aus dem Herzen gesprochen. Und die zweite könnte lauten: So wie in diesem Buch könnte die Orientierung im Bereich der Rechts- und Staatsphilosophie aussehen. Ein zweiter Band, der die Zeit von Machiavelli über Hobbes zu Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Kelsen, Schmitt, H. L.A. Hart sowie etwa Rawls, Dworkin und Habermas umfassen müsste, ein solcher Band könnte und sollte dann folgen.
Aber künftige Hoffnungen sollen dem gegenwärtig Geleisteten nicht im Wege stehen. 2000 Jahre von der griechischen Polis bis zu Martin Luther solide zu überwölben, ohne Spezialist zu sein, ist ein Wagnis, wie Böckenförde selbst sagt. Dies zumal dann, wenn man den Anspruch erhebt, nicht nur textimmanent zu interpretieren, sondern auch das politische Umfeld der großen Philosophien im Umriss abzubilden. Da muss man den Mut haben, die Forschungsliteratur zusammenzufassen, Gipfelpunkte zu benennen und die entsprechenden „Täler” zu überspringen, also kleinere Autoren, Schulverzweigungen und das „Unbedeutende”, was immer es sein mag, beiseite zu lassen. Böckenförde hat diesen Mut.
Er führt den Leser zunächst durch die antike Rechts- und Staatsphilosophie, von den Vorsokratikern zu den Sophisten und Sokrates, zu Platon und Aristoteles, zur Stoa und schließlich zu dem an der Schnittstelle von Republik und Prinzipat, griechischer und römischer Kultur stehenden Cicero. Man erfährt die wichtigsten Lebensdaten, erhält eine Schilderung der „Ausgangslage” und kann dann in einem dichten Referat die jeweils markantesten Züge der einzelnen Philosophien oder Schulzusammenhänge nachvollziehen. Zusammenfassende Würdigungen schließen die Kapitel ab.
Nicht gesuchte Wallfahrtsorte
So verfährt Böckenförde auch im zweiten Teil, bei der christlichen Rechts- und Staatsphilosophie. Sie setzt mit dem großen Augustinus ein, springt dann achthundert Jahre zu Thomas von Aquin, dem der Autor sich besonders ausführlich widmet. Das ist ohne weiteres zu rechtfertigen mit Blick auf das Werk selbst, vor allem aber auf die tiefen Spuren die der kirchenamtliche „Thomismus” in der Sozialphilosophie bis ins 20. Jahrhundert hinterlassen hat. Zu diesen Spuren gehört auch die für das Völkerrecht so wichtige spanische Spätscholastik (Francisco de Vitoria, Francisco Suárez), die ein eigenes Kapitel erhält.
Dazwischen stehen die beiden kirchlichen Denker des Franziskanerordens, die vom Thomismus abweichend solche Positionen entwickeln, die schon die modernen Entzweiungen in sich tragen, nämlich die Zweifel an metaphysischen Wahrheiten, die quälenden Diskrepanzen zwischen Moral, Naturrecht und positivem Recht, die Unsicherheit über das Erkenntnisvermögen insgesamt, Johannes Duns Scotus also und Wilhelm von Ockham. Der eine ist in Köln, der andere in München begraben, und ihre Gräber könnten auch Wallfahrtsorte für die moderne Wissenschaftstheorie sein, wenn diese denn auf ihre historische Selbstreflexion Wert legte. Am Ende des Mittelalters steht, was konzeptionell überzeugt, der Augustinermönch Martin Luther, der mit seiner Orientierung am frühchristlichen Augustinus hinter die Scholastik zurückgeht und so die mittelalterliche Kirche weniger abschließt als aufsprengt. Luthers „Zwei- Reiche-Lehre” gibt, eher ungewollt, dem frühmodernen Staat sein eigenes Terrain, im Ergebnis nicht anders als die Lehren Machiavellis, der sich – an Fragen der Transzendenz nicht wirklich interessiert – völlig auf das politische Diesseits konzentriert.
Die auf diese Weise erreichte Verdichtung durch Konzentration auf große Rechts- und Staatsdenker hat allerdings auch ihre Kehrseite. Zunächst fallen dadurch die Lücken stärker auf. So taucht der gerade für die zunehmende Distanzierung von Kirche und Staat sowie für die Legitimierung von Recht durch Berufung auf den Volkswillen so wichtige Marsilius von Padua mit seinem ketzerischen „Defensor Pacis” (1324) nur in einer Fußnote auf. Von dem großen Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues gibt es gar keine Spur. Und weiter: Die Kapitel stehen in sich geschlossen nebeneinander. Von der gewaltigen Fernwirkung eines Aristoteles bis in das 18. Jahrhundert, ja auf dem Feld der politischen Philosophie bis in die Gegenwart, erfährt man nur nebenbei. Auch Thomas von Aquins oder Ciceros Rolle im Ausbildungs- und Bildungskanon des Abendlandes wird nur angedeutet.
Die kürzlich in zweiter Auflage erschienene Geschichte des philosophischen Denkens im Mittelalter von Kurt Flasch, die ebenfalls mit Augustinus einsetzt und mit Machiavelli und Luther endet, macht es anders. Flasch verfolgt die Mäander der Philosophiegeschichte problemorientiert und „erzählend” bis in ihre Verästelungen, während Böckenförde mehr nach dem Freiburger Vorbild Erik Wolf große Rechts- und Staatsdenker in abgerundeter Form präsentiert. Grund für diesen Unterschied ist der Umstand, dass Böckenförde sich als Rechts- und Staatsphilosoph versteht, der nicht nur historischer Beobachter, sondern auch philosophierender Benutzer ist.
Diese Doppelrolle führt zu der durchaus legitimen Frage, was man denn mit dem Erkenntnisgewinn beim Studium alter Philosophen anfangen soll. Gefragt wird also nach der Relevanz, früher „Lebenswert” genannt, genauer: nach der Belastbarkeit der älteren Aussagen vor dem Forum moderner Philosophie und Wissenschaftstheorie. Ausgeführt werden diese Tests bei Böckenförde nicht, aber man spürt doch, dass den Fragen an die alten Texte eine Energie zugrundeliegt, die sich irgendwann ihren Ausgang in die rechtsphilosophischen Fragen der postindustriellen Gesellschaft bahnen wird.
MICHAEL STOLLEIS
ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2002. XIII, 462 Seiten, 21,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Justitia blinzelt nicht
Ernst-Wolfgang Böckenförde läßt eine Quelle nie versiegenden Wissens zu Staat und Recht sprudeln / Von Christian Geyer

