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Schon als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, wollte Ian Penman dem exzessiv produktiven Macher von Filmen wie Angst essen Seele auf oder Die Ehe der Maria Braun ein Buch widmen. Vierzig Jahre später greift er den Plan wieder auf. Sein Pitch: »Diese Story hat alles! Sex, Drogen, Kunst, Großstadt, Moderne, Kino und Revolution. In ihm sind Viele. Er wurde sein eigenes Hollywood.«
Das Ergebnis: ein Wirbelsturm biografischer Fragmente und Aperçus, ein Kaleidoskop der »Fassbundesrepublik« mit ihrer unterdrückten Vergangenheit, ihrer Paranoia, ihren radikalen künstlerischen Experimenten. Kiefer,
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Produktbeschreibung
Schon als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, wollte Ian Penman dem exzessiv produktiven Macher von Filmen wie Angst essen Seele auf oder Die Ehe der Maria Braun ein Buch widmen. Vierzig Jahre später greift er den Plan wieder auf. Sein Pitch: »Diese Story hat alles! Sex, Drogen, Kunst, Großstadt, Moderne, Kino und Revolution. In ihm sind Viele. Er wurde sein eigenes Hollywood.«

Das Ergebnis: ein Wirbelsturm biografischer Fragmente und Aperçus, ein Kaleidoskop der »Fassbundesrepublik« mit ihrer unterdrückten Vergangenheit, ihrer Paranoia, ihren radikalen künstlerischen Experimenten. Kiefer, Syberberg, Tangerine Dream. Für Ian Penman hat RWF den Status, den Baudelaire für Walter Benjamin hatte: Protagonist und Medium einer Spätphase - einer Epoche, die bereits die nächste träumt.
Autorenporträt
Ian Penman, geboren 1959, ist ein englischer Kulturjournalist, ab 1977 arbeitete er für den NME. Dort reicherte er Plattenkritiken mit Theorie-Referenzen an und begründete so eine neue Art von Musikjournalismus. Zu seinen Bewunderern zählte der 2017 verstorbene Mark Fisher. Heute schreibt Penman unter anderem für die London Review of Books .
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Bert Rebhandl freut sich ehrlich über ein Fassbinder-Buch jenseits der Fassbinder-Buch-Industrie. Ian Penman gelingt es laut Rebhandl in 450 Notaten und mit einem Haufen Fragen, den Regisseur zu umkreisen. "So etwas Altmodisches" wie Haupt- und Nebenwerke zu identifizieren ist Penmann dabei viel zu banal, so Rebhandl, es geht ihm um mehr. Fassbinder erscheint als revolutionäres missing link zwischen Punk und Post-Punk, staunt der Kritiker. Für ihn ein Buch für die Hosentasche, zum angeregten Blättern beim Warten in der Kinoschlange.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2024

