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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2006

Drogendealer wohnen bei Mami

Mit Abtreibung kann man Verbrechen bekämpfen, und Swimmingpools sind gefährlicher als Waffen - was man dank der Ökonometrie nicht alles herausfinden kann.

VON JUDITH LEMBKE

Viel scheinen ein japanischer Sumo-Ringer, ein Immobilienmakler, eine kellnernde Jungschauspielerin und ein Crackdealer nicht gemein zu haben. Unterschiedliche Kulturkreise, Geschlechter, Einkommensgruppen - es trennt sie auf den ersten Blick viel mehr, als sie eint. Und doch handeln sie aus den gleichen Beweggründen: Sie reagieren auf Anreize, die Motoren der Leistungsgesellschaft. Während ein Sumo-Ringer womöglich verliert, um Bestechungsgeld zu kassieren, strengt sich der Immobilienmakler nur mäßig an, um den höchsten Preis für das Haus seines Kunden zu bekommen. Verkauft er jedoch seine eigene Immobilie, legt er sich mehr ins Zeug, weil der erwartete Gewinn - und somit der Anreiz - weitaus größer ist.

Die Jungschauspielerin hält sich in Hollywood mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser, weil der Anreiz, eine zweite Julia Roberts zu werden, für sie schwerer wiegt als der Reallohn. Und der Crackdealer an der New Yorker Straßenecke? Entgegen der weitverbreiteten Annahme, er setze sein Leben aufs Spiel, weil seine gefährliche Arbeit so gut bezahlt sei, treibt ihn der gleiche Mechanismus wie die Hoffnung auf Hollywood: Er nimmt in Kauf, aus Geldnot bei der Mutter zu wohnen, weil er von einem Leben als Gangsterboß mit all seinem Reichtum und morbiden Glamour träumt.

Die komplizierte Psychologie von Anreizen aufzuzeigen ist ein Anliegen von "Freakonomics", dem Bestseller des amerikanischen Ökonomen Steven D. Levitt und des Publizisten Stephen J. Dubner. Mit den methodischen Instrumenten der Wirtschaftswissenschaft untersucht der Professor aus Chicago die vermeintlichen Wahrheiten des Alltags - und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Zum Beispiel, daß Swimmingpools für Kleinkinder weitaus gefährlicher sind als Feuerwaffen. Oder daß mehr Eltern dazu neigen, ihre Kinder verspätet aus dem Kindergarten abzuholen, wenn sie dafür Strafe zahlen müssen. Levitts Arbeit basiert auf seinem grundsätzlichen Mißtrauen gegen das konventionelle Wissen. "Menschen können lügen, Zahlen selten" lautet seine Devise. Sein Material sind statistische Daten unterschiedlichster Gebiete, die er miteinander in Beziehung setzt. Die Ergebnisse sind manchmal trivial und manchmal bahnbrechend. Interessant ist die Art, wie er die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung aufdeckt, jedoch in jedem Fall. Die Erkenntnis, daß eine Beziehung zwischen dem Namen des Kindes und dem sozioökonomischen Hintergrund der Eltern besteht, wird keinem oberflächlichen Kenner von Nachmittags-Talk-Shows besonders neu erscheinen.

Levitts Beweis, daß der Rückgang der Kriminalität Anfang der neunziger Jahre in Amerika vor allem auf die Legalisierung der Abtreibung 1973 zurückzuführen ist, wird die meisten Leser hingegen erstaunen, einige sogar empören.

Als gängige Erklärungen für die sinkende Kriminalitätsrate wurden vor allem innovative Polizeistrategien, ökonomischer Aufschwung und Veränderungen auf dem Drogenmarkt angeführt. Das sei auch alles nicht ganz falsch, schreibt Levitt, jedoch nicht der Hauptgrund. Die Legalisierung der Abtreibung habe nämlich zur Folge gehabt, daß viele unerwünschte Kinder nicht geboren worden seien. Die Möglichkeit, die Schwangerschaft abzubrechen, wurde überproportional häufig von Frauen in Anspruch genommen, die arm und alleinerziehend waren. Diese beiden Faktoren gehören wiederum zu den stärksten Risiken für eine kriminelle Zukunft des Kindes. Wären die Kinder also geboren worden, hätten sie mit einer überdurchschnittlichen Wahrscheinlichkeit eine Verbrecherkarriere vor sich gehabt. Die Feststellung der Autoren lautet nun, daß in den neunziger Jahren, also genau zu dem Zeitpunkt, wo diese ungeborenen Kinder zum ersten Mal kriminell geworden wären, die Kriminalitätsrate drastisch sank.

Daß diese These in Amerika für Aufsehen gesorgt hat, verwundert nicht. Der Kritik setzte Levitt entgegen, daß er doch nur beschrieben habe, wie die Realität sei, und nicht, wie sie sein soll. Mit dieser Betonung des empirischen Ansatzes will der Professor auf einmal so gar nicht als ökonomischer Freak erscheinen - sondern als Vertreter der gängigen positiven Haltung.

Steven D. Levitt/Stephen J. Dubner: Freakonomics. Riemann; 18,95 Euro

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