Das erste, was einem bei Ernst-Wolfgang Böckenfördes Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie durch den Kopf geht: "Schade, daß dieser Band nur bis Luther reicht". Daß er uns von Platon über Aristoteles, Augustinus, Wilhelm von Ockham bis zur spanischen Spätscholastik führt, aber dann schon bei der politischen Philosophie des Reformators abbricht. Die an Luther anschließende neuzeitliche Entwicklung bleibt uns - einstweilen? - vorenthalten, obwohl doch gerade sie es ist, die Böckenförde als rechtsphilosophischen Kopf inspirierte und ihm die zentralen Fragen vorgab, mit der er sich ein gelehrtes Leben lang auseinandersetzte: Worauf den modernen säkularisierten Staat gründen, nachdem sich in der Neuzeit die traditionelle religiöse Grundstruktur in individuelle Glaubens- und Gewissensentscheidungen aufgelöst hat und der Staat diese Freiheit in Form von Grundrechten garantiert? Oder, wie Böckenförde seine Kernfrage einmal anders formulierte: Worauf stützt sich ein Staat, der seit der Französischen Revolution "ohne geistiges Prinzip" sei, im Augenblick der Krise? Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an Böckenfördes an anderer Stelle veröffentlichte Arbeiten über Friedrich Karl von Savigny oder Lorenz von Stein, einflußreiche, der umstürzend neuen Rechtssituation verpflichtete Studien, die in diesem im sechzehnten Jahrhundert endenden Buch naturgemäß nicht fortgeschrieben werden konnten.

Was legitimiert die Ordnung nach der neuzeitlichen Entzweiung von Recht und Ethik? Es ist reizvoll, diese Böckenförde leitmotivisch interessierende, im Rahmen der Chronologie des Bandes aber eben nicht explizit behandelbare Fragestellung gleichwohl in die Darstellung der Rechtsentwicklung von Antike und Mittelalter hineinzulesen. Man hat dann gleichsam den Schlüssel in der Hand, mit dem uns Böckenförde die voraussetzungsreiche "Geschichte des Nachdenkens über Recht und Staat", wie er es nennt, aufschließt.

Der Komplexität des Gegenstandes, dem Ineinander von historischen, juristischen, philosophischen und theologischen Kategorien, dürften nur wenige Autoren von Hause aus so gewachsen sein wie Böckenförde, der hier seine Freiburger rechtsphilosophischen Vorlesungen zu einem eindrucksvollen Kompendium ausgebaut hat, das ein Handbuch zu nennen er sich aus guten Gründen scheut. Tatsächlich spricht der durchweg kolloquiale Charakter des Buches eher für das Anliegen des Autors, den Leser in ein Gespräch hineinzuziehen, eines von Lehrer zu Schüler ganz gewiß, aber doch ein solches, bei welchem der Dozent beständig die Mimik des Zuhörers im Auge behält, um sofort innezuhalten und präzisierend nachzusetzen, wenn das Gesicht des imaginierten Gegenübers einen fragenden, zweifelnden Ausdruck annimmt. Böckenförde tritt in diesem Buch als ein Lehrer jenes Schlages auf, wie er heute kaum noch zu finden ist: überlegene Gelehrsamkeit mit dem Drang verbindend, über seinen Gegenstand fortwährend selbst noch belehrt zu werden.

