Produktdetails
  • Verlag: Nomos
  • ISBN-13: 9783832928476
  • ISBN-10: 3832928472
  • Artikelnr.: 22927537
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2009

Europa im Schwebezustand
Auch wenn das Verfassungsprojekt gescheitert ist, müssen die Rechtsgrundlagen der EU neu interpretiert werden
Die Europäische Gemeinschaft ist in schweres Fahrwasser geraten. Nach dem Beitritt weiterer zehn Staaten am 1. Mai 2004 sollte die Union einen Verfassungsvertrag bekommen, der den EU-, EG- und Euratom-Vertrag ersetzen und als Herzstück eine Charta der Grundrechte enthalten sollte. Erklärtes Ziel war ein Mehr an demokratischer Legitimation, Transparenz und Effizienz; insbesondere sollten die institutionellen Strukturen, ursprünglich für eine Gemeinschaft von sechs Gründungsstaaten zugeschnitten, fit gemacht werden für 25 (und inzwischen sogar 27) Mitgliedsländer. Dieses Verfassungsprojekt scheiterte 2005 am ablehnenden Referendum der Franzosen und Niederländer.
Nach einer „Reflexionsphase”, die eigentlich eine Phase der Ratlosigkeit war, beschlossen die Staats- und Regierungschefs während der deutschen Präsidentschaft, in einem neuen Anlauf die bisherigen Gründungsverträge zu reformieren, statt ihnen durch einen Verfassungsvertrag eine völlig neue Qualität zu geben. Der am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnete Reformvertrag, der große Teile des Verfassungsvertrages übernahm, sollte am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Das ablehnende Votum der Iren hat dies verhindert. Im Augenblick weiß niemand, wie der Reformprozess weitergehen soll.
Dies bedeutet, dass wir auf nicht absehbare Zeit weiter mit dem europäischen Unions- und Gemeinschaftsvertrag als primärem Gemeinschaftsrecht leben müssen. Es besteht daher ein dringender Bedarf an einer Fortschreibung der Kommentierungen zum EU- und EG-Vertrag, insbesondere im Hinblick auf die progressive Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die für Aufsehen und Aufregung sorgt. In einer Zeit, in der ein ehemaliger Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts (Roman Herzog) unter der Schlagzeile „Stoppt den Europäischen Gerichtshof” Urteile in einer teilweise fachlich angreifbaren und im Stil inakzeptablen Form kritisiert, kommt ein solcher Kommentar genau richtig. 47 ausgewiesene Kenner der Materie aus Wissenschaft, Gerichtsbarkeit, Anwaltschaft und Verwaltung, die auf nationaler und auf europäischer Ebene täglich mit dem Gemeinschaftsrecht umzugehen haben, erläutern hier sachkundig den Unions- und Gemeinschaftsvertrag.
Die EU existiert als Staatenverbund allein durch das Recht, das sie geschaffen hat und das sie selbst schafft. Natürlich ist es für die Gemeinschaft geradezu existentiell, dass sie die Kompetenzgrenzen ihrer Normsetzungen respektiert. Genauso existentiell ist es für sie jedoch, dass die Mitgliedsstaaten die Entscheidungen der europäischen Gerichte als Bestandteil der autonomen Rechtsordnung der Gemeinschaft respektieren. Auch der EuGH kann, wie jedes andere oberste Gericht, (rechtskräftig) irren, ohne dass dies Anlass geben sollte, ihn einer „Kontrollinstanz” zu unterwerfen, wie dies Roman Herzog fordert.
Der Kommentar zeichnet sich dadurch aus, dass er die dogmatisch-wissenschaftliche Durchdringung der dem nationalen Juristen ungewohnten Regelungssystematik des Gemeinschafts- und Unionsrechts mit erschöpfender Darstellung der einschlägigen Rechtsprechung verbindet, dabei aber kompakt und benutzerfreundlich bleibt.
Für den Praktiker besonders wertvoll sind die im Anhang abgedruckten Regelungen und Protokolle, etwa die Satzung des EuGH und die Verfahrensordnungen der europäischen Gerichte, die verschiedenen Hinweise für Prozessvertreter, Parteien und vorlegende nationale Gerichte sowie die Protokolle über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU, über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, über Dienste von allgemeinem Interesse sowie über den Binnenmarkt und den Wettbewerb.
Der Kommentar trägt der Schwebelage Rechnung, in der sich die Gemeinschaft seit dem irischen Nein befindet. Die im Reformvertrag von Lissabon vorgesehenen Änderungen sind im Überblick sowie am Ende der Kommentierung der jeweiligen Vorschriften des EU- und EG-Vertrages dargestellt. Dies ist nicht nur deshalb besonders nützlich, weil damit die Tragweite der von den Regierungschefs gewollten Änderungen deutlich werden, sondern auch deshalb, weil diese Regelungen voraussichtlich irgendwann einmal so in Kraft treten werden, allerdings vermutlich mit bestimmten Vorbehalten für einige Mitgliedsstaaten, etwa im Hinblick auf den Geltungsbereich der Charta der Grundrechte.
Das Werk enthält eine vorzügliche Kommentierung der Grundrechte-Charta. Auch wenn diese als Bestandteil des Lissabonner Vertrags noch nicht in Kraft ist, gilt sie doch kraft Selbstverpflichtung bereits für die europäischen Institutionen. Außerdem ist sie als „Quelle der Inspiration” bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Diese kompakten Erläuterungen zu den Grundrechten zusätzlich zur Kommentierung des EU- und des EG-Vertrages sowie zur Einbeziehung des Lissabonner Reformvertrags verleiht der 2. Auflage des „Schwarze” einen – derzeit – einzigartigen Rang. GÜNTER HIRSCH
JÜRGEN SCHWARZE (Hg.): EU-Kommentar. Nomos Verlag, Baden-Baden 2008. 2734 Seiten, 198 Euro.
Der Rezensent war Präsident des Bundesgerichtshofes und Richter am Europäischen Gerichtshof.
Elan demonstrierte der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolánek (links) – seit Jahresbeginn und bis Ende Juni Ratspräsident der EU – bei einem Treffen mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Brüssel. Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2009

Einblicke in das EU-Recht
Jürgen Schwarze hat seinen Kommentar aktualisiert

Es ist mutig, in dieser Zeit eine Neuauflage eines Kommentars herauszugeben, der das gesamte EU-Recht umfasst, obwohl das Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags durch den negativen Ausgang des irischen Referendums und der abwehrenden Haltung Prags bisher blockiert ist. Umso mehr sind Herausgeber, Mitarbeiter und Verlag zu beglückwünschen, dass sie den Entschluss gefasst haben, die erste Auflage des "Schwarze-Kommentars" aus dem Jahre 2000 durch eine Neuauflage zu aktualisieren.

Denn trotz aller Klagen über das Scheitern des Verfassungsvertrags und der Verzögerung seiner faktischen Wiederbelebung durch den Lissabonner Reformvertrag hat sich die Europäische Union und mit ihr das EU-Recht in den vergangenen acht Jahren mit erstaunlicher Geschwindigkeit fortentwickelt. Auf der Ebene des primären Vertragsrechts ist an den vielgescholtenen Vertrag von Nizza zu erinnern, der zurzeit das Funktionieren der Verfassungsorgane regelt; die Zahl der Mitgliedstaaten hat sich von 15 auf 27 erhöht.

Die Gesetzgebungsmaschine der EU ist - trotz der Vergrößerung und des Reformstaus auf der Verfassungsebene - erstaunlich aktiv geblieben und hat den Anwendungsbereich des Rechts - nach Ansicht vieler manchmal zu weit - ausgedehnt. Die Kommission hat weite Bereiche, vor allem das Wettbewerbsrecht, tiefgreifend reformiert. Und die Gerichte in Luxemburg sind in den vergangenen Jahren so aktiv gewesen wie nie zuvor in der Geschichte der EU. Aus der Sicht all derjenigen, die sich schnell und dennoch gründlich über den derzeitigen Stand des EU-Rechts informieren wollen, ist daher die Neuauflage des "Schwarze-Kommentars" in hohem Maße zu begrüßen.

Worin unterscheidet sich die Neuauflage von der Vorauflage? Natürlich in der Aktualisierung des kommentierten Vertragsrechts und des darauf gestützten Gesetzgebungsrechts, wobei vor allem die durch den Vertrag von Nizza geänderten institutionellen Regeln für Europäisches Parlament, Rat, Kommission und europäische Gerichte sowie die reformierten Gemeinschaftspolitiken, wie Agrar- und Wettbewerbspolitik, zu nennen sind. Die Kommentierung des geltenden Primärrechts wird durch eine Vorausschau auf die wichtigsten Änderungen ergänzt, die der Lissabonner Reformvertrag mit sich bringen wird.

Der Herausgeber Jürgen Schwarze widmet dem Reformvertrag eine knappe, aber eindrucksvolle Gesamtübersicht, die dem Kommentar als Einführung vorangestellt ist. Ausführlich und erstmals kommentiert werden alle Artikel der Grundrechts-Charta, die durch den Reformvertrag Vertragsqualität bekommen wird. Darüber hinaus verweisen die Anmerkungen zu einzelnen Artikeln des EU- und des EG-Vertrags am Ende der Kommentierung kurz auf zukünftige Änderungen durch den Reformvertrag. Schließlich sind eine konsolidierte Fassung des Lissabonner Reformvertrags sowie seine wichtigsten Protokolle in die Anhänge des Kommentars aufgenommen worden.

Worin bleibt die 2. Auflage dem Vorbild der 1. Auflage treu? In erster Linie im wissenschaftlichen Anspruch. Der "Schwarze-Kommentar" ermöglicht zwar einen schnellen und handlichen Zugang zum gesamten Primärrecht und wichtigen Teilen des Sekundärrechts. Er ist aber kein reiner Praktikerkommentar, sondern hat durch seine Verweisungen, vor allem auf die Rechtsprechung von EuGH und EuG, die Präzision, Dichte und Tiefe eines der mehrbändigen Großkommentare.

Die Qualität der Anmerkungen ist nicht überraschend, wenn man berücksichtigt, dass die Neuauflage sich auf die enormen Investitionen stützen kann, die zwischen der 1. und 2. Auflage des "Schwarze-Kommentars" in die 6. Auflage des traditionsreichen, ebenfalls von Jürgen Schwarze herausgegebenen vierbändigen Großkommentars "von der Groeben/Schwarze" eingeflossen sind.

Die Zahl der Mitarbeiter der 2. Auflage ist zwar von 41 auf 47 leicht gestiegen, aber doch relativ konstant geblieben. Professoren, hohe Verwaltungsbeamte aus dem nationalen und europäischen Bereich, Anwälte, Unternehmensjuristen und erstmals auch Richter teilen sich in die Aufgabe der Kommentierung des immer weiter aufgefächerten Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Union. Die Koordinierungsprobleme zwischen den Bearbeitern sind dadurch nicht geringer geworden, aber vom Herausgeber und seinen Mitherausgebern Ulrich Becker, Armin Hatje und Johann Schoo eindrucksvoll gelöst worden.

Überraschend ist, dass die Seitenzahl der 2. Auflage trotz der größeren Breite und Tiefe der Kommentierung und trotz des Vorgriffs auf den Lissabonner Reformvertrag nahezu konstant geblieben ist. Die Autoren haben ihre Beiträge trotz neuer Vertrags- und Gesetzgebungsregeln, der reicheren Verwaltungspraxis der Kommission und der Flut der Urteile von EuGH und EuG nicht ausgeweitet; der Nomos Verlag hat das Layout rationalisiert und durch ein größeres Seitenformat mehr Platz für die Bearbeiter geschaffen.

Noch überraschender ist, dass es dem Verlag gelungen ist, den Preis des Kommentars nahezu unverändert zu lassen. Offensichtlich rechnet der Verlag mit einer - für einen EU-Kommentar - hohen Auflage. Mit Recht, denn die 2. Auflage des "Schwarze-Kommentars" ist allen am europäischen Recht Interessierten im privaten und im öffentlichen Bereich, in Wirtschaft und Anwaltschaft, in Politik, Verwaltung und Justiz wärmstens zu empfehlen.

Die Empfehlung richtet sich - der deutschen Sprache des Kommentars entsprechend - in erster Linie an den Leser aus dem deutschen Sprachbereich. Aber mein Rat ist nicht auf diesen Kreis beschränkt. Die deutsche Form der Kommentierung von einzelnen Vorschriften von Verfassungen, Gesetzen und Verordnungen ist wegen der Leichtigkeit des Zugangs zu den einschlägigen Regeln und wegen ihrer Präzision einzigartig: Sie gehört zu den besten Exportartikeln deutscher Rechtstradition.

CLAUS-DIETER EHLERMANN

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die zweite Auflage des von Jürgen Schwarze herausgegebenen EU-Kommentars ist für Günter Hirsch von einzigartigem Rang. Hirsch, früherer Präsident des Bundesgerichtshofes und Richter am Europäischen Gerichtshof, führt die große Bedeutung des Bandes zurück auf den infolge des gescheiterten Reformvertrags von Lissabon weiterhin bestehenden Bedarf an einer Erläuterung des EU- und EG-Vertrags. Die im Band enthaltenen "sachkundigen" wie "benutzerfreundlichen" Texte von 47 "Kennern der Materie" bestechen laut Rezensent durch die Verbindung von wissenschaftlicher Durchdringung der Regelungssystematik des Gemeinschafts- und Unionsrechts mit der erschöpfenden Darstellung der einschlägigen Rechtssprechung. Für die Praxis wertvoll erscheinen Hirsch die im Anhang versammelten Satzungen und Verfahrensordnungen der europäischen Gerichte sowie die überblicksweise Darstellung der im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Änderungen.

© Perlentaucher Medien GmbH