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Ein wichtiger und hochaktueller Beitrag zur Debatte über den Zustand unserer Demokratie.
Corona-Kritiker mit Blumenketten, Künstlerinnen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Journalisten, die sich als Rebellen gegen angebliche Sprechverbote inszenieren: Der libertäre Autoritäre hat Einzug gehalten in den politischen Diskurs. Er sehnt sich nicht nach einer verklärten Vergangenheit oder der starken Hand des Staates, sondern streitet lautstark für individuelle Freiheiten. Etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen - und frei von gesellschaftlicher…mehr

Produktbeschreibung
Ein wichtiger und hochaktueller Beitrag zur Debatte über den Zustand unserer Demokratie.

Corona-Kritiker mit Blumenketten, Künstlerinnen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Journalisten, die sich als Rebellen gegen angebliche Sprechverbote inszenieren: Der libertäre Autoritäre hat Einzug gehalten in den politischen Diskurs. Er sehnt sich nicht nach einer verklärten Vergangenheit oder der starken Hand des Staates, sondern streitet lautstark für individuelle Freiheiten. Etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen - und frei von gesellschaftlicher Solidarität.

Der libertäre Autoritarismus, so Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, ist eine Folge der Freiheitsversprechen der Spätmoderne: Mündig soll er sein, der Einzelne, dazu noch authentisch und hochgradig eigenverantwortlich. Gleichzeitig erlebt er sich als zunehmend macht- und einflusslos gegenüber einer komplexer werdenden Welt. Das wird als Kränkung erfahren und äußert sich in Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit.

Auf der Grundlage zahlreicher Fallstudien verleihen Amlinger und Nachtwey dieser Sozialfigur Kontur. Sie erläutern die sozialen Gründe, die zu einem Wandel des autoritären Charakters führten, wie ihn noch die Kritische Theorie sich dachte. Die Spätmoderne bringt einen Protesttypus hervor, dessen Ruf nach individueller Souveränität eine Bedrohung ist für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen: die Verleugnung einer geteilten Realität.
Autorenporträt
Carolin Amlinger, geboren 1984, ist Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel. Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Für sein Buch Die Abstiegsgesellschaft wurde er 2017 mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Jens-Christian Rabe empfiehlt das Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey all jenen, die sich für aktuelle gesellschaftspolitische Konflikte interessieren und eigene oder fremde Vorurteile vermeiden wollen. Was die Autoren "libertären Autoritarismus" nennen und als solchen analysieren, kennt Rabe selbst aus seiner eigenen Umgebung und jeder andere auch, wie er mutmaßt. Dass die Autoren dieses Phänomen aus dezidiert linkem Blickwinkel betrachten, entgeht Rabe nicht, ebenso wenig wie spannend das Buch ist, immerhin eine gewichtige sozialwissenschaftliche Studie. Eine willkommene Reflexion über Freiheit bietet das Buch darüber hinaus, so Rabe.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2022

Was, eine Maske soll ich tragen?
Aus links geprägten Milieus zu den "Querdenkern": Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben einen autoritären Typus der Gegenwart

Die Gesellschaften der Moderne haben eine ausgeprägte Neigung, ihre Geschichte mitsamt der zukünftigen Entwicklung als einen einsinnigen Prozess des Noch-mehr und des Noch-besser zu denken. Die Vorstellung, dass es Paradoxien und Kehrtwenden gerade infolge des Mehr und Besser gibt, liegt ihnen fern. Sie sperren sich geradezu gegen sie, denn ein genaueres Bedenken, zumal eines, das nicht nur die ökologischen Konsequenzen dieser Einsinnigkeit im Auge hat, hätte ein Innehalten zur Voraussetzung. Die Folgen dieser forcierten Einsinnigkeit, verstanden als Ideologie des unbedingten Fort- und Voranschreitens, hat die Autoren der Kritischen Theorie bereits in den 1930er- und 1940er Jahren stark beschäftigt und sie dazu gebracht, die Moderne und den Prozess der Modernisierung mit einer Reihe von Caveats zu umstellen. Sie selbst haben die Aufklärung, das Antriebsmoment der Moderne, mit Misstrauen betrachtet. Sie sei nicht nur eine Überwindung des Mythos, sondern könne auch ins Mythische umschlagen, selbst zum Mythos werden.