"All denen, die noch oder wieder an Grundlagenwissen interessiert sind" - was sich hinter dieser Widmungsformel des Buches verbirgt, ist nicht das Sentiment eines Altvorderen, der den Zeiten nachweint, als die Mediziner noch Philosophievorlesungen besuchten. Sondern es ist die in jeder Zeile spürbare, geradezu kindlich-staunende Faszination für die wechselnden Bemühungen der Menschheit, sich "Grundlagen" zu schaffen, sich mit einer Ordnung gegen sich selbst abzusichern. Wobei Böckenförde die anthropologische Dimension dieses Ringens in ihrer ganzen Fülle ausmißt, uns die prekäre Natur des Menschen in ihren wechselnden Beschreibungen vor Augen führt, um - dramaturgisch immer wieder gelungen - die historisch jeweils erreichte Ordnung dann nur noch als Wunder beobachten zu können. Und es zeigt sich, vor welch ungeheuren Herausforderungen die rechtsphilosophischen Konstruktionen stehen, solange man am Anspruch des Aristoteles auf substantielle Allgemeinheit des Rechts, am klassischen Leitbild des allgemeinen Gesetzes, festhält. Daß Böckenförde als Bundesverfassungsrichter mit seinen Sondervoten hervortrat, hat gelegentlich auch mit diesem aristotelischen Ethos zu tun gehabt: Justitia nicht durch die Augenbinde blinzeln zu lassen, verfassungsrechtlichen Widerstand zu üben gegen das Gebaren eines interventionistischen Gesetzgebungsstaates, wenn er versucht, mit "Situations- und Anlaßgesetzen, Zeit- und Experimentiergesetzen, Eintags- und Einweggesetzen" (Josef Isensee) das Leitbild des allgemeinen Gesetzes zu unterlaufen.

Andererseits sind es gerade die gesellschaftlichen Wirkungsbedingungen des Rechts, die Böckenförde als Schüler Otto Brunners immer wieder ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt und mit denen er nicht selten in ein und demselben Atemzug die von ihm gepflegte Fiktion einer vollkommenen Verfassungstheorie konterkariert, den Situations- und Experimentiergesetzen dann doch entschieden Vorschub leistend. Das sind nun einmal die Pole, zwischen denen Böckenförde kunstvoll lavierend das "Grundlagenwissen" seiner Rechts- und Staatsgeschichte entfaltet - nicht ohne in Fortschreibung der Kritik Otto Brunners und Carl Schmitts diesbezügliche Vorgaben aufnehmend dem Begriff Staat seine universale, transhistorische Allgemeinheit abzusprechen. Weder die griechische Polis noch das römische Imperium, noch die politischen Herrschaftsgebilde des Mittelalters wären in diesem Sinne ein Staat. Statt vom Staat bei Platon, Aristoteles, Augustinus oder Thomas von Aquin zu sprechen, plädiert Böckenförde für den Begriff der politischen Ordnung und will auch den Titel seines Buches insoweit nur als Abbreviatur verstanden wissen.

Daß Böckenförde als Schmittianer, Hegelianer, thomistischer Naturrechtler und ein dem sozialen Rechtsstaat verpflichteter Institutionentheoretiker sich nicht selten selbst ins Gehege kommt, mag eine programmatische Formulierung der Einleitung zeigen, mit welcher er die historischen Konzepte der Rechtsphilosophie auf folgende Frage festlegen will: "Sind darin bleibende, vielleicht unverlierbare Erkenntnisse und Reflexionen über Recht und politische Ordnung enthalten, werden Einsichten gewonnen, die zwar in ihrer Entstehung geschichtlich veranlaßt und erklärbar sind, in ihrer Bedeutung und sachliche Tragweite aber darüber hinausgehen, womöglich dauernden Bestand haben?" Wer außer einem absoluten Geist könnte schon ermitteln, was an einer Ordnung "unverlierbar", was "dauernd" ist? Und wo wäre der Ort einer Bedeutung, einer Tragweite anzusiedeln, wenn die Geschichte ebendiese Bedeutung und Tragweite angeblich gar nicht mehr zu fassen vermag?

Hier kommt eine petitio principii ins Spiel, über die man nur staunen kann, gerade wenn man wenige Seiten später Böckenfördes filigrane Unterscheidungsarbeit zur Kenntnis nimmt, mit der er bei Thomas von Aquin lex divina, lex naturalis und lex humana derart voneinander zu scheiden weiß, daß der Aquinate am Ende - ebenso überraschend wie überzeugend - bei allem Verhaftetsein in einer christlichen Einheitswelt doch als Avantgardist des modernen Rechtsverständnisses erscheint, als Vorkämpfer einer "ethisch defizitären Erhaltungsordnung" fürs pluralistische Zusammenleben. An spannungsreicher Tektonik fehlt es Ernst-Wolfgang Böckenfördes stupender Darstellung, deren Fortsetzung schon bald erscheinen möge, auf keiner Seite.

Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Geschichte der Staats- und Rechtsphilosophie". Antike und Mittelalter. UTB / Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2002. 462 S., br., 21,90 [Euro].

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