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'Fleisch und Stein' ist eine neue Geschichte der Stadt in der westlichen Kultur. Ihr Thema ist das Verhältnis des Steins, der Gebäude und Straßen, zum Fleisch, zu den Menschen und ihren Bedürfnissen. Richard Sennett geht dabei von sehr einfachen Fragen aus: Was bedeutet der Schutz der Mauern für die Einwohner der Stadt? Wie bilden sich Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen in ihren Bauten ab? Die körperliche Erfahrung der Menschen hat die Geschichte der Stadt bestimmt: wie Frauen und Männer sich in den Straßen bewegten, was sie gesehen und gehört haben, wo sie aßen, wie sie sich kleideten, wann sie sich wuschen und wo sie sich liebten.…mehr

Produktbeschreibung
'Fleisch und Stein' ist eine neue Geschichte der Stadt in der westlichen Kultur. Ihr Thema ist das Verhältnis des Steins, der Gebäude und Straßen, zum Fleisch, zu den Menschen und ihren Bedürfnissen. Richard Sennett geht dabei von sehr einfachen Fragen aus: Was bedeutet der Schutz der Mauern für die Einwohner der Stadt? Wie bilden sich Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen in ihren Bauten ab? Die körperliche Erfahrung der Menschen hat die Geschichte der Stadt bestimmt: wie Frauen und Männer sich in den Straßen bewegten, was sie gesehen und gehört haben, wo sie aßen, wie sie sich kleideten, wann sie sich wuschen und wo sie sich liebten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995

Die Steine erweichen
Richard Sennetts zeitgemäße Betrachtungen über Körper und Stadt / Von Christian Meier

Richard Sennett, weithin bekannt durch seine Bücher "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens" und "Civitas - Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds", will eine Geschichte der Stadt "durch die körperlichen Erfahrungen der Menschen hindurch erzählen", vom alten Athen bis zum heutigen New York. Es geht ihm darum, wie Auffassung und Ideal des menschlichen Körpers in den verschiedenen Epochen die Stadt bestimmt und geprägt haben.

Sein Ausgangspunkt ist der moderne Befund des Individualismus, der Abschottung der einzelnen, der "defensiven Reizunterdrückung". Geschwindigkeit, Flucht, Passivität bestimmten den modernen Bürger in seiner urbanen Umwelt. Sinnliche Wahrnehmung des anderen, die Fähigkeit, den realen Schmerz anderer mitzuempfinden, sind kaum vorhanden. Ist das etwas ganz Neues, wie viele meinen? Oder kommen darin "tief sitzende Probleme der westlichen Zivilisation" zum Vorschein?

Das Buch liest sich über weite Strecken spannend. Die Schilderung des mittelalterlichen Paris etwa oder der Einrichtung des jüdischen Ghettos in Venedig, die unter anderem aus der Furcht vor Ansteckung durch die "jüdischen Körper" mit Lepra und Syphilis resultierte. Sehr einleuchtend wird gezeigt, wie der Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey neue Formen der Stadtplanung im Barock und, modifiziert, in der Aufklärung korrespondierten: die Stadt, die durch den Verkehr wie durch Arterien und Venen bestimmt ist. Andere Kapitel widmen sich der Veränderung von Paris im Laufe der Französischen Revolution und dem Wandel der Stadt und des Komforts im 19. Jahrhundert. Dort werden etwa Haussmanns Straßendurchbrüche in Paris und die Londoner U-Bahn, die neuen Formen von Sessel und Kutsche, Café und Pub sowie Eisenbahnabteilen und Aufzügen behandelt. Die Menschen ziehen sich, gerade in unserem Jahrhundert, nach Möglichkeit aus der Stadt, jedenfalls aus dem Kontakt mit anderen zurück; sie schweigen weitgehend in der Öffentlichkeit und beanspruchen, das auch zu dürfen.

Sennett erklärt, er habe dieses Buch als "begeisterter Laie" geschrieben, und das ist wohl richtig. Es sind vielfach Früchte ausgedehnter, auch zufälliger Lektüren, die er vorträgt. Die Fragestellung gerät oft, und gerade in den fesselnden Abschnitten, stark in den Hintergrund. In anderen Fällen ist sie nur dadurch präsent, daß, wo man normalerweise von Griechen oder Juden sprechen würde, von griechischen oder jüdischen Körpern die Rede ist. Mir ist zum Beispiel nicht deutlich geworden, was man gewinnt, wenn man formuliert: "Außerdem trennte die Synagoge männliche und weibliche Körper." Warum nicht Männer und Frauen?