Für Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ist das die Anleitung zum Verständnis einer Entwicklung, die in jüngster Zeit deutlich zu beobachten ist: der Hinwendung vieler, die dem alternativen oder auch linksliberalen Milieu entstammen, zu einer aggressiven Opposition gegen die Gesundheits- und Vorsorgepolitik des Staates in Zeiten der Pandemie und der Ablehnung praktischer Solidarität mit der vom russischen Angriffskrieg überzogenen Ukraine - kurzum einer Annäherung an Positionen, die üblicherweise eher der politischen Rechten als der Linken zugerechnet werden. Das wird von den Betreffenden aber nicht im Sinne einer politischen Kehrtwende verstanden, sondern in protzigem Beharren darauf kommuniziert, sie seien die letzten Verteidiger der individuellen Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Amlinger und Nachtwey nennen sie "libertäre Autoritäre".

Der Charme des Buches besteht darin, dass die Autoren einerseits die breite Spur der Kritischen Theorie verfolgen und dabei vor allem die "Studien zum autoritären Charakter" sowie Erich Fromms "Die Furcht vor der Freiheit" heranziehen und andererseits vor diesem Hintergrund die von ihnen geführten Interviews mit Leuten aus der "Querdenker"-Szene auswerten, um unterschiedliche Profile des "libertären Autoritarismus" zu entwerfen.

Zunächst aber geht es darum, diese libertären Autoritären gegen den Typus des autoritären Charakters abzusetzen, wie er von den Autoren der Kritischen Theorie beschrieben wurde: auf Führerpersonen fixiert und ausgesprochen autoritätshörig. Gerade das lässt sich bei den libertären Autoritären nicht beobachten. Sie zeichnen sich vor allem durch ihre Ablehnung von Autorität, zumal der des Staates, aus. Die Autorität, der sie anhängen, so die These der beiden Autoren, ist die einer verdinglichten Freiheit, die nur die eigenen Handlungsspielräume im Sinne hat und sich nicht dafür interessiert, inwieweit durch das eigene Tun die Freiheit anderer eingeschränkt wird.

Das Autoritäre dieser Libertären bestehe darin, dass sie sich und ihre Interessen zum unbedingten Maßstab machen. Das unterscheidet sie von den Autoritären des vorigen Jahrhunderts, die Führerfiguren verehrten und vor allem buckelten, was nach autoritärem Staat aussah, selbst wenn dieser Typus vermutlich zuletzt wieder öfter anzutreffen ist. Zwei Typen dominieren Amlinger und Nachtwey zufolge den libertären Autoritarismus: der "Rowdy"/"Rebell" und der "Spinner", der sich seine eigene Welt konstruiert und sie gegen die Realität setzt. Der "Rowdy" empfindet schon die geringste Verhaltensnormierung, etwa die Aufforderung zum Tragen einer Maske, als unzulässigen Eingriff in seine Freiheit. Für ihn beginnt und endet der Tag mit demonstrativen Akten des "Widerstands" gegen solche Forderungen, auf andere Rücksicht zu nehmen. Der "Spinner" dagegen ist damit beschäftigt, sich und anderen zu erklären, warum der Staat in Wahrheit dazu auffordert, sich impfen zu lassen, und weitet dabei das Netz der Verschwörungstheorien immer weiter aus. Er ist autoritär, weil er seine selbst zusammengesponnene Welt zur absoluten Autorität in Sachen Welterklärung macht.

Die Stärke des Buches liegt dort, wo die Autoren, gestützt auf ihre Interviews, diese neuen Charaktere des Autoritären nachzeichnen, ihrer Herkunft aus Milieus der spätmodernen Gesellschaften nachgehen und die beiden Haupttypen charakterisieren. Weniger überzeugend fällt dagegen ihr Versuch aus, die Entstehung dieses Sozialcharakters aus Verwerfungen spätkapitalistischer Gesellschaften herzuleiten: Wenn ein Freiheitsanspruch angemeldet wird, der so exzessiv ist, dass die Freiheit der anderen nicht mehr in Anschlag gebracht und schon der geringste Hinweis auf Sozialität als "Kränkung" empfunden wird, so ist das kein Spezifikum des Kapitalismus, sondern Begleiterscheinung jeder Form gesellschaftlichen Lebens. In einer ökologischen Gesellschaft werden solche "Kränkungen" noch häufiger anzutreffen sein, und sie werden vor allem auf Dauer angelegt sein. Was, folgt man Amlinger und Nachtwey, heißt: Die Zahl der libertären Autoritären wird weiter wachsen. Darauf sollte man sich politisch einstellen. HERFRIED MÜNKLER

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: "Gekränkte Freiheit". Aspekte des libertären Autoritarismus.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 480 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2023

Wir sind so frei
Und, was sagt Twitter? „Libertärer Autoritarismus“: Oliver Nachtwey, Carolin Amlinger
und ihr Blick auf die Grabenkämpfe in der deutschen Gegenwart
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Dass Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger mit ihrem Buch „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ einen Nerv treffen könnten, schien gut möglich zu sein, als es im vergangenen Herbst erschien – nun dürfte es Gewissheit sein. Die beiden touren noch immer über die Diskussionspodien der Republik. Ihr „libertärer Autoritarismus“ ist ein Begriff geworden, zu dem sich längst nicht mehr nur alle anderen Soziologie-Professorinnen verhalten müssen. Allein Nachtweys kritischer Twitter-Kommentar zum jüngsten NZZ-Interview von Juli Zeh wurde mehr als 400 000 Mal angesehen.
Vom „libertären Autoritarismus“ war da explizit allerdings nicht die Rede. Der Hinweis zielte tiefer und schmerzhafter in die Mitte der Gesellschaft: Nachtwey sah in Zeh, einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen des Landes und ehrenamtlichen Brandenburger Verfassungsrichterin, sowie in Simon Urban, dem Co-Autor ihres neuen Romans „Zwischen Welten“, Repräsentanten eines neuen politischen Lagers, das zwar „quer zur traditionellen Rechten und zum Konservativismus“ stehe, aber doch den Kulturkampf gegen „alle Formen des (Links-)Liberalismus“ betreibe. Das Lager sei „nicht homogen“ und alles andere als fest formiert, „die Vektoren“ zeigten jedoch alle in die gleiche Richtung: „anti-woke, corona-skeptisch, Angst vor kultureller Überfremdung und für ,Diplomatie‘ im Ukraine-Krieg“. Dass da etwas im Entstehen sei, sehe man auch daran, so Nachtwey, dass sich dem Lager längst auch bekannte Zeitungen und Verlage (NZZ, Welt, Westend) und neue Thinktanks (Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, Republik 21) zurechnen ließen. Rumms.
Tausende aufgeregte Kommentare folgten. Und was den einen zu weit ging, ging den anderen nicht weit genug, wobei das stärkste Lager, wie immer in solchen Fällen, die zu bilden schienen, die mal wieder gar nichts Neues erkennen wollten, nur einfach ganz altes Rechtes. Aber ist es wirklich so einfach? Schön wär’s.
Das immerhin denkt man, wenn man sich die Mühe macht, nicht nur die Tweets, sondern zum Beispiel das Buch Nachtweys und Amlingers zu lesen, dessen Ausgangspunkt auch ein Eindruck aus dem näheren Umfeld ist, aus der Sphäre, die tendenziell als gesellschaftliche Mitte begriffen wird. „Gekränkte Freiheit“ beginnt mit dem Satz: „Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten.“ Das Bild der ideologischen Drift, das Nachtwey und Amlinger für diese Entwicklung finden, ist so einleuchtend, wie die Entwicklung ist. Oft, so Nachtwey und Amlinger weiter, handelte es sich bei diesen Bekannten um Menschen, „die sich selbst als aufgeklärt und liberal beschreiben und die nicht selten über umfassende Bildung verfügen“. Ihre Sorge gelte jedoch nicht autoritären Populisten wie Trump oder Putin, vielmehr wähnten sie sich eingeschnürt von einer Vielzahl von Regeln, Vorschriften und Verboten: „Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungekannten Ausmaßes vorbereiten.“
Nun beließen es Amlinger und Nachtwey, die beide an der Uni Basel arbeiten (sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement für Literaturwissenschaft, er als Soziologie-Professor), aber nicht bei der ersten Beobachtung, um schneller zu Diagnose und Erklärung zu kommen. Ihre Schlüsse fußen vielmehr auf einer Online-Umfrage unter 1000 Querdenkern und Querdenkerinnen und auf über 60 ausführlichen Interviews mit Personen aus der Querdenker-Szene und mit aktiven AfDlern und AfDlerinnen.
Am Ende gibt es einen sinistren Neuzugang im Personal der Gegenwart, den „libertären Autoritären“. Der Begriff erscheint schon auf den ersten Blick widersprüchlich, das Libertäre, das radikal Freiheitliche ist ja eigentlich genau das Gegenteil des Gehorsam fordernden Autoritären – aber genau darum geht es. Anders als klassische Rechte, so Amlinger und Nachtwey, wollten die libertären Autoritären „einen schwachen, geradezu abwesenden Staat“. Auch die üblichen Merkmale autoritärer Persönlichkeiten wie Konventionalismus, Unterwürfigkeit oder Führerkult seien ihnen völlig fremd. Dagegen gehe ihnen ihre individuelle Freiheit über alles. Die Rigorosität und Absolutheit, mit der sie für ihre Freiheit und Autonomie eintreten, sei allerdings auch der Punkt des Umschwungs ins Autoritäre. Sie verneinten die „Solidarität mit vulnerablen Gruppen“, trügen rechte Verschwörungserzählungen vor, aber wiesen den Vorwurf, rechts zu sein, entschieden zurück, und sie seien „verbal martialisch“ und „hoch aggressiv“ gegen all jene, die sie als Verursacher von Einschränkungen ihrer Freiheit identifizierten. Libertär-autoritär seien sie demzufolge, „weil sie sich an keine sozial verpflichtenden Normen mehr gebunden sehen, verinnerlichte Rücksichtnahmen abgestreift haben und obsessiv auf eine äußere Gefahr fokussiert sind“.
