109,95 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 1-2 Wochen
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Keine ausführliche Beschreibung für "Ethik der Gabe" verfügbar.

Produktbeschreibung
Keine ausführliche Beschreibung für "Ethik der Gabe" verfügbar.
Autorenporträt
Michael Wetzel, Universität Bonn.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2010

Nach dem Tod werde ich nur noch Pflichtbestand in Bibliotheken sein
Europäer von übermorgen: Der Philosoph Jacques Derrida, der in diesen Tagen achtzig geworden wäre, hinterließ keinen Derridismus, aber sein geistiges Erbe wird wachgehalten
Seit einiger Zeit fragt sich die Philosophenzunft, was von Jacques Derrida, dem Meister der Dekonstruktion und intellektuellem Medienstar, geblieben ist. Galt der Franzose doch vor zwanzig Jahren noch als meistzitierter philosophischer Autor, der seine akademische Laufbahn als Jet-Set-Philosoph regelmäßig auf zwei Kontinenten, das eine Halbjahr in Frankreich und das andere an verschiedenen amerikanischen Elite-Universitäten, verbrachte. Derrida gehörte seit 1966, als er an der Johns Hopkins University in Baltimore seine berühmte Kritik an Claude Lévi-Strauss vortrug, zum festen Bestandteil der literaturwissenschaftlichen Departments in den USA. Nicht nur Philosophen, auch Theologen, Juristen oder Architekten rezipierten begeistert den Theorieimport aus dem alten Kontinent.
Mittlerweile ist der Siegeszug der französischen Meisterdenker beendet. Das betrifft auch den am 15. Juli 1930 bei Algier geborenen Derrida, der, knapp sechs Jahre nach seinem Tod, zum Gegenstand historischer Abhandlungen geworden ist. Der Pariser Denker, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt geworden wäre, hinterließ nahezu neunzig Bücher, in denen er sich mit der Poesie Paul Celans, der Semiologie Ferdinand de Saussures, der Religionsphilosophie Emmanuel Lévinas’, der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der politischen Theorie Carl Schmitts auseinandersetzte. Einen seiner einflussreichsten Vorträge hielt er im Herbst 1989 an der New Yorker Cardozo School of Law über Recht und Gerechtigkeit in Walter Benjamins Frühwerk. Derrida bekannte selber, der Vortrag habe dazu beigetragen, dass man sowohl in den philosophischen als auch in den juristischen Fakultäten lebhaft über die gegenseitige Bedingtheit von Recht und Gerechtigkeit diskutierte.
Natürlich fragt sich, wie es, nach dem Tod des Autors, um ein Werk bestellt ist, das dieser selbst als „Randgänge der Philosophie“ verstand. Wohlgemerkt, Derrida interessierte sich niemals für die klassischen Genres und Inhalte, sondern für eine bestimmte Art des Textverstehens: für eine dekonstruktive Lektüre wissenschaftlicher und literarischer Texte. Dekonstruktion empfand er nicht als innerphilosophisches Verfahren, als geschlossenes System oder fest umrissene Methode. Vielmehr ging es darum, geduldig die quasi naturgegebenen Hierarchien und Ordnungen aufzuspüren, die sich in den Texten sedimentiert haben und dabei Denkwege außerhalb der etablierten begrifflichen Bezugssysteme zu bahnen. Das ist der Ariadnefaden, der sich durch Derridas kompliziertes und vielschichtiges Werk zieht.
Zweifellos hat ein derartiges Denken, das in jedem Totalisierungsbestreben die subkutanen Dissonanzen heraushört, seine Aktualität nicht verloren. Dennoch hat sich der theoretische Anspruch gewandelt. Das bemerkte auch Derrida, als er im August 2004, angesichts des nahenden Krebstodes, einem Journalisten der Tageszeitung Le Monde ernüchtert gestand: „Ich halte zweierlei für möglich: Einerseits muss ich lächelnd und unbescheiden gestehen, dass man keineswegs begonnen hat, mich zu lesen. Zwar gibt es zweifellos viele gute Leser – vielleicht weltweit zwanzig, dreißig oder mehr –, aber im Grunde ist es zu spät, dass sich das auswirken könnte. Andererseits bin ich mir sicher, dass fünfzehn Tage oder ein Monat nach meinem Tod nichts mehr übrig bleiben wird. Ausgenommen das, was in den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwahrt wird.“
Derridas Einsicht überrascht keineswegs, hat er sich doch lange mit dem Überleben, mit dem Leben nach dem Tod und mit der Bedrohung durch den Tod auseinandergesetzt. Heute lässt sich feststellen, dass er keine „Schule“ hinterlassen und keinen „Derridismus“ begründet hat. Und trotzdem wird sein geistiges Erbe wach gehalten. Das zeigt die herkulische Edition, an die sich Derridas Nachlassverwalter Michel Lisse, Marie-Louise Mallet, Ginette Michaud und seine Witwe Marguerite gewagt haben. Sie gaben kürzlich die beiden Bände heraus, die Derridas letzte Lehrveranstaltung „Die Bestie und der Souverän“ dokumentiert, die er zwischen 2001 und 2003 an der Pariser École des hautes études en sciences sociales hielt.
Die jetzt vorliegenden Bände lassen den Leser an Derridas lebendigem Seminarstil teilhaben. Sie führen ihm Schritt für Schritt vor Augen, wie die minutiöse Arbeit der Dekonstruktion im Austausch mit den Studenten entstand. So beschäftigte er sich 2002, als George W. Bush gerade die Irak-Invasion vorbereitete, mit den Souveränitäts- und Machtphantasien der Herrschenden, die es zu analysieren und zu dekonstruieren galt. Selbst demokratisch gewählte Herrscher lassen sich vom Phantasma einer ungeteilten Souveränität leiten, die sie, wie beim pietistischen George W. Bush, durch eine vermeintlich göttliche Souveränität legitimiert sehen.
Dem damaligen US-Präsidenten, der die „Schurken-Staaten“ an den Pranger stellte, hielt Derrida entgegen, gerade den Souverän zeichne eine „unheimliche Verwandtschaft“ mit der Bestie und dem Verbrecher aus, da sich alle drei über das Gesetz stellen. Diesen strukturellen Vergleich verstand Derrida als Dekonstruktion von Allmachtsphantasien. Den beiden voluminösen Bänden über „Die Bestie und der Souverän“ wird in den nächsten Jahren die Publikation sämtlicher, an den Pariser Universitäten abgehaltenen Seminare folgen. Sie soll einmal die stattliche Anzahl von 43 Bänden umfassen. Das ist eine Herausgeberleistung, die sogar die Publikation von Foucaults nachgelassenen „Dits et Ecrits“ übertrifft.
Von dem Bonner Literaturwissenschaftler Michael Wetzel liegt jetzt eine kleine Monographie vor, die den zahllosen „Randgängen“ von Derridas Philosophie folgt. Und auch der Wiener Passagen-Verlag bleibt auf den Spuren des Pariser Meisterdenkers. Allein in diesem Jahr erscheinen dort drei weitere seiner Werke auf Deutsch. „Psyché. Erfindung des Anderen“ ist ein geradezu programmatischer Vortrag von 1984, der wichtige Gedanken zur politischen Theorie der neunziger Jahre vorwegnimmt; und „Bleibe, Athen“ besteht aus literarischen Aphorismen, die Derrida 1996 während eines Athen-Aufenthalts schrieb. Demnächst publiziert der Wiener Verlag außerdem den Vortrag „Das Tier, das ich also bin“ von 1997.
Die beiden Vorträge sind Lehrbeispiele der Dekonstruktion. Während der jüngere Text Lacans rigorose Unterscheidung zwischen dem sprachfähigen Menschen und dem sprachunfähigen Tier dekonstruiert und damit den traditionellen Mensch-Tier-Dualismus aushebelt, führt der Text von 1984 Dekonstruktion und Demokratie zusammen. Gemäß dem Motto „Keine Dekonstruktion ohne Demokratie, aber auch keine Demokratie ohne Dekonstruktion“. Jacques Derrida verstand sich wie Friedrich Nietzsche als „Philosoph der Zukunft“ und als „Europäer von Übermorgen“. Für einen an französischen Universitäten ausgebildeten Philosophen lag die Morgenröte eines Nietzsche näher als die Auschwitz-Reflexionen eines Adorno. Deswegen Derridas Vertrauen in die offene Struktur, das Unvorhersehbare, das Ereignis, das Unmögliche. Die „Wagnis des Erkennenden“ war ihr gemeinsames Motto.
Nichts anderes meinte die amerikanische Feministin Judith Butler nach Derridas Tod: „Jacques Derrida hielt die Praxis der Kritik lebendig, weil er verstanden hatte, dass sozialer und politischer Wandel ein unaufhörliches Projekt ist, ein Projekt, das mit dem Werden des Lebens selbst zusammenfällt.“ KLAUS ENGLERT
JACQUES DERRIDA: Séminaire. La bête et le souverain. Volume I (2001-2002), Volume II (2002-2003), hrsg. von Michel Lisse, Marie-Louise Mallet und Ginette Michaud. Editions Galilée, Paris 2008 und 2010. 469 und 400 Seiten, pro Band 33 Euro.
JACQUES DERRIDA: Psyché. Erfindung des Anderen. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Passagen Verlag, Wien 2010. 112 Seiten, 1 4,90 Euro.
JACQUES DERRIDA: Bleibe, Athen. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Passagen Verlag, Wien 2010. 80 Seiten, 14,90 Euro.
JACQUES DERRIDA: Das Tier, das ich also bin. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Passagen Verlag, Wien 2010. 280 Seiten, 38 Euro.
MICHAEL WETZEL: Derrida. Reclam Verlag, Stuttgart 2010. 156 S., 9,90 Euro.
Derrida sagte, er habe „viele gute
Leser – vielleicht weltweit
zwanzig, dreißig oder mehr“
Jacques Derrida (1930-2004), hier im Jahr 2001. Foto: Joel Robine/AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr