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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Originaltitel: Green Man Running
  • Seitenzahl: 359
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 548g
  • ISBN-13: 9783865211781
  • ISBN-10: 386521178X
  • Artikelnr.: 14253928
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2005

Vom mittleren Elend der Metropolenbewohner
Vom Stall in die Stadt und wieder zurück zu den Schafen: Georgina Hammick geht mit schönster Leichtigkeit direkt ans Eingemachte

Einmal erinnert sich Dexter beim Telefonieren an einen Satz von Cesare Pavese. Dessen Tagebuch heißt bekanntlich "Das Handwerk des Lebens", und Dexters Rekurs darauf ist durchaus Programm, denn um das Handwerk des Lebens geht es in Georgina Hammicks Roman: um Liebe und Familie in den Zeiten ihrer fortgeschrittenen Erosion, ums Geldverdienen in den Zeiten des entwickelten Kapitalismus, auch ums Verlagswesen in den Zeiten der Fusion und der feindlichen Übernahme. Denn Dexter macht das, was man heute als "Außenlektorat" bezeichnet, das heißt, er liest, begutachtet und redigiert Manuskripte für Verlage, bei denen er nicht fest angestellt ist, für ein klägliches Honorar, versteht sich. Vor ein paar Jahren ist er noch der große Lektor in einem Londoner Verlag gewesen, aber dann hat ihn seine Frau Hyacinth verlassen, und Dexter hat die "freie Existenz" gewählt, um sich besser um seine beiden Söhne kümmern zu können.

Wir sind bei Georgina Hammick also mitten im Leben, und zwar in jener Verfassung, die Freud so treffend als "mittleres Elend" beschrieben und als durchaus erträglich, ja wünschenswert geschildert hat. Daß Dexter überhaupt so weit gekommen ist und sich im Literaturbetrieb einen Namen gemacht hat, ist keine Selbstverständlichkeit, denn von Haus aus ist er ein Bauernjunge aus Shropshire, der eines Tages aufbrach in die große Stadt und sich dort festgesetzt hat: Wenn es sich zu dem Zeitpunkt, da der Roman beginnt, auch nur noch ums East End handelt und nicht um eines der vornehmen Viertel.

Er hat eine neue Freundin, Moy, die auf dem Gebiet der Bleiverglasung arbeitet. Dexter würde sie gern heiraten, aber Moy sperrt sich prinzipiell gegen die Ehe. Seine Mutter, die noch immer die Farm bewirtschaftet, zeigt erste Anzeichen von Gedächtnisschwund und erwartet, daß er alles übernimmt, wenn sie nicht mehr kann. Seine Exfrau möchte ihm die beiden Söhne abspenstig machen. Sein Banker signalisiert ihm, daß entweder Geld reinkommen oder er ihm die Kreditkarte sperren müsse, und als Dexter sich mit zwei Jungens aus der britischen gewalttätigen Klasse (nebst Hund) anlegt, die gern auch mal zulangen, hat er noch ein zusätzliches Problem.

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem Dexter das Handwerk des Lebens bewältigen muß, und davon erzählt Georgina Hammick. Sie tut das in einer geschickten Verschränkung von Gegenwart und Rückblende und in gelassenem Tempo, das es dem Leser erlaubt, sich nach und nach mit dem Personal vertraut zu machen. Sie tut es auch mit einem ausgeprägten Sinn für die Nuancen des Dialogs und fürs sinnreiche Detail. Daß Dexter beispielsweise eine depressive Disposition hat, wird spätestens klar, wenn wir erfahren, daß er Bogdanovichs "The Last Picture Show" für den besten Film der siebziger Jahre hält. Kurz gesagt, das Handwerk des Schreibens übt Georgina Hammick perfekt aus.

Dabei entsteht nach und nach etwas sehr Seltenes: ein Stück große Literatur, die sich mit sehr alltäglichem Material befaßt. Denn Dexters Schwierigkeiten und die Aufgaben, vor die er sich gestellt sieht, sind wirklich nichts Besonderes. Er ist kein Phänotyp der Stunde wie etwa McEwans Neurochirurg Henry Perowne aus "Saturday", in dem sich die philosophischen wie politischen Probleme und Fragestellungen der Zeit bündeln. Er ist einfach nur einer dieser im Kulturbereich arbeitenden Metropolenbewohner, die mit ihrem privaten Leben nicht so recht zu Rande kommen.

Das ist eigentlich eher das Terrain der Seifenoper. Daß die Autorin deren Sackgassen und Fallstricke souverän zu meiden weiß, macht nicht zuletzt die Qualität ihres Romans aus. Allerdings bleibt der Schluß etwas unbefriedigend. Da ist Dexter nach dem Tod seiner Mutter wieder in Shropshire gelandet und bewirtschaftet erst einmal den Hof. Ob Moy nachkommen wird, ob Dexter die Farm behalten oder verkaufen wird und wie überhaupt alles weitergeht, bleibt offen. Das soll uns natürlich deutlich machen, daß es keine einfachen und endgültigen Lösungen gibt und das Leben weitergeht - es sei denn, man setzt ihm wie Pavese selbst ein Ende. Wenn Dexter am Schluß durch Schlamm und Regen stapft, um ein im Zaun verfangenes Schaf zu retten, dann wird es etwas arg symbolisch und menschelnd zugleich.

Bis dahin aber hat Georgina Hammick einiges über das mittlere Elend mitgeteilt, und zwar so, daß der Leser nicht amüsiert und Bescheid wissend schmunzelt, sondern betroffen ist. "Fluchtwege" ist bei aller Alltäglichkeit ein sehr ernster und traurig stimmender Roman, der das Handwerk des Lebens nicht als Frage der gesellschaftlichen Geschicklichkeit abhandelt. Und da es in diesem Buch unter anderem auch ums moderne Verlagswesen geht, sei dem deutschen Verlag angeraten, die Autorin künftig nicht vorrangig als "witzig" oder "böse" zu verkaufen oder zu schreiben, sie habe für ihren Helden "mit zarter Hand solide Fallstricke ausgelegt". Ihr Roman (wie schon der schöne Erzählungsband "Ganz wild auf den Knaben") geht bei aller scheinbaren Leichtigkeit ans Eingemachte. Dafür scheint auch beim großen Publikum durchaus Bedarf zu bestehen: Georgina Hammicks Erzählbände schaffen es in England auf die Bestsellerlisten. Das läßt hoffen.

Georgina Hammick: "Fluchtwege". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Piltz. Steidl Verlag, Göttingen 2005. 359 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Georgina Hammick ist eine Bestseller-Autorin der ungewöhnlicheren Art, berichtet eine gut gelaunte Rezensentin Marion Lühe. Denn nicht "psychologische Ausnahmesituationen" interessieren sie, sondern die "alltäglichen Katastrophen" des Lebens. Und erprobtermaßen eignet sich nichts besser um ebendiese zu inszenieren als alleinerziehende Elternteile, in diesem Fall der ehemals erfolgreiche Verlagslektor Dexter, den Heimarbeit, Hausarbeit, Kindererziehung und neue Beziehung immer tiefer in den Treibsand der Ausweglosigkeit hinabsaugen. Hammicks feines Gespür für das auf den ersten Blick Unscheinbare bringt das Gift zutage, das aus "banalen, kleinen hässlichen Gedanken" sickert und Beziehungen, sei es zwischen Mann und Frau oder Eltern und Kindern, allmählich ersticken lässt - mehr als offener, wilder Streit es je könnte. Mit ironischer Distanz, aber ohne Häme, wie die erheiterte Rezensentin betont, schreite Hammick die zwischenmenschlichen "Fallen" des Alltags ab, liefere en passant ein schonungsloses Porträt des Großstadtmenschen, der vor der Unabhängikeit, auf die er pocht, im Grunde panische Angst hat und sich ins elterliche Zuhause rettet, und verstehe es, bei allem Scharfblick nicht "düster" zu werden.

© Perlentaucher Medien GmbH