Größer als
alle Rockstars
Der zauberhafte Moment, in dem ein junger Brite
im deutschen Kino den Punk entdeckte: Ian Penman
schreibt als Fan über Rainer Werner Fassbinder.
VON WILLI WINKLER
Braucht es wirklich noch ein weiteres Buch über Fassbinder? Ist denn nicht alles hundertmal gesagt worden über sein Faible fürs Melodram und seine Hassliebe zur Mutter, über den hyperproduktiven Filmer, den Frauen- und Männerausbeuter Fassbinder, den Kokser, den habitué in der Pariser Schwulensauna? So gut wie jeder in seinem Umkreis hat ein Buch über ihn geschrieben, es gibt genügend Filme, Theaterstücke und Romane, jede Menge mittelkarätig besetzter Symposien, Doktorarbeiten sonder Zahl und wahrscheinlich längst auch einen Rainer-Werner-Fassbinder-Lehrstuhl für Queer Studies unter besonderer Berücksichtigung immigrationshintergründiger Bahnhofsprostitution.
Aber was es nicht gibt, was es bisher nicht gab: „Tausende von Spiegeln“ von Ian Penman, Obertitel natürlich: „Fassbinder“. Ein Mann, der in aller Bescheidenheit verkündet hat, dass er fürs Kino sein wolle, „was Shakespeare fürs Theater, Marx für die Politik und Freud für die Psychologie war“, braucht keine weitere fußnoten- und zeitzeugengestützte Nacherzählung eines erschreckend kurzen Lebens, sondern einen Fan, der alles, Leben und Werk, auseinandernimmt und neu zusammensetzt zu seinem ganz eigenen Fassbinder-Erfindungsroman.
Penman stammt aus einer Militärfamilie, ist in Aden, Beirut und Zypern aufgewachsen und hätte oben in Norfolk versauern können, schaffte es aber 1978 mit neunzehn aus der Provinz nach London, wo ihm die Augen aufgingen: „Eine Stadt voller Programmkinos, die Filme aller Arten zeigten, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Plattenregale voller deutscher (und französischer, finnischer, italienischer, kobaianischer) Importe bei HMV in der Oxford Street. Gefühlt alle zwei Wochen ein aufregender neuer deutscher Film.“
Während Fassbinder parallel das Drehbuch für sein Lebensprojekt „Berlin Alexanderplatz“ vorbereitete, entstanden, wie Penman auflistet, allein 1977/78 die Filme „Frauen in New York“, „Despair – Eine Reise ins Licht“, „Deutschland im Herbst“, „Die Ehe der Maria Braun“ und „In einem Jahr mit 13 Monden“. „Erschüttert und fassungslos“ reagiert er auf Fassbinders Beitrag zu dem Kompilationsfilm „Deutschland im Herbst“, 26 Minuten Exhibitionismus, brutaler Streit, Drogen-Paranoia, unappetitliche Nacktheit. „So eine Provokation voll in die Fresse hätte man damals von den Rändern des Punk oder der Performance Art erwartet, aber nicht von einer 32-jährigen Persönlichkeit, die mehr oder weniger zum kulturellen Establishment gehörte.“
Das zeitgenössische Deutschland, man liest’s mit Staunen, war Ende der Siebziger für junge Engländer Punk und für Penman eine Offenbarung. Überraschend deshalb, weil für jeden halbwegs kunstreligiösen Menschen in Deutschland das Licht aus dem Westen kam, wo nach den Beatles die Sex Pistols und Vivienne Westwood die Kunst aufmischten. Unbegreiflich also, dass sich da jemand eben nicht wie üblich für Kraftwerk, sondern ernsthaft für alles Deutsche begeistert und deshalb nicht nur Fassbinder umspielt, sondern leichthändig auch Klaus Theweleit, John Heartfield, Gerd Müller und Uwe Johnson herbeizitiert.
So ist es eine bruchstückhafte Erzählung gleich über zwei Länder: das Nachkriegsdeutschland, das von der „Ehe der Maria Braun“ bis „Lola“ seine Ruinen wie Wunden vorzeigt, und das nicht weniger ruinierte England, dem Margaret Thatcher ein austerity-Programm verordnet, das die Gewerkschaften kaputt macht und das britische Filmwunder von Stephen Frears, Mike Leigh und Ken Loach zustande bringt.
Penman soll an einer Geschichte der britischen Achtzigerjahre arbeiten, da kann dieses Buch das autobiografische Präludium sein. So wenig wie Fassbinder, der fünf Schulen brauchte, bis er am Abitur scheiterte, hat er sich durch ein überflüssiges Studium gequält, sondern bewarb sich lieber beim maßgeblichen New Musical Express (NME), der „hippe junge Pistoleros“ suchte. Er hatte zunächst Pech, statt seiner wurde Julie Burchill genommen. Sie zog bald weiter, Penman war einer ihrer Nachfolger und konnte mit einer autodidaktischen Weite und Breite, wie sie nur ein abgebrochener Bildungsgang ermöglicht, erfolgreich die Auflage des NME senken.
Obwohl es nicht an Walter Benjamin und dem ganzen kritischen Besteck fehlt, das in jedem anständigen Diskurs mitklappern muss, ist Penman in seiner Springflohhaftigkeit ganz und gar originell und entgeht so auch dem Elend des Kritikers, der auch mit der weltbesten Kritik nicht an das gefeierte oder verdammte Kunstwerk heranreicht.
