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Produktdetails
  • Verlag: Königshausen & Neumann
  • 5. Aufl.
  • Seitenzahl: 274
  • Erscheinungstermin: März 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 445g
  • ISBN-13: 9783826014956
  • ISBN-10: 3826014952
  • Artikelnr.: 07657992
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.1998

Feldstudien vom Lied-Darwinismus des Fußballfans

Die Südkurve ist ein Freiraum, in dem sich Menschen der Verwaltung entziehen können. Dort herrscht das "kreative Chaos", aus dem immer wieder Neues entsteht. Dieses erstaunliche Resümee ziehen der Würzburger Musikpsychologe Reinhard Kopiez und der Kölner Musiklehrer Guido Brink in ihrem facettenreichen Werk über das Phänomen der Fangesänge vor allem in Fußballstadien. Mit dem Aufnahmegerät im Rucksack betrieben sie klassische Feldstudien in den besagten Südkurven. Dort stimmen die Fans, beileibe "kein grölender Haufen", ihre nicht selten deftigen Gesänge an, schmähen den Gegner. Sie motivieren die eigene Elf, schreien lustvoll und verzückt. Sie loben, appellieren, spotten. Sie animieren rhythmisch zur At-tak-ke, lassen Aggressionen ab und kommentieren glücklich oder enttäuscht im Stil eines antiken Chors: Spontanes, synchrones Singen und Klatschen aus einem umfangreichen, vereinsbezogenen und nachvollziehbaren Repertoire ohne Dirigent als "neue Form des öffentlichen Singens". Das Stadion wird durch Großgruppen-Präzisionsgesang zur Bühne für die Tragödie unserer Zeit oder zur Kathedrale, wenn in Cardiff 50000 Zuschauer auf allen Plätzen inbrünstig die Hymne "Jerusalem" anstimmen.

Die FANomenologie rückt das Klischee vom banausischen Fan, der im Gegenteil wählerisch und eigensinnig ist und im Kern Kind bleibt, zurecht. Sie analysiert die (nach)schöpferische Kraft dieser schriftlosen Volkskulturform und geht der komplexen Genese der Fangesänge nach. Die Pop-, Gospel-, Opern- oder Karnevalsmelodien wurzeln tief. Paradebeispiele des breitgefächerten Repertoires, das die Verfasser transkribiert haben, sind "Yellow submarine" (von den Fans in "Ihr seid nur ein Karnevalsverein" umgedichtet), "When the saints" ("Der F-C-K"), "von den blauen Bergen" ("Und wieder deutscher Meister BVB"), "Guantanamera" (selbstironisch "Ruhrpottkanaken"), Triumphmarsch aus "Aida" (textlos "Lalala") oder "Die Tramps von der Pfalz" ("Wir ham den Cup"). Aus solchen Anleihen und eigenen Rhythmus-Erfindungen entsteht mit Witz, Biß und Kreativität jener Melodienstrauß, dessen Mechanismen die Verfasser wissenschaftlich exakt und zugleich mit humorvoller Distanz nachgehen. Das reicht von der Antike über den heiligen Augustinus, der einen Hauch von Mystik beisteuert, bis zu musiktheoretischen psychologischen und ästhetischen Aspekten. Das Gruppensingen im Fußball und beim Eishockey steht - wie überzeugend dargelegt - der Volksliedtradition nahe und ist daher keineswegs geschichtslos. Fest zur Fankultur gehört die ritualisierte Form der Aggression der provozierenden Texte und strategischen Boshaftigkeit der Fans, die außerhalb des Stadions ihr individuelles Leben als Nicht-Fan gestalten. So verfremden die Verfasser Seumes Wort zur pointiert paradoxen These: "Böse Menschen haben viele Lieder."

Nicht nur auf dem Rasen wird ums "Überleben" gekämpft, auch auf den Rängen vollzieht sich ein Wettstreit um die stimmliche Vorherrschaft, ein "Lied-Darwinismus". Der Stärkere, Lautere oder Einfallsreichere setzt sich mit oder ohne Generalbaß (Trommeln) durch.

Die beigelegte CD leitet ein nostalgisches Lied ein, als die Kicker noch lauthals sangen: "Wir kämpfen nicht für silberne Pokale, wir treten ein für höhere Ideale." Viele Hits der Gesangskultur der Fans fehlen leider als akustische Beispiele. Die Gema belegt trotz Textverfremdung die Wiedergabe sogenannter "geschützter" Melodien mit hohen Abgaben. So ist es eher ein Appell an die Gerechtigkeit als ein anarchistischer Wunsch, daß sich ein juristisch beschlagener Fangesangsschöpfer seine Aufführungsrechte und damit Tantiemen erstreitet - eine hintersinnige Schlußpointe. HANS-DIETER KREBS

Besprochenes Buch: Reinhard Kopiez/Guido Brink: "Fußball-Fangesänge. Eine Fanomenologie". Königshausen & Neumann, Würzburg, 274 Seiten plus CD, 39,80 Mark.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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