Natürlich ist nicht zu bezweifeln, daß etwa die Nacktheit, in der die Griechen Sport trieben (in Sparta sogar die Mädchen) und in der ihre Kunst den menschlichen Körper vielfach darstellte, nicht nur ein interessantes Detail war, sondern zur männerbündischen Struktur ihrer Bürgerschaften gehörte. Und dadurch wiederum ist sie eingebettet in eine Vielfalt von Faktoren, die zusammen die weiteren Voraussetzungen der Demokratie ausmachten. Auch die Theorien, wonach der männliche Körper wärmer als der weibliche sei, sind als Niederschlag der Auffassung von den großen Unterschieden zwischen den Geschlechtern selbstverständlich von Interesse. Aber daß das Körperideal der Nacktheit ein "Störfaktor bei der Gestaltung des städtischen Raums und in der Ausübung der athenischen Demokratie" gewesen sei, ja daß es zu deren Krise geführt habe, ist schlechterdings nicht einzusehen.

Selbst für die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind doch wohl andere Festlegungen verantwortlich, die sich dann unter anderem in solchen Auffassungen männlicher und weiblicher Körper niedergeschlagen haben. Eher ein Wortspiel scheint mir die Verbindung zu sein, die Sennett allen Ernstes zwischen der Nacktheit der Körper und der "nackten Stimme" der Redner in der Volksversammlung knüpft. Wenn schließlich das Herausragen des Parthenons, seine Sichtbarkeit weit über die Stadt hinaus, Athens Macht demonstrieren sollte, so scheint mir auch dies kaum so einfach als "Beharren auf Zeigen, Entblößen, Enthüllen" mit der Nacktheit griechischer Menschendarstellung verbunden werden zu können.

Kurz, die Weise, in der Sennett den griechischen Körper zur Ursache für alles Mögliche in der Stadt Athen, zu ihrer Verfassung und Politik macht, zeigt schon die ganze Schwäche seines Ansatzes. So einfach läßt sich der Zusammenhang zwischen Körperverständnis und Stadtstruktur nicht knüpfen. Man könnte die Körper allerdings im weiteren Zusammenhang der spezifisch griechischen Prägung von Öffentlichkeit zur Geltung bringen; allein, dann müßte man davon handeln. Ist nicht die Auffassung vom weiblichen Körper wesentlich von Faktoren wie der Angst vor angeblicher weiblicher Unberechenbarkeit, dem Stolz auf männliche Rationalität bestimmt? Läßt sich überhaupt der "Körper" vom übrigen Menschen so einfach trennen? Wenn man aber vom Körperverständnis der Athener spricht, warum fehlt dann der Krieg? "Sie setzen Leib und Leben für die Polis ein, als hätten sie damit nichts zu tun, als gehörten sie ihnen nicht; ihren Verstand aber gebrauchen sie ganz selbständig, jeder als seinen eigensten Besitz und Beitrag, wenn es gilt, etwas für die Stadt zu tun", läßt Thukydides einmal sagen.

Man hat den Eindruck, daß Sennetts Darstellung von Athen (und Rom), die ein Viertel des Buches einnimmt und in der übrigens manches schlichtweg falsch ist, letztlich darauf zielt, die Antike zu entidealisieren und näher an die Moderne heranzubringen. Die Spaltung zwischen Geist und Körper sei schon vor den Christen, eben in der Antike dagewesen. Spannungen und Unzulänglichkeiten von heute seien bis dorthin zurückzuverfolgen. Daß die Agora, der Marktplatz, damals voll von Menschen zu sein pflegte, unterscheidet Athen zwar vom heutigen New York, aber "sie zahlten dafür den Preis, sich . . . nicht zusammenhängend verständigen zu können". Die Volksversammlung dagegen bot "Kontinuität in der Rede", aber sie machte die "Menschen verwundbar . . . für den rhetorischen Reiz der Worte". Und auch die Rituale reichten für den bedrohten Zusammenhalt nicht aus.