Mit Fassbinder als Vorwand assoziiert er sich durch die Filmgeschichte, überlässt sich jeder Abschweifung, prosopografiert sich von Jean Genet (wegen „Querelle“, dem leider ziemlich öden letzten Film Fassbinders) zu Antonin Artaud und weiter zu Carl Theodor Dreyer, verdammt unterwegs den Kunstfilm („Arthousekino konnte lau und wirklich nervig sein; verschnarcht, bedeutungsschwanger, selbstreferenziell, politisch naiv und vor allem sehr ‚Leise, Kinder, hier arbeitet ein männlicher Großkünstler‘“) und wünscht sich in einer Fußnote – das Buch hat die besten Fußnoten seit Langem! –, es schriebe jemand eine „gründliche Studie der geisterhaften und mabuseartigen Gestalt Alexandre Kojève“, eines stalinistischen Hegelianers, der als Beamter der Europäischen Gemeinschaft starb, und ist bei einer Szene von Straub/Huillet angelangt, die er gerade bei Youtube gefunden hat, als ihm zum „geschwätzigen, aufbrausenden, borstigen Großstadt-Treibhaus von Fassbinder“ im Stil der legendären SZ-Filmkritikerin Frieda Grafe einfällt: „Riffs auf Speed, Encountergruppen-Wahrsprech, explosive politische Debatten“.
Penman weiß alles und weiß sogar, dass Uwe Johnson eine Zeit lang Fernsehkritiker war, überlegt deshalb, was Johnson, der zuletzt in Sheerness an der Themse wohnte, über das britische Fernsehprogramm geschrieben hätte. 1964 hatte Johnson von Westberlin aus ein halbes Jahr lang das Programm des Deutschen Fernsehfunks (DFF) besprochen, das Fernsehen von drüben. Johnson hatte, das ist jetzt eine Penman’sche Digression und deshalb notwendig, den Leserinnen und Lesern seiner Kolumne im Tagesspiegel auch die Behauptung untergejubelt, der DFF zeige wirklich und wahrhaftig den Beatles-Film „A Hard Day’s Night“, der im Westen gerade im Kino lief. Johnson rezensierte rezensorisch: „Der erstaunliche Onkel hatte durch die sächsische Nachsynchronisation noch gewonnen. Das raste, kreischte, witzelte und brüllte aus dem Bildschirm wie die Eröffnung eines neuen Zeitalters für die unterhaltenden Künste Ostdeutschlands, und wer hätte das gedacht.“ Niemand natürlich, denn die Programmänderung hatte Johnson erfunden und ins Blatt gelogen, ohne dass es der zuständige Feuilletonchef bemerkt hätte. (Vgl. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 315–318.)
Alles, alles scheint Penman zu kennen, nur die geplante, mit Wolfram Schütte von der Frankfurter Rundschau verabredete Verfilmung von Jean Pauls Ehestandsroman „Siebenkäs“ ist ihm entgangen, wie dieser Kritiker frohlockt. Penman, das leidet’s keinen Zweifel, ist gescheit bis weit über die steife Oberlippe, ohne dabei je den Fan zu verleugnen. Er ist also das glatte Gegenteil der Feuer speienden Julie Burchill, nicht Hass und Rechthaberei, sondern reine Liebhaberei. „Die eigentliche verlockende, überirdische Starpower hatte für mich das Kino. RWF kam mir damals als der größere Rockstar vor, größer als alle echten Rockstars, die noch übrig waren.“
Und damit zurück zu Fassbinder: „Er lernt durch reines Machen. Indem er Theater macht, entdeckt er, wie man Theater macht, indem er Filme macht, entdeckt er, wie man Filme macht.“ Fassbinder ist inzwischen mehr als vierzig Jahre tot und hat deshalb das Glück, dass er nicht wie andere alte weiße Männer gestürzt werden kann. Im Jahr 1982, vor einer halben Ewigkeit, ist er nach 42 Filmen mit 37 gestorben, in einem Alter, in dem andere gerade seufzend an die Familienplanung gehen. So artifiziell seine Filme sind, sie sind viel zu nachlässig, zu schnell gemacht, um sich als hohe Kunst zu qualifizieren, Punk eben.
„Einer der Gründe, dass Fassbinder damals weniger nervig und frustrierend wirkte: Wenn man den neuen Film nicht mochte, würde es in ein paar Wochen den nächsten geben. Außerdem wirkten seine Arbeiten weniger behäbig und selbstverliebt. Da lag anderes in der Luft. Sein neuester Film war oft in der gleichen Zeit geschrieben, gedreht, geschnitten und herausgebracht worden, die andere große Auteurs für ein paar Meetings brauchten.“
Es wird im Moment sicherlich keinen gründlicheren Kenner des Fassbinder’schen Œuvre geben. Deshalb kann er auch leichten Herzens darauf verzichten, ihn an irgendeine Gegenwart heranzuführen oder ihn mit jemandem zu vergleichen, der er doch nicht ist: „Er ist eine ganze Stadt, ein Landstrich, ein Ballungszentrum, ein Land; die Fassbundesrepublik.“
Penman lässt auch den körperlichen Niedergang Fassbinders nicht aus, weiß dieses „gründliche Werk der Selbstverhässlichung“ zu loben, denn „er bleibt ganz er selbst, renitent und verwahrlost, er dreht einfach nur die Lautstärke auf“. Wenn er auch kein Punk war, plante Fassbinder doch als nächsten Film „Ich bin das Glück dieser Erde“ nach dem Lied von Joachim Witt.
Bei all seinen Deliberationen und Kreuz- und Querforschungen vergisst Penman nie, wo die Wahrheit zu Hause ist, nicht bei Hegel oder Benjamin, sondern im Kino: „Noch Jahrzehnte später kann ich in mir die verwirrende Kraft wieder wachrufen, die gewisse Filme haben, wenn man sie das erste Mal im Kino sieht. Eine Erfahrung, nahe an der Epiphanie. Nicht nur hinter den Augen, sondern im ganzen Körper. Eine Störung in der Wahrnehmung der Zeit.“
Unbegreiflich, dass sich da
jemand ernsthaft für
alles Deutsche begeistert
Auch das „gründliche Werk
der Selbstverhässlichung“
lässt er nicht aus
Ian Penman: Fassbinder. Tausende von Spiegeln. Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp,
Berlin 2024.
244 Seiten, 20 Euro.
Brauchte für einen Film nur so lange wie andere für drei Meetings: Rainer Werner Fassbinder gibt hier Regieanweisungen an Hanna Schygulla für ihre Rolle in „Die Ehe der Maria Braun“ (1978).
Foto: Istvan Bajzat / picture alliance / dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2024

Hat es ihm im Grunde an Phantasie gemangelt?

Der Regisseur als "missing link" zwischen den Epochen: Ian Penman nähert sich Rainer Werner Fassbinder in Notaten.

Die Geschichte der populären Kultur vollzieht sich in wilden Sprüngen, die bei näherem Hinsehen in unerwarteten Choreographien aufgehen. Nehmen wir das Beispiel Punk. Ein junger Mann mit Stachelhaaren drischt auf ein Instrument ein, das er nicht wirklich spielen kann. Im Publikum tanzt man Pogo. Trotzdem lassen sich Text, Song, Frontmännerei, das ganze alte Zeug, nicht vollständig vermeiden. In irgendeinem Keller in London gab es vielleicht in den Siebzigerjahren einen Moment, der tatsächlich Punk war - es gehört zu seinem Wesenskern, dass er nicht überliefert wurde. Und die Sex Pistols? Sind die schon Post-Punk? Und nun eine Königsfrage: Kann "Die Ehe der Maria Braun" von Rainer Werner Fassbinder, ein Kostümfilm aus der mittleren Bundesrepublik, auch Punk sein?

Fragen über Fragen, wobei die Idee, auf Antworten zu verzichten und lieber Fragen anzuhäufen, auch tendenziell Punk ist. Der britische Musikjournalist Ian Penman hat aus diesem Geist ein Buch über den deutschen Filmemacher geschrieben, der seine größte Phase just in der Zeit hatte, in der Punk ausbrach, und der die nächsten großen Dinger (Postmoderne, Hip-Hop, Digitalisierung) schon nicht mehr erlebte. Denn Rainer Werner Fassbinder starb 1982 im Alter von 37 Jahren nach einer Karriere mit einem explosionsartigen Ausstoß von Filmkunst in einem Tempo, für das es heute ein gutes Dutzend Filmbranchen bräuchte, und die kämen mit ihren Sitzungen nie nach.

Penman zog seine eigenen Schlüsse aus den Aporien von Punk (man kann einfach nicht endlos oft mit dem Kopf durch die Wand wollen): Er verlegte sich, wie er schreibt, auf "Disco, Dance, Cocktails". Aber Fassbinder blieb bei ihm. Und nun hat er sein Nachdenken über den Regisseur auf eine Weise zusammengefasst, die ausdrücklich nicht auf das Standardwerk zielt, nach dem der Buchmarkt ohnehin nicht gefragt hat. Mit der Fassbinder-Exegese und auch mit der Fassbinder-Industrie will Penman nichts zu tun haben. "Fassbinder. Tausende von Spiegeln" umkreist den Künstler in 450 Notaten und kümmert sich dabei nicht um so altmodische Dinge wie zum Beispiel eine Einordnung von Haupt- und Nebenwerken. Denn es geht immer schon um etwas Größeres, um die Konturen unserer Zeit insgesamt.

Penman trifft vielleicht den Grundmodus seiner eigenen Zunft, des Popkritikers, perfekt, wenn er ihn als "worrying away at the idea of epochs and eras" definiert - "den Epochenbegriff zergrübeln", schreibt der gewohnt exzellente Übersetzer Robin Detje an dieser Stelle. Fassbinder ist für Penman ein "missing link" zwischen Epochen, die ihm unter der schreibenden Hand zerfallen, in denen er aber ausreichend unerwartete Choreographien entdeckt, dass nicht alles ins Zusammenhanglose zerfällt.

In der geläufigsten Rezeptionslinie war Fassbinder ein queeres Verausgabungs- und Ausbeutungsgenie, das den Neuen Deutschen Film aus seiner romantischen Subjektivität (Herzog, Wenders) zu erlösen versuchte, in ein aus Hollywood abgeschautes privates Studiokino, in das die Massen so strömen sollten, wie einst in die Unterhaltungsfilme der Nationalsozialisten - nun aber mit kritischem Bewusstsein. Penman interessiert dieser große Bogen nicht, Nationalkino ist für ihn keine Architektur, sondern ein Gestrüpp, in dem Fassbinder am ehesten noch neben dem Postpunk Syberberg zu stehen kommt.

Der Autor nistet sich in den Faltungen eines Werks ein, in dem die Genet-Adaption "Querelle" an die letzte Stelle zu stehen kam, nicht als Summe, sondern halt als das, was übrig bleibt bei einem, der immer fünf Filme gleichzeitig in der Mache hat und darüber irgendwann stirbt - das Lebensradio so lange immer lauter aufgedreht, bis die Transistoren im Körper aufgaben. An "Querelle" entdeckt Penman dann allerdings doch eine Menge, und Jean Genet wird eine der Spiegel-Figuren, die den Text durchgeistern, wie auch Walter Benjamin oder der nur einmal erwähnte, aber bedeutsame Orson Welles.

Während Legionen von akademischen Tagungen die Ästhetik von Fassbinder auseinandernehmen, fragt Penman (auch sich selbst): "Wissen wir auch ganz bestimmt, was Kitsch ist?" Gut hundert Seiten später taucht auf diese Passage ein Echo auf, das ans Eingemachte geht: "Hat es ihm im Grunde an Phantasie gemangelt? Ich will hier kein Gift verspritzen und ihn vom Sockel stoßen. Ich vermute dasselbe bei mir selbst und vielen Autoren oder monomanen Künstlern, die ich verehre. Vorstellungskraft ist eine lobenswerte, aber nicht die einzige oder wichtigste Eigenschaft. Seine Unfähigkeit, sich eine andere Welt vorzustellen, mag der Kern von allem gewesen sein, was er getan und erreicht hat."

Die Achtundsechziger wollten die Phantasie an die Macht bringen. Die Revolution aber, das heimliche Leitmotiv von Penmans Buch, weiß nicht, was sie an die Macht bringen will. Denn sie will ja alles grundstürzend verändern. Da kann man nicht alles vorher planen. Das Jahr des Punk 1977 war auch das Jahr des Deutschen Herbsts, und damit das Jahr, in dem die Hoffnung auf eine gewaltsam beförderte bessere Welt abgewickelt wurde. "Terrorismus" ist einer der Leitbegriffe für Penman, genauer: die Reaktion von Fassbinder auf ihn, die Distanznahme in dem Gruppenfilm "Deutschland im Herbst".

Für Fassbinder war das Kino kein Mittel in einem bewaffneten Kampf, wie für Godard. Er wollte etwas vielleicht Unmögliches, nämlich mit dem ganzen Apparat etwas Populäres erschaffen, in dem sich ein großes Publikum in seinen Kompliziertheiten erkennen konnte. Keine andere Welt, sondern die eigene, in künstlerischer Überzeichnung. Hollywood gelang diese Utopie für ein, zwei Jahrzehnte, und zwar just, als Goebbels ihr ein Unterhaltungskino gegenüberstellen wollte, in dem keine Obsessionen mehr Platz hatten außer einige irrsinnige, welthistorische, die ihm und dem Führer vorbehalten waren.

Am zwanzigsten Jahrhundert haben sich schon viele Autoren zergrübelt. Penman bietet mit dem Epochenschema Punk/Post-Punk eine Figur an, die nicht nur für den Blick auf Fassbinder, sondern auch darüber hinaus eine Menge hergibt. Kein Buch für die Hauptvorlesung, eher eines für die Hosentasche, zum Blättern beim Anstehen in Kinos oder bei Festivals, in denen vielleicht irgendjemand den Geist von Rainer Werner Fassbinder in immer neuen Post-Punk überführt. BERT REBHANDL

Ian Penman: "Fassbinder". Tausende von Spiegeln.

Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 243 S., br., 20,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Am zwanzigsten Jahrhundert haben sich schon viele Autoren zergrübelt. Penman bietet mit dem Epochenschema Punk/Post-Punk eine Figur an, die nicht nur für den Blick auf Fassbinder, sondern auch darüber hinaus eine Menge hergibt.« Bert Rebhandl Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240409