Die durchaus vorhandene und eigentlich erwünschte Herrschaftskritik, die damit einhergeht, lassen Amlinger und Nachtwey allerdings nicht gelten. Sie erscheint ihnen durch die prinzipielle soziale Rücksichtslosigkeit der libertären Autoritären „schiefgestellt“. Die Antwort auf die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass sich das gute alte Ideal der Freiheit so mit illiberalen Ansichten verbunden werden konnte, wird ausführlich, aber womöglich etwas zu routiniert paternalisierend psychologisch beantwortet. Schuld ist natürlich der Kapitalismus. Genauer: Die Überforderung der für libertär-autoritäre Einstellungen Anfälligen durch die Widersprüche und Zumutungen der kapitalistischen Modernisierung. Die verspreche zwar Individualisierung und Autonomie, produziere aber frustrierende ökonomische Zwänge aller Art, woraus sich die paradoxe Situation ergebe, dass die libertären Autoritären gegen die „spätmoderne Gesellschaft“ im Namen von deren zentralen Normen rebellierten: Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. In den drei Kapiteln je einer speziellen Variante libertärer Autoritärer – dem gefallenen Intellektuellen, der Querdenkerin und dem „regressive Rebellen“ – spielen Amlinger und Nachtwey eindrücklich durch, was das konkret bedeuten kann.
Wie diesen Ausführungen unschwer zu entnehmen ist, ist das Buch unmissverständlich aus einer linken Perspektive geschrieben, die in der Tradition der klassischen Kritischen Theorie steht, die Adorno und Horkheimer mit ihrem Frankfurter Institut für Sozialforschung weltberühmt machten. Das einschlägige IfS-Projekt „Studien zum autoritären Charakter“ aus dem Jahr 1950 ist ein zentraler Bezugspunkt Nachtweys und Amlingers. Von dem damit einhergehenden, gelegentlich etwas enervierend tendenziösen Vokabular (Spätmoderne!) und dem habituellen Antikapitalismus (Massenkultur! Verdinglichung!) sollten sich aber gerade die nicht abschrecken lassen, die abweichende politische Grundintuitionen haben. Nachtwey und Amlinger sind nämlich alles andere Dogmatiker, eher aufrichtige Grübler, die ernsthaft verstehen wollen, was gerade eigentlich los ist. Und sie können schwungvoll schreiben, für eine sozialwissenschaftliche Studie dieses Anspruchs und Umfangs ist der Band beinahe ein Pageturner.
In seinem – erstaunlich zurückhaltend explizierten – Kern steht die überfällige und eher immer noch wichtiger werdende Reflexion über das, was wir als unsere Freiheit verstehen wollen oder sollten. Also – wie die libertären Autoritären – als individuellen, „verdinglichten“ Besitzstand, oder nicht doch lieber als einen gesellschaftlich geteilten Zustand, als etwas, dass es ohne und mit allen anderen nicht geben kann. Ein konsequentes Bekenntnis (und nicht bloß die gängige sonntagsredenhafte Beschwörung) dieser Idee, würde allerdings eine große Diskussion über demokratische Pflichten bedeuten, die die Politik scheut, weil sie um keinen Preis übergriffig erscheinen will.
Empörte Kritik am Buch kam entsprechend bislang vor allem von den Freiheitsfreunden, die nicht bereit sind, sich auf die Untiefen ihrer Überzeugung einzulassen und sich in die falsche Ecke gestellt fühlen. (Ihnen wird nur leider alles, was nicht vorbehaltlos Freiheit ist, sofort zu Unfreiheit. Mit so schroffen Gegensätzen lässt sich vielleicht ein Punkt in einer Fernsehtalkshow machen, seufz, aber keine triftige Gesellschaftsanalyse.) Bedenkenswerter erscheint der Einwand, dass wohl nicht nur der Kapitalismus gravierende Kränkungen hervorbringen kann. Und sicher ist auch noch nicht völlig klar, ob die Identifikation eines sinistren Sozialcharakters und die damit einhergehende Stigmatisierung demokratietheoretisch wirklich vernünftig ist, weil sie letztlich keinen Raum mehr lässt für legitime Kritik (und nicht bloß „schiefgestellte“) aus dieser Ecke. Gegenüber den Stärken der Studie sind Einwände dieser Art allerdings zweitrangig.
Anders gesagt: Allen, die mehr Klarheit über zentrale gesellschaftspolitische Konflikte unserer Tage gewinnen möchten und nicht bloß Vorurteile ventilieren, sei das Buch unbedingt empfohlen. Auch wenn die Laune danach eher nicht besser ist als zuvor. Man weiß aber immerhin genauer, warum. Und man ahnt, dass die Zahl der libertären Autoritären und ihrer Verwandten eher zunehmen wird. Die Zukunft im Angesicht von Klimawandel und weltpolitischer Polarisierung dürfte ja leider nicht nur für Freiheitsfanatiker noch so einige Zumutungen und Kränkungen mit sich bringen.
Ihre Schlüsse fußen auf
Umfragen unter Querdenkern
und Interviews mit AfDlerinnen
Einwand: nicht nur der
Kapitalismus kann gravierende
Kränkungen hervorbringen
Carolin Amlinger,
Oliver Nachtwey:
Gekränkte Freiheit –
Aspekte des libertären Autoritarismus.
Suhrkamp, Berlin 2022.
479 Seiten, 28 Euro.
Der Soziologe Oliver Nachtwey und die
Literatursoziologin
Carolin Amlinger lehren an der Universität
in Basel und bringen
in ihrem gemeinsamen Buch den zentralen
Konflikt dieser Tage
auf den Begriff.
Foto: Jürgen Bauer/Suhrkamp
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»Nachtwey und Amlinger sind nämlich alles andere Dogmatiker, eher aufrichtige Grübler, die ernsthaft verstehen wollen, was gerade eigentlich los ist. Und sie können schwungvoll schreiben, für eine sozialwissenschaftliche Studie dieses Anspruchs und Umfangs ist der Band beinahe ein Pageturner.« Jens-Christian Rabe Süddeutsche Zeitung 20230131