Allein, was verlangt Sennett denn? Wie kann man erwarten, daß "das Leitbild männlicher Nacktheit . . . die bekleideten Frauenkörper vollständig zu kontrollieren oder zu definieren" vermochte? Ist es so verwunderlich, daß auch die Antike voller Spannungen und Unzulänglichkeiten war? Sollen die nur die westliche Zivilisation und nicht vielmehr alles Menschenleben, zumindest nach der Vertreibung aus dem Paradies, kennzeichnen? Freilich treten sie in sehr verschiedenen Formen und Verteilungen auf, und es könnte reizvoll sein, sie zu vergleichen. Vielleicht könnte man gar bestimmte "westliche" Eigenarten herauskristallisieren. Aber dazu müßte man die Frage schärfer formulieren, wohl auch die Umfänge und Grenzen der Frage genauer festlegen. Und man müßte auf China, Mesopotamien, Israel, Ägypten eingehen (wo übrigens manche Theorien von menschlichen Körpern Parallelen zu den griechischen aufweisen).

Einige auffällige Zusammenhänge finden sich bei Sennett angedeutet. Aber ob es etwa bei William Harvey die Auffassung vom menschlichen Körper und nicht vielmehr die Weise, Strukturen nachzuspüren, die Weise des Denkens also, ist, was seine Thesen in Korrespondenz zur Stadtplanung bringt, das wüßte ich gern genauer. Und mit vielem anderen verhält es sich ähnlich. Sennetts Behandlung des Athens des Perikles bildet dafür nur ein Beispiel.

Die eigentliche Absicht des Buches wird deutlich, wo Sennett sich als Anhänger des jüdisch-christlichen Glaubens (so!) bekennt. Er gedenkt auch seiner Zusammenarbeit mit Foucault, der an seinem Körper gelitten und ihn schließlich im Schmerz der Todeskrankheit akzeptiert habe. Er verweilt lange bei den neuen Auffassungen der frühen Christen vom Körper und vor allem beim Körperbild des 13. Jahrhunderts, die sich im Zuge der imitatio Christi einstellte. Sie habe die Menschen mitfühlender gemacht, sie waren sich des Körpers, besonders des leidenden Körpers stärker bewußt.

Und so haben sie sich um Arme und Kranke gekümmert, man nahm sie außer in Armen- und Krankenhäuser in den Gärten des Klosters auf der Ile de la Cité auf; hier schlug sich, wenn man denn will, ein bestimmtes Körperverständnis im Stadtplan nieder, und es entstand "so etwas wie eine moralische Geographie" - während überall sonst auf den Straßen der Stadt der bürgerliche Konkurrenzkampf tobte. Von den Freiheiten, der politischen Leistung der Stadt ist dagegen kaum die Rede. Für das Mittelalter kann Sennett dann auch an interessanten Stellen bei Johannes von Salisbury, Henri de Mondeville und Franz von Assisi zeigen, wie der Körper der Menschen und deren Gemeinschaft in enger Analogie verstanden werden.

Sennett sehnt sich nach "gesellschaftlichem Mitleid" und findet, es erwachse "aus diesem körperlichen Bewußtsein der Unzulänglichkeit in uns selbst, nicht aus bloßem guten Willen oder politischer Aufrichtigkeit". Auch hier hätte ich meine Zweifel. Mag sein, daß das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit (aber warum denn nur der körperlichen?) jenes Verständnis heraufführen kann, das wir in einer Gesellschaft, wo so viele Menschen verschiedenster Herkunft nebeneinander existieren, brauchen. Aber es kann doch wohl genausogut Aggression und Abschließung produzieren.

Ein sehr persönliches Buch also, das sich nicht ohne Grund am Ende dem Stadtteil Greenwich Village in New York zuwendet, in dem der Autor lebt. Ein Buch des Bekenntnisses und der Freundschaft. Ein Buch aber auch der Obsession. Ein etwas lang geratener Essay, sprunghaft, eher zufällig in seiner Aufmerksamkeit, auch mit manchen Mißverständnissen und Fehlern, doch voller Anregungen und interessanter Aspekte. Ein sympathisches, ein Buch unserer Zeit.

Leider ist es vom deutschen Verlag schlampig bearbeitet worden. Ständig erscheint der attische Volksversammlungsplatz, die Pnyx, im Maskulinum, Parthenon heißt schon einmal Pantheon, der römische Palatin wird zum Paladin, der Ort der verlorenen Schlacht bei Agnadello wird zum Personennamen (das "Venedig des Agnadello"). Papst Paul IV. wird mit Paul VI. verwechselt. Die Bildunterschriften sind teilweise falsch; daß die Zitate es mitunter auch sind, liegt wohl am Original.

Richard Sennett: "Fleisch und Stein". Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Aus dem Amerikanischen von Linda Meissner. Berlin Verlag, Berlin 1995. 523 S., Abb., geb., 58,- DM.

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