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»Es beginnt der Tag« - aber wie kann er in Zeiten der Trauer weitergehen? Immer wieder setzt der Trauerrefrain beim Tagesanbruch an, um zu zeigen, wie das einmal Geschehene weiterwirkt und sich in alle neu versuchten Anfänge einschreibt.In 209 kurzen, locker an die Tradition des Haiku angelehnten Gedichten dokumentiert das Buch eine tiefe geistige und emotionale Krise. Im Fokus steht das sich über einen längeren Zeitraum entfaltende Gefühl der Trauer als das prägende Gefühl einer Zeit, in der die Menschen sich in zunehmender Schärfe dem Verlust von Lebewesen, von Bewohnbarkeit und…mehr

Produktbeschreibung
»Es beginnt der Tag« - aber wie kann er in Zeiten der Trauer weitergehen? Immer wieder setzt der Trauerrefrain beim Tagesanbruch an, um zu zeigen, wie das einmal Geschehene weiterwirkt und sich in alle neu versuchten Anfänge einschreibt.In 209 kurzen, locker an die Tradition des Haiku angelehnten Gedichten dokumentiert das Buch eine tiefe geistige und emotionale Krise. Im Fokus steht das sich über einen längeren Zeitraum entfaltende Gefühl der Trauer als das prägende Gefühl einer Zeit, in der die Menschen sich in zunehmender Schärfe dem Verlust von Lebewesen, von Bewohnbarkeit und Gerechtigkeit aussetzen und ausgesetzt sehen.In langsamen Schritten nähert sich der Text dem Auslöser des Trauerprozesses der Autorin: Russlands großflächigem Angriff auf die Ukraine. Ihrer poetischen Resonanz auf Leid und Zerstörungswillen stellt Anja Utler einen analytischen Essay zur Seite, in dem sie dafür plädiert, Gefühle nicht länger reflexhaft abzuwehren, sondern sie zu erforschen. Denn als Auskunftgeber über die Beziehungen in der Welt bezeugen sie nicht nur die Bedeutung (ausbleibender) gesellschaftlicher Veränderungen, sie können auch Wege zu besserem Handeln aufzeigen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Nachricht vom Angriffskrieg auf die Ukraine verwandelt sich für die Lyrikerin Anja Utler zum Motor, sich einem anderen, an die japanischen Haikus angelehnten Schreiben zuzuwenden, erzählt Rezensentin Beate Tröger. Jedes der Gedichte beginnt mit dem Vers "Es beginnt der Tag", doch die insgesamt 209 Poeme nehmen jedes ihren eigenen Lauf, von Ohnmacht und Wut über Hoffnung bis zur Verzweiflung, verrät die Kritikerin. Auch die Anleihen an Wislawa Szymborska oder christliche Motivik fallen ihr auf. Für sie ist das als "Trauerrefrain" markierte Buch kein billiges Betroffenheitsgetue, sondern ein Angebot, einen Resonanzraum zu eröffnen, um Krisengefühle zu verhandeln. Das Angebot nimmt Tröger gerne an.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2023

Dahinter fliegt der Kosmos auseinander
Dichten im Zustand lähmender Trauer: Anja Utlers vom Krieg geprägter Lyrikband "Es beginnt"

Was geschieht, wenn aufgrund einer Veränderung der äußeren Umstände Gewissheiten ins Wanken geraten und eine extreme Krise folgt? In dieser Situation fand sich die Lyrikerin, Übersetzerin, Essayistin und Slawistin Anja Utler nach dem 24. Februar 2022. Der Angriff Russlands auf die Ukraine schockierte sie auf unerwartet heftige Weise. Sie reagierte zunächst mit Arbeitswut. Dann bemächtigte sich ihrer ein Zustand lähmender Trauer. Sie konnte sich schlecht konzentrieren, kaum alltäglichen Verrichtungen nachgehen, sich nicht mehr auf insbesondere die poetischen Gewissheiten berufen, die sie durch zwei Jahrzehnte des Schreibens getragen hatten. Das Schreiben von Gedichten blieb ihr aber möglich, wenn auch auf ganz andere Weise.

"Es beginnt" versammelt 209 Gedichte aus diesem Prozess, wird flankiert vom Essay "Es beginnt immer in Begleitung. Ein Plädoyer, auch die haarigen Gefühle mitzudenken". Er schildert, wie Utler auf die historische Veränderung mit einer rituellen, meditativen Schreibpraxis reagierte: Sie wählte nicht etwa eine tradierte Form lyrischer Klage, wie das Complaint oder die Elegie, entschied sich stattdessen für eine dem Haiku eng verwandte Form, um ihre Emotionen in Verse zu übersetzen, in denen, hierin den Vorgaben der japanischen Haiku-Dichtung verpflichtet, der Gegenwartsbezug erkennbar ist.

Die zum Teil motivisch eng verknüpften 209 Haikus nehmen alle ihren Ausgang in der Formel: "Es beginnt der Tag", einem Vers, der auf Gegenwärtigkeit zielt und auf einen der bekanntesten Schöpfungstexte verweist, auf die Genesis: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. / Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. / Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht". Diese Beschwörung, in der die Sprache etwas hervorbringt und erhellt, findet sich in der lyrikhistorischen Tradition häufig, etwa in Inger Christensens Langgedicht "Alphabet". Sie steckt auch in Utlers mantrenhaft wiederholter Formel: Sei gegenwärtig, so scheint jeder Anfang der Haikus zu sagen, sammle dich, fang neu an!

Doch bereits das erste wehrt sich mit dem zweiten Vers gegen diesen Appell, gegen die Vorstellung eines munteren Neuanfangens, einer verlässlichen Schöpferkraft, einer Souveränität des Sprechers: "Es beginnt der Tag / Er ließ sich nicht umgehen. / Die Pflanzen stranden / im Licht; reagieren". Hier ist das Moment des Ausgeliefertseins an einen Tag artikuliert, der sich "nicht umgehen" lässt, der auch Gewaltsamkeit, Grausamkeit und Willkür und die Wucht der Zerstörung im Gepäck hat. Das fünfte Haiku spricht es direkt aus: "Es beginnt der Tag / zu allen Seiten. Wand und / Licht. Dahinter fliegt / der Kosmos auseinander".

Utlers lyrische Strategie für und gegen die Trauer, ihr Weg, mit Gefühlen überhaupt zu entwickeln, ohne sie zu verneinen oder herunterzuspielen, sich dabei stets gewahr zu bleiben, dass der Unterschied zwischen unmittelbar vom Krieg Betroffenen, "die mit Zerstörung überzogen werden, leiden, fliehen und sterben", und ihrer eigenen Trauer markiert sein und bleiben muss, zeichnet sich aus durch Ungeschütztheit. Die Spannung zwischen Hoffen, Zweifeln und Verzagen wird in knappsten Worten offenbar. Verluste werden verzeichnet, Gewissheiten zerfetzt: "Es beginnt der Tag / alles ist von gestern hier / Blutbahnen gelegt /-zählet, dass nicht eines fehl-". Das christliche Kinderlied "Weißt du, wie viel Sternlein stehen" von Wilhelm Hey erscheint hier nur mehr als Fragment, der Zitatfetzen signalisiert den Verlust unverbrüchlichen (Kinder-)Glaubens. Immer wieder streut Utler in ihre Haikus solche Anspielungen ein, etwa an die Lyrik Wislawa Szymborskas. Einmal wird aus dem Verstummen blanke Wut: "Es beginnt der Tag / ich schrei ihn an". Einmal fehlen gar ganz die Worte, liest man lediglich: "Es beginnt der Tag."

In gewisser Weise werden Trauer, Entsetzen und Wut hier gewendet, indem sie zugelassen und artikuliert werden. Die naive Vorstellung, Wörter könnten zaubern, weist Utlers Essay allerdings entschieden ab: Gedichte könnten Gefühle nicht unmittelbar ausdrücken. Der poetische Text könne sich aber Gefühlen gegenüberstellen, ein ansprechendes und ansprechbares Feld möglicher Resonanzen eröffnen, zu dem Beziehungen herstellbar sind und auslotbar werden.

In "Es beginnt" spricht und schreibt eine strenge Stimme, die sich jegliche Gleichmacherei, Unschärfe im Denken aufgrund des Kriegs und starker Affekte verbietet, die hart und klar auf Unterschiede im Erleben des Kriegs im Gegensatz zur Zeugenschaft eines Kriegs und auf die Kraft des Verstandes abhebt. Anempfindelei, Betulichkeit, billige Betroffenheit findet sich hier nicht, der sprachliche Raum wird kritisch und hellwach der Sprachlosigkeit abgetrotzt in der Hoffnung, dass auf diese Weise Resonanzräume entstehen, die Möglichkeit der Veränderung in Krisen auf diese Weise eher gegeben ist als im Unterdrücken von Emotionen.

In seinem poetischen, zugleich kritischen Blick eines und auf ein denkendes und fühlendes Ich in Zeiten des Aufruhrs von ungekanntem Ausmaß bringt "Es beginnt" tatsächlich etwas zum Schwingen. Ohne sich aufzublähen, zu wissen, zu behaupten, spricht, sucht und fragt eine Stimme, die auf die Notwendigkeit pocht, erschütterbar zu bleiben und gerade deshalb zu widerstehen. So ist dieser Band aufgrund eines Kriegs ein Gesprächsangebot an diejenigen, die mit Trauer- und Ohnmachtsgefühlen zu hantieren überfordert waren und sind. BEATE TRÖGER

Anja Utler: "Es beginnt". Trauerrefrain.

Edition Korrespondenzen, Wien 2023. 270 S., br., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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