Produktdetails
  • Verlag: Philo
  • ISBN-13: 9783825701420
  • ISBN-10: 3825701425
  • Artikelnr.: 30833355
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2001

Freie Texte für freie Bürger
Das gibt's doch gar nicht: Winfried Hassemer mag das Recht nirgends finden, träumt aber von Geschenken und Liebe zu Justitia

Freiheitliches Strafrecht! Ein wohlgewählter Titel. Wenngleich oder gerade weil er manchen stutzen macht. Winfried Hassemer aber hat genau das gewiß gewollt. Zu Recht. Denn es gilt aufzuwecken. Manch alteuropäischen Dogmatiker. Und erst recht die vielen braven Bürger, die stets nicht nur zuerst - dafür ließe sich Verständnis aufbringen - sondern ausnahmslos an ihre eigene Sicherheit und Freiheit denken. Ohne jemals auch zu bedenken, daß ein humanes Strafrecht die Freiheit aller schützen soll. Auch die des Beschuldigten. Diesen vor allem - aber keineswegs allein - davor, schuldlos verurteilt zu werden. Der brave Bürger und das Strafrecht ist überhaupt ein Kapitel für sich. Das hat Gründe. Ein Hauptgrund: Viele identifizieren schlicht Recht mit Strafrecht. Das ist es auch, was sie zu kennen glauben. Schließlich steht davon jeden Tag etwas in der Zeitung. Und den "Mord nach der Tagesschau" gibt es nicht nur am Sonntag.

Speziell vom Strafrecht hat auch jeder seine eigene Meinung. Selbstredend die einzig richtige. "Denn in Fragen der Gerechtigkeit sind alle sachverständig und allemal frei in der Äußerung ihrer Expertise." So wird für die Todesstrafe nicht nur von Taxifahrern und an deutschen Stammtischen plädiert. Die Medien - gemeint sind allein die grundsoliden - präsentieren sich in Sachen Strafrecht gleichfalls mitunter als auffallend ahnungslos. So ist von Nachrichtensprechern und -sprecherinnen häufig zu hören, dieser oder jener sei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Obwohl unser Strafgesetzbuch aus guten Gründen keine Gefängnisstrafen mehr kennt. Auch nicht mehr die besonders diskriminierende Zuchthausstrafe. Statt dessen allein die Freiheitsstrafe. Helmut Kohl, hört und liest man, habe 300 000 DM "Buße" zu zahlen. Ein allseits bekannter Journalist einer hochangesehenen Wochenzeitung spricht in diesem Zusammenhang gar ohne erkennbaren Anflug von Ironie von Bußgeldbescheid. Hier wird das Strafrecht mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht verwechselt.

Aufklärung also tut dringend Not. Zunächst und primär aber vor allem hinsichtlich so prinzipieller Fragen wie der nach den "Grundlagen und Grenzen des Strafens". Darüber informiert Hassemer überaus gründlich in einer der vier großen Abteilungen des Bandes, in denen jeweils vier Beiträge zusammengefaßt sind. Die anderen übergreifenden Themen lauten: "Innere Sicherheit", "Die ,Moderne'" und "Institutionen der Freiheitlichkeit". Der Leser kann einsteigen, wo er mag. Kundige kennen das eine oder andere schon, handelt es sich doch ausschließlich um Arbeiten, die in den letzten rund 20 Jahren hier und da ihre "Vorveröffentlichung" gefunden haben. Vielfach freilich an Stellen, die für Nicht-Strafrechtler nur mühsam zugänglich sind. An die aber hat der Autor in erster Linie gedacht. Das allein rechtfertigt die Aufsatzsammlung. Zudem das sympathische Freiheitspathos des Winfried Hassemer, das auf diese Weise wahrlich umfassend die Leser erreicht. Und stimuliert. Den einen oder anderen auch irritiert, zumal wenn er liest, daß und wie der Strafrechtsprofessor, Rechtsphilosoph sowie seit einigen Jahren außerdem Bundesverfassungsrichter gelegentlich ins Schwärmen und Träumen gerät.

Ich kann nichts Schlimmes dabei finden. Erst recht nicht, weil Hassemer realistisch genug bleibt, um nicht zu verkennen, daß ein "Traum auf dem Weg in die Wirklichkeit unausweichlich an Substanz verliert". Diese Einsicht gilt ausdrücklich dem "Menschheitstraum", daß "alle, wie es die Verfassung will, in ihren Rechten auf Gesundheit, Freiheit oder Eigentum gleichmäßig geschützt sind". Doch wird man sie gleichfalls auf den frommen Wunsch zu beziehen haben, die "Dritte Gewalt" möge ihre Aufgabe, "über die Grundrechte im Alltag (zu) wachen", als "Geschenk an die Justiz" begreifen. Aber damit ist der Traum noch nicht ausgeträumt. In seiner vollen Länge sieht er so aus: "Das ist ein Geschenk an die Justiz, es verbindet sie mit den Bürgern, muß sie den Menschen lieb und wert machen, ihr Kredit und Respekt verschaffen." Manche mögen's ein bißchen nüchterner. Warum jedoch soll man Hassemer nicht ein ungeschriebenes Grundrecht auf Utopie zugestehen? Freilich: Das gibt es nicht. So wenig wie das Recht überhaupt.

Also auch kein freiheitliches Strafrecht? Ja und nein. Als Wort schon. Indessen als eines ohne Referenten. Wäre es anders, hätte Hassemer gar nicht zu schreiben brauchen. Aber er tut es. Er schreibt als Aufklärer von Geblüt, macht sich argumentativ stark, ja wirbt geradezu für Einsichten und Verhaltensweisen, die, hätten und befolgten sie nur möglichst viele von uns, durchaus geeignet wären, doch so etwas zu etablieren, das schließlich einen Namen verdiente wie eben "Freiheitliches Strafrecht". Oder aber nur schlicht: Recht. Die Behauptung, daß es das nicht gäbe, ist noch immer geeignet, den wildesten Widerspruch zu provozieren. Nicht nur bei Laien. Auch einfache Dogmatiker dessen, was sie Recht nennen, fühlen sich herausgefordert. Nicht anders die allermeisten sogenannten Rechtspraktiker. Und selbst Rechtstheoretiker sprechen und schreiben noch heute ungeniert von Rechtsfindung und Rechtserkenntnis. So als sei da immer schon etwas vorhanden, das es nur noch zu finden oder zu erkennen gälte. Selbst Hassemer unterläuft schon einmal der Lapsus, Rechtsfindung zu sagen. Obwohl just er es besser weiß. Man hat uns allen das längst obsolete Vokabular offenkundig so eingebleut, daß wir es noch immer mitschleppen.

Gerade Hassemer und sein unlängst verstorbener Lehrer Arthur Kaufmann haben ein gerüttelt Maß an Verdienst daran, die alteuropäische Methodenlehre als Irrlehre enttarnt zu haben. Andere haben kräftig mitgeholfen. Hassemer nennt ihre Namen anerkennend ein um das andere Mal. Unter ihnen vor allen Josef Esser, Martin Kriele, Friedrich Müller und auch Klaus Lüderssen. Das alles ist nachzulesen in einem Aufsatz, den ich zu den Kabinettstücken des an gut gelungenen Beiträgen ohnehin reichen Bandes zähle. Sein Titel: "Juristische Hermeneutik". Die geht alle an. Nicht zuletzt die Nicht-Juristen, damit sie sehen, was die Berufsjuristen so treiben. Die wurden alle als Hermeneutiker sozialisiert. Den Jurastudenten und Studentinnen von heute ergeht es selten besser. Und das ist schlecht. Jedenfalls dann, wenn es nicht gelingt - wovon aber bislang kaum die Rede sein kann -, den Stellenwert der juristischen Hermeneutik neu zu bestimmen. Warum? Das einzusehen dürfte eigentlich so schwer nicht sein. Erst recht nicht nach der Lektüre von Hassemers Aufsatz.

Was der Autor hier auf zusammen nur wenig mehr als zwanzig Seiten anmerkungsreich klug unterstützt und pointensicher sowie - nach eigenem Bekenntnis - "zugespitzt" zu Papier gebracht hat, ist ein Stück bravouröser juristischer Essayistik. So elegant können nicht viele von uns schreiben. Darüber kann der Rezensent fast vergessen, nicht in allen Punkten mit Hassemer einig zu sein. Einen möchte ich nennen. Wenn es "klar war" - und hoffentlich für immer klar ist -, "daß weder das Gesetz selbst noch die Regeln der Methodenlehre die Gesetzesauslegung von sich aus sicherstellen können", dann wird die Frage unabweisbar: Wer schafft es dann? Offenkundig niemand. Jedenfalls nicht die herkömmliche Hermeneutik. Denn die ist nach ihrer unüberbietbaren Charakterisierung durch Odo Marquard "die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu - wenn man doch den Text hat - brauchte man sie sonst?" Sic! Doch benötigen wir sie überhaupt? Und wenn, auch das müssen die Hermeneutiker unter den Juristen sich fragen lassen, dann wozu? Da kann uns Hassemer vielleicht doch ein Stück weiterhelfen.

An einer Stelle läßt er ganz souverän Auslegung Auslegung sein, verschont mithin die Texte von ihr. Leider nur einen halben Satz lang. Der aber hat es in sich. Darin ist die Rede vom "fachmännischen Umgang mit dem Gesetz". Denn Umgang mit Gesetzen meint anderes als nur Auslegung. Was es im einzelnen genau bedeutet, muß sorgfältig herausgearbeitet werden. Bei Hassemer kann man fündig werden. Das liegt daran, daß er seinen Begriff von Hermeneutik äußerst weit faßt. Hassemers Hermeneutikdefinition endet so: Sie "ist ein strukturelles Phänomen, das Beachtung für jedwede Art wissenschaftlicher Tätigkeit fordert, sie liegt den einzelnen Wissenschaften voraus und zugrunde". Mit einem Wort: Es gibt fast nichts, was die Hermeneutik nicht umfaßt. Und das ist in einem Sinne auch gut so. Anders gewendet: Dem Richter entgeht auf diese Weise nichts. Eine recht verstandene Hermeneutik macht es möglich. Wenn sie eines mit Sicherheit lehrt, dann dies: Für die Textarbeit des Richters ist a priori kein Text ausgeschlossen.

Der professionelle Umgang mit Gesetzen erweitert sich zum Umgang mit Texten überhaupt. Die wichtigsten kennt jeder. Das sind die Präjudizien. Dazu kommen die wissenschaftlichen Texte der Rechtsdogmatik. Und das ist nur der freilich wirkungsmächtigste Anfang. Am Schluß seines facettenreichen Hermeneutikaufsatzes spricht Hassemer noch von der "szenischen Phase richterlichen Handelns". Die wird von anderen regelmäßig übersehen. Mit trauriger Konsequenz fehlt der überkommenen Methodenlehre der Blick für das allermeiste, was es außer Gesetzestexten sonst noch gibt. Und dabei speziell für das, was es zu allererst geben muß, sollen Gesetze nicht nur in Gesetzessammlungen stehen, sondern in praxi angewendet werden. Das ist der Sachverhalt, der Fall. Der fällt so wenig vom Himmel wie die richtige Entscheidung im Gesetz steht. Er muß hergestellt werden. Kaum einer kümmert sich darum. Hassemer moniert es. Dafür muß man ihm besonders dankbar sein. Die "Herstellung des Sachverhalts" geschieht in der szenischen Phase richterlichen Handelns. Wo sonst? Und mittels einer nicht auf Texte bornierten Hermeneutik.

Wenn sie dazu beiträgt - und das wäre sicher eines ihrer positiven Ergebnisse -, den Gesetzespositivismus endgültig zu überwinden, dann könnte sie auch zur heimlichen Helferin auf einem Terrain avancieren, das immer mehr vermint wird. Vom Gesetzgeber. Dessen Produkte zunehmend aussehen, als seien sie von Debütanten gefertigt. Jeder Strafrechtler weiß, wovon die Rede ist. Auf dem Gebiet des Kernstrafrechts wurden Gesetze formuliert, die schwerlich geeignet sind, das notwendige Vertrauen in den Gesetzgeber zu stärken. Doch damit nicht genug. Aus Hassemers Sicht - es wird sich nicht bestreiten lassen, daß es die allein zutreffende ist - "ist das Strafrecht seit geraumer Zeit dabei, im Eifer der Modernisierung im Sinne einer Anpassung an zeitgenössische Aufregungen Bastionen zu schleifen, ohne die wir auf die Dauer nicht zurechtkommen". Was solchermaßen noch geschieht, ist nicht minder schlimm. Das Strafrecht "wandelt sich von einem Reservoir angemessener Antworten auf das Verbrechen zur Quelle präventiver Risikobeherrschung".

Dem allen tritt Hassemer treffsicher entgegen. Eine Menge mehr wartet auf den Leser. Bewundernswert ist die Bandbreite und Geschliffenheit der Argumentationen. Der Blick des Autors reicht weit. Sogar - das ist in Frankfurt nicht immer so - bis nach Bielefeld. Und da saß ja einer, der gleichfalls zu faszinieren wußte. Für Hassemer "ein schillernder Soziologe". Schade. Was aber bleibt, ist die durch Hassemers Texte begründete Hoffnung, daß ein weiterführendes Gespräch zwischen Frankfurt und Bielefeld - das liegt inzwischen ja längst auch anderswo - noch in Gang kommen wird. Zum Beispiel über den vom Autor zu Recht angemahnten angemessenen Umgang mit Risiken. Hassemers Anregungen laufen in viele Richtungen. Wer allen nachgehen wollte, müßte viele Artikel schreiben und nicht nur eine Rezension.

WALTER GRASNICK

Winfried Hassemer: "Freiheitliches Strafrecht". Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2001. 276 S. br., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Grassnick ist restlos verzaubert, hingerissen und begeistert von der Aufsatzsammlung des Strafrechtsprofessors, Rechtsphilosophen und Bundesverfassungsrichters Winfried Hassemer. Und das soll etwas heißen, denn hier geht es um die Jurisprudenz. Und die ist erstens eigentlich schon rein sprachlich gesehen meistens knochentrocken und zweitens inhaltlich für Laien wie Profis oft auch nur wenig transparent. In größten Tönen lobt der Rezensent ausführlich den Autor für den Inhalt, die Form und die Sprache seiner Ausführungen und empfiehlt die Lektüre allen, die schon immer mehr wissen wollten über die Strafgesetze und deren Auslegung. Denn Hassemer wecke alle auf. Alteuropäische Rechtsdogmatiker wie brave Bürger.

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