Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 14,45 €
  • Buch

Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2001

Die Vergangenheit tritt über die Ufer
Und die Historikerzunft wird vorläufig enteignet: Ein Sammelband begibt sich auf die Spuren der neuen Geschichtskultur

Das zentrale Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der neuen Hauptstadt Berlin, der Streit um Goldhagens "Willige Vollstrecker", Schindlers Liste, die Wehrmachtsausstellung, schließlich Norman Finkelsteins Thesen über die "Holocaust-Industrie" - die neunziger Jahre waren in der Bundesrepublik das Jahrzehnt der Geschichtsdebatten. Daß nach dem langen "Historikerstreit" die Geschichte und die Erinnerung an sie die Öffentlichkeit in diesem Maß umtreiben würden, hat die Geschichtswissenschaft selbst am meisten überrascht. Anders noch als beim "Historikerstreit" waren bei den zahllosen Anlässen die Historiker selbst auch nicht mehr diejenigen, die die Auseinandersetzung lenkten. Im Dreieck von Kanzleramt, Hollywood und medialer Öffentlichkeit trat die sogenannte Fachmeinung in den Hintergrund, die Historiker wurden vorübergehend enteignet. Bisweilen hatte es den Anschein, als seien die Wissenschaftler nicht in der Lage, einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, was völlig unvermittelt als Geschichte die Gemüter bewegte. Die Geschichtsdidaktik, die hier nicht nur in der Schule gefragt gewesen wäre, wurde von den Wissenschaftsministerien zur selben Zeit heruntergestutzt, viele Lehrstühle nicht neu besetzt. Aber nicht nur institutionell litt die Geschichtsdidaktik, sie war auch konzeptionell überfordert. Die schier unglaubliche Geschichtskonjunktur hätte Wasser auf die Mühlen der Geschichtsdidaktik sein sollen, statt dessen drohte sie in den Fluten unterzugehen.

Der Hallenser Historiker Hans-Jürgen Pandel stellte Ende der neunziger Jahre mit Recht fest, daß nicht die Schule und der Geschichtsunterricht, sondern eine außerschulische Geschichtskultur das historische Verständnis der Schüler prägten. Die Geschichtsdidaktik müsse diese Formen der Geschichtskultur einbeziehen, wenn sie nicht selbst anachronistisch werden wolle. Mit anderen Worten: Geschichte als lebensweltliche Gegenwart mitsamt den vielen Formen der Popularisierung und Emotionalisierung soll durch eine Didaktik, die bislang unausgesprochen von der Rationalität des Historischen ausgegangen war, reflexiv eingefangen werden. Die Herausforderung ist nicht gering, sie nun anzunehmen ist dringend geboten.

Der Band "Geschichtskultur" vereint eine Reihe von Beiträgen, die sich mit den neuen Vermittlungspotenzen auseinandersetzen. In einem grundsätzlich gehaltenen theoretischen Aufsatz von Bernd Schönemann über "Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur" wird das mäandernde Quellgebiet der Disziplin gewissermaßen kartographisch in große Regionen gefaßt. Das führt dann zu der zentralen Frage, wie Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur zusammenhängen. In der Tat wäre es mindestens leichtgläubig, anzunehmen, daß der Ausbreitung des Historischen von den Museen über das Fernsehen bis zum Film und zum Mittelalterfest eine Ausprägung von Geschichtsbewußtsein entspricht. Eine der Pointen von Schönemanns Bestandsaufnahme liegt denn auch darin, daß die Geschichtskultur selbst zum Gegenstand des historischen Lernens werden sollte. Im Idealfall könnte man gleichzeitig über die Geschichte in der Vergangenheit und in der Gegenwart lernen. Daß die universitäre Geschichtswissenschaft, insbesondere die Zeitgeschichte, die Arbeiten der Geschichtsdidaktik zur Kenntnis nimmt, scheint ein Gebot der Stunde. Anderenfalls wird sich noch verschärfen, was sich in den vergangenen Jahren ohnehin schon andeutete. Geschichtswissenschaft und allgemeine Geschichtskultur treten zunächst völlig auseinander und werden dann anders miteinander vermittelt, als man das bisher kannte. Das muß kein Nachteil sein, hat aber Konsequenzen sowohl für das Verständnis der universitären Geschichtsforschung in der Öffentlichkeit als auch für den allgemeinen Gebrauch von Geschichte.

So kann der Bochumer Historiker Heiner Treinen in einer ausgezeichneten Studie über "Prozesse der Bildwahrnehmung und Bildinterpretation in historischen Ausstellungen" nachweisen, daß die Mehrheit der Besucher solcher Ausstellungen "mitteilungsfähige symbolische Erfahrungen suchen, die mit Bezügen aus eigenen Erfahrungen koppelbar" sind. Die Geschichte wird am liebsten im Gespräch und anhand von Memorabilien erlebt. Anders gesagt: Für die Besucher historischer Ausstellungen ist das Reden über das Ausgestellte ebenso wichtig wie das Ausgestellte selbst. Das wichtigste: Die Besucher kommen selten mit dem Ziel ins Museum, etwas zu lernen; gesucht werden vielmehr Anschlüsse zu eigenen Anschauungsweisen. Treinen stellt unmißverständlich heraus, daß Strukturzusammenhänge ebenso schwer durch historische Ausstellungen zu vermitteln sind wie Einstellungsänderungen. Im Gegenteil: Für die Bekräftigung bereits vorgeformter Einstellungshaltungen scheinen historische Ausstellungen bestens geeignet zu sein. Das ist nicht nur für Ausstellungsmacher bedeutend, sondern ebenso für die Schule.

Neben solchen medialen Aspekten der Geschichtsdidaktik, neben Fragen nach Handlungsorientierung und nach den Institutionen des Lernens versammelt der Band auch Beiträge zur "Geschichtskultur als Kampf um Deutungsmacht". Von besonderem Interesse ist hier der Aufsatz von Wolfgang Kraushaar über "1968 als Chiffre, Mythos und Zäsur". Kraushaar macht mit wenigen Zahlen deutlich, in welchem Maß "1968" von einer langen Vor- und Nachgeschichte in seiner Bedeutung überhöht worden ist. In den fünfziger Jahren waren, so Kraushaar, Kundgebungen mit über hunderttausend Teilnehmern keine Seltenheit - die größte Veranstaltung der achtundsechziger Bewegung, der bundesweite Sternmarsch gegen die Notstandsgesetzgebung, brachte am 11. Mai 1968 gerade sechzigtausend Teilnehmer auf die Beine. Kraushaar hebt hervor, daß "1968" für die Bundesrepublik zu einem "Ursprungsmythos" geworden sei. Ob der "Erfolg" der "Fundamentalliberalisierung" unter den Bedingungen der Mediengesellschaft anhält, wie Kraushaar meint, oder ob sie sich längst in etwas anderes verwandelte, das mit "Liberalisierung" nicht mehr viel zu tun hat, darüber ließe sich streiten. Jedenfalls illustriert Kraushaars Beitrag das Anliegen des ganzen Bandes: Die Geschichtskultur produziert Maßstäbe historisch-politischen Urteilens und Erlebens, die sie selbst immer wieder revidieren muß.

MICHAEL JEISMANN

Bernd Mütter, Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann (Hrsg.): "Geschichtskultur". Theorie, Empirie, Pragmatik. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 2000. 368 S., br., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr