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Hans Jonas' Erinnerungen sind das bewegende Dokument eines Lebens, das fast das gesamte 20. Jahrhundert umspannte. Lebendig und spannungsreich erzählt Jonas vom jüdischen Leben in der Zeit der Weimarer Republik, von der Emigration nach Palästina, der Militärzeit in einer jüdischen Brigade der britischen Armee, den Fahrten durch ein zerstörtes Deutschland und der Zeit in Kanada und den USA, wo er Das Prinzip Verantwortung schreibt, das ihn weit über die Grenzen des akademischen Lebens hinaus berühmt macht.

Produktbeschreibung
Hans Jonas' Erinnerungen sind das bewegende Dokument eines Lebens, das fast das gesamte 20. Jahrhundert umspannte. Lebendig und spannungsreich erzählt Jonas vom jüdischen Leben in der Zeit der Weimarer Republik, von der Emigration nach Palästina, der Militärzeit in einer jüdischen Brigade der britischen Armee, den Fahrten durch ein zerstörtes Deutschland und der Zeit in Kanada und den USA, wo er Das Prinzip Verantwortung schreibt, das ihn weit über die Grenzen des akademischen Lebens hinaus berühmt macht.
Autorenporträt
Hans Jonas (1903-1993) war Philosoph und wegweisender Theoretiker der internationalen Ökologiebewegung. