Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 10,00 €
  • Buch

Nicht nur Individuen, sondern auch Kulturen bilden ein Gedächtnis aus, um Identitäten herzustellen, Legitimation zu gewinnen und Ziele zu bestimmen. Aleida Assmann fragt nach den verschiedenen Aufgaben kultureller Erinnerung, ihren Medien (wie Schrift, Bilder, Denkmäler) im historischen und technischen Wandel sowie nach den Umgangsformen mit gespeichertem Wissen, bei denen neben Politik und Wissenschaft auch der Kunst eine wachsende Bedeutung zukommt. Mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter befinden wir uns an einer Medienschwelle, an der sich die Bedingungen des kulturellen Gedächtnisses…mehr

Produktbeschreibung
Nicht nur Individuen, sondern auch Kulturen bilden ein Gedächtnis aus, um Identitäten herzustellen, Legitimation zu gewinnen und Ziele zu bestimmen. Aleida Assmann fragt nach den verschiedenen Aufgaben kultureller Erinnerung, ihren Medien (wie Schrift, Bilder, Denkmäler) im historischen und technischen Wandel sowie nach den Umgangsformen mit gespeichertem Wissen, bei denen neben Politik und Wissenschaft auch der Kunst eine wachsende Bedeutung zukommt. Mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter befinden wir uns an einer Medienschwelle, an der sich die Bedingungen des kulturellen Gedächtnisses tiefgreifend verändern. Während die Verwaltung von Daten immer leichter wird, geht die Haltbarkeit der Datenträger drastisch zurück. Papyri konnten im Wüstensand Jahrtausende überdauern, Bücher halten einige Jahrhunderte, Taschen-bücher einige Jahrzehnte, Disketten nur noch einige Jahre. Wie wird sich das kulturelle Gedächtnis in Zukunft gestalten, wenn die Speichermedien immer kürzeren Verfallsdaten unterliegen? Unter solchen Umständen wird das Bewußtsein für die Vorkehrungen geschärft, die in der Kultur für die Konservierung und Bereitstellung vergangenen Wissens aufgewendet worden sind. Woher kommt das Interesse am Aufbau von Erinnerungsräumen, der ein wichtiges Ziel kultureller Anstrengungen ist? Wie werden Erinnerungen, die doch zunächst immer individuelle Erinnerungen sind, zu allgemein verbindlichen? Wie geht man mit solchen Erinnerungen um – nutzt man sie zur Bestätigung der Gegenwart, zum Anstoß einer Erneuerung oder zur Relativierung des eigenen Standpunktes? Und welche Rolle spielen dabei die Medien der Erinnerung; wie wirken sich der Medienwechsel des Buchdrucks, der Photographie, der elektronischen Aufzeichnung auf die Gestalt und Qualität kultureller Erinnerungsräume aus? Da diese kulturwissenschaftliche Fragestellung die Zusammenführung einer weitgestreuten Spezialforschung nötig macht, werden die Grenzen der Nationen, Epochen, Künste und Disziplinen unbeirrt überschritten. Und obwohl literarische Texte im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, kommen ebenso historische, kunsthistorische, philosophische und psychologische Fragen zur Sprache.
Autorenporträt
Aleida Assmann ist seit 1993 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Veröffentlichungen besonders zur englischen Literatur, zur Geschichte des Lesens und zum kulturellen Gedächtnis.
Rezensionen
"... ein ungemein anregendes, stellenweise aufregendes Buch."
Tillmann Bendikowski, Das Parlament

"Man findet unendliche viele Anregungen, Perlen der Literaturinterpretation, ein sorgfältiges Hin-und-her-Wenden vielfältiger Aspekte ... reich ist dieses Buch wirklich." Gesine Schwan, Die Welt

"Von Aleida Assmann lernen wir, wie Kultur und Gedächtnis als Synonyme verstanden werden können, als untrennbare komplementäre Verhältnisse." Guido Graf, Frankfurter Rundschau

"... eine Fülle anschaulicher Beispiele ..." Elisabeth Bronfen, Süddeutsche Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Und von allem dem schwebt ein Erinnern
Nur noch um das ungewisse Herz: Aleida Assmanns weitläufiges Museum der Gedächtnisräume

Beginnen wir etwas langweilig. Das Eingangszitat des Historikers der Gedächtnisorte - Pierre Noras - kündigt 400 Seiten Kulturkritik an: "Nur deshalb spricht man soviel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt." Am Ende steht dagegen der fröhliche Wissenschaftler, der erste Philosoph, der seine Metaphern aus dem Gebrauch der Schreibmaschine abgeleitet hat, aber auch aus seinem Erfahrungshintergrund als Philologe: "Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort - und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch: ,ich erinnere mich', und beneidet das Tier, welches sofort vergißt." Unwillkürliche menschliche Erinnerung holt den Menschen also auch im Zeitalter der beinahe totalen technischen Ersetzbarkeit von Gedächtnisleistungen immer wieder ein - mit diesem Trost resümiert Aleida Assmann ihr neues Buch.

Ungeklärt bleibt allerdings, was Nietzsche hier mit der "Rolle der Zeit" meint: Hat er Buchrollen im Sinn? Aber können sich aus Buchrollen einzelne Blätter herauslösen? Ist es vorstellbar, daß ein Stilist wie Nietzsche seine Metaphern so schlampig bildet wie ein "Zeitungs-Fabrikarbeiter"? Vielleicht also spielt Nietzsche auf die Erfindung einer anderen Medien-Epoche an, der Epoche des revolutionären Vergessens aller Tradition - auf Nicolas Louis Roberts 1799 nach dem Prinzip des endlosen Bandes gebaute Papiermaschine. Auf dem Papier beendete Napoleon die Revolution - und im selben Medium ließ er sie weiterlaufen, in der Rotation der Endlosrollen seiner Propagandazeitungen. Die Zylinderdruckmaschine von Friedrich König ermöglichte auf der Gegenseite, daß die "Rolle der Zeit" mit rasender Geschwindigkeit die vergeßlichen Massen mit Seiten versorgte: 1814 wurde in London "The Times" auf der neuen Schnellpresse gedruckt. Was den Lesern der Tageszeitungen da fortwährend als Erinnerung von morgen in den Schoß flatterte, war fortwährend zum Vergessen bestimmt. "Eine Zeitung an Stelle der täglichen Gebete."

Die neueste Mitte

Dieser Zweifel über eine Metapher Nietzsches führt uns zum Problem dieses Buchs: Was sagen uns Metaphern? Wie bringt man sie historisch zum Sprechen? In diesem Fall geht es um Metaphern für das Gedächtnis. Hans Blumenberg, dem zufolge Metaphern mehr sind als "zufällige Ab- oder Ausschweifungen ihrer Autoren", hat den historischen Wandlungen der Welt-Metapher des Buchs Aufschluß über die Ur-Frage der Metaphysik abgelesen: "Wie bietet sich Wirkliches uns dar?" Der Medienhistoriker Friedrich Kittler ist weitergegangen und hat die Metaphern des Schreibens unmetaphorisch auf die Techniken ("Aufschreibesysteme") zurückgeführt, die in jeder Epoche an unseren Gedanken, Metaphern und Wirklichkeiten mitarbeiten, die das Dasein ins Symbolische, Imaginäre und Reale stellen. Zwischen diesen Polen - Metaphorologie und Mediengeschichte - hat Frau Assmann einen wenig systematischen Mittelweg gesucht, von dem nicht klar wird, wohin er führen soll.

Menschen oder Gesellschaften pflegen Erinnerungen - individuelle oder kollektive. Sie verbinden damit - so die Grundeinsicht von Frau Assmann - ihr Selbstverständnis, ihre Identität, ihre Legitimität: sei es über die Herkunft einer Familie, die Biographie einer Person, die Gründungstaten nationaler Helden, die Schandtaten der Väter. So wie das Leben durch äußere Feinde bedroht ist, so das Erinnern durch das Vergessen. Gegen das Vergessen sollen Techniken des Erinnerns helfen. Dabei geraten die Erinnerungsträger in das Dilemma, daß alte Speichertechniken durch neue laufend abgelöst werden. Die Schrift entwertet Reim und Rhythmus, der Buchdruck die Schrift, der Computer das Buch und so weiter. Speichermedien sind nicht nur die Wasserscheide für Alt und Neu, sie sind selbst das jeweils Neue oder schon nicht mehr Gebrauchte. Dies erklärt vielleicht die immerwährende kulturkritische Klage, daß das Gedächtnis schwindet. Andererseits besitzen Speichermedien eine gewisse Pertinenz, eine Hartnäckigkeit, die zugleich ihre Bedeutsamkeit ausmacht: sie lassen sich archivieren, verkulten, anbeten. Sie ermöglichen einen Reproduktionskreislauf mit Archivaren, die das Bewahrenswerte definieren und sichern, Historikern, die es zusammenfassen, Dichtern oder Journalisten, die es fälschen, Politikern, die es mißbrauchen, Juristen und Verlegern, die den Archiven neue Akten und Bücher zuführen. Im ersten Teil ihres Buchs unterscheidet Aleida Assmann das "Speichergedächtnis" vom "Funktionsgedächtnis", das Archiv von den je aktuellen Formen des interessegeleiteten Gebrauchs seiner Inhalte.

Das Gedächtnis ist von Pappe

In diesem ersten Teil des Buchs spürt man, daß es sich um einen Text handelt, der als anglistische Habilitationsschrift diente. Frau Assmann zeichnet historische Entwicklungslinien, Brüche oder Standpunkte nach. Hier lesen wir interessante Passagen über den Kampf der Erinnerungen bei Shakespeare und die Wunde der Zeit bei Wordsworth. Shakespeares Historien überführen feudale Memoria in nationale Memoria, die theatralische Wiederholung der Geschichte löst den Wiederholungszwang der Geschichte als endloser Folge von Schuld und Rache ab. Heinrich V. schafft in seinen Reden die Nation als Erinnerungsgemeinschaft. Bei Locke konstituiert das Gedächtnis die Identität der Person in der Zeit; Hume zeigt bereits wieder, wie imaginär diese Identität ist. Für Wordsworth ist jede Erinnerung nur ein matter Abglanz ursprünglicher Erfahrung; anders als bei Locke ist der Verlust unwiederbringlich. Was ihn lindert, ist allein die poetische Neuschöpfung der vergangenen Erfahrung. Die romantische Erinnerung sei "zugleich die Waffe, die die Wunde der Zeit schlägt, und das Mittel, das diese Wunde behandelt". Heilung jedoch verheißt nur ein mystisches Wiedererinnern, der Augenblick reiner Gegenwart und einer Teilhabe am Göttlichen.

Bis hierhin läßt sich noch nachvollziehen, wie Frau Assmann ihre Schritte setzt, auch wenn uns die Gegenüberstellung von Aufklärung und Romantik oder Anmerkungen über neuplatonische Einflüsse bei Wordsworth nicht immer erregende Einsichten geben. Dann jedoch geht es weiter mit einem Kapitel über sogenannte "Gedächtniskisten" als Beispiele für die räumliche Konkretisierung von Erinnerungen. Hier mißt die Autorin zum Teil mit beinahe archäologischem Zeitmaß, was die historische Tiefenschärfe nicht durchweg steigert. Auf den Philosophen Hugo von St. Victor (erste Hälfte des zwölften Jahrhunderts) läßt Frau Assmann den Lyriker Heinrich Heine (Mitte des neunzehnten Jahrhunderts) folgen, auf ihn dann den Romancier E. M. Forster (Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts); in einem anderen Abschnitt, aber im selben thematischen Zusammenhang mit "Gedächtniskisten", wird noch der bildende Künstler Ilya Kabakow (ausgehendes zwanzigstes Jahrhundert) nachgereicht, dessen künstlerisch stilisierte Altpapier-Pappschachteln und "Lebensbücher" beschrieben werden. Man könnte auch noch auf die Gedächtniskisten Andy Warhols verweisen: "Du solltest dir einen Kasten für einen Monat anschaffen und alles da hineintun und ihn am Monatsende verschließen und mit Datum versehen nach New Jersey schicken."

Hier hat Frau Assmann den Stil gefunden, der die beiden letzten Teile des Buchs prägt. Wir fragen uns, ob Aleida Assmanns Buch "Erinnerungsräume" ebenfalls eine Gedächtniskiste ist, ein Behältnis für eine Menge Lesefrüchte, "Altpapier", das vor allem von Lektüreerinnerungen aromatisiert ist. Tatsächlich hat es den Anschein. Die einzelnen Teile darin sind penibel beschriftet, in Gruppen zusammengefaßt ("Funktionen", "Medien", "Speicher") und locker chronologisch sortiert.

Der zweite Teil behandelt "Medien" von Gedächtnis und Erinnern. Er umfaßt eine Sammlung von Metaphern des Schreibens, Raum-Metaphern, des Erinnerns als Ausgraben oder Erwachen. Am Gebrauch der Schriftenmetapher macht Frau Assmann einen "Strukturwandel" des kulturellen Gedächtnisses in der Neuzeit fest: In der Renaissance gilt die Schrift als verläßliche Gedächtnisstütze, sie macht vergangenen Geist wieder lebendig. Das achtzehnte Jahrhundert klagte mit Swift bereits über die Flüchtigkeit des Buchmarkts und seiner viel zu vielen Schriften. Die Romantik glaubte endlich, daß der Buchstabe tötet. Im neunzehnten Jahrhundert sah man die Schrift als Spur; was sich einschreibt, ist das Vergessen. Im zwanzigsten Jahrhundert lösen technische Medien die Schrift als zentrales Gedächtnismedium ab; Lese-Schreib-Maschinen wie der Computer heben den Unterschied zwischen Vergessen und Erinnern auf. Was das bedeutet, läßt Frau Assmann im dunkeln. Die inflatorische Speicherung entwertet das menschliche Erinnern. Deshalb suchen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts die verlorene authentische Erfahrung gleich im Abfall, den die Medien unverarbeitet lassen.

Im Zweifel immer abspeichern

Der dritte Teil ist mit "Speicher" überschrieben. Er erinnert zum Beispiel an das Problem von Archivaren im digitalen Zeitalter, die zwar Inhalte leicht auf immer leistungsfähigere Massenspeicher kopieren können, deren authentische Datenträger jedoch einem raschen Verfall ausgesetzt sind. Was kann und soll von der Internet-Kultur gespeichert werden? Dieses Problem wird angetippt, ohne daß die Autorin die ersten kommerziellen Ansätze diskutiert, die es in Kalifornien bereits gibt. Interessante Seiten widmet Frau Assmann den Installationen von Gegenwartskünstlern: etwa Anselm Kiefers unlesbaren Bleibüchern oder Sigrid Sigurdsons Buchobjekten aus biographischen Spuren. Diese Abschnitte und einzelne Wendungen - etwa die von der "anamnetischen Sensibilität" - verschaffen gelegentlich "Déjà-vu"-Erlebnisse, aufsteigende Erinnerungen an gelesene Katalog- oder andere Texte. Frau Assmann greift hier noch einmal die paradoxierende Formel Pierre Noras auf: "Die Kunst", so resümiert sie, "erinnert die Kultur daran, daß sie sich nicht mehr erinnert."

Das Buch richtet sich an Liebhaber der "kulturwissenschaftlichen Thematik des Gedächtnisses". Es will "möglichst viele Ansichten auf das komplexe Erinnerungsphänomen" eröffnen. Nach "einer einheitlichen Theorie", so Frau Assmann, werde man darin vergeblich suchen. Wir stehen allerdings auf dem altmodischen Standpunkt, daß Wissenschaftler Theorien entwickeln sollten und daß Theorien dazu da sind, Komplexität zu reduzieren. Die historischen Erklärungsansätze des Buchs verlieren sich nach unserem Geschmack zu sehr ins allgemeine. Der kulturkritische Ton, wie auch immer relativiert und verleugnet, wirkt larmoyant. Eine Reihe unbekannter Namen rückt Frau Assmann hier unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem kulturellen Gedächtnis ins Licht, aber viele Beispiele wirken zwar sauber etikettiert, sind jedoch zu einer Ordnung arrangiert, die nur begrenzte historische Aussagekraft gewinnt. Die gegenstrebige Fügung von Metaphern und Medien, Bogen und Leier erzeugt hier einen Ton, der durchaus nicht ins Herz trifft.

CHRISTOPH ALBRECHT

Aleida Assmann: "Erinnerungsräume." Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Verlag C. H. Beck, München 1999. 420 S., 15 Abb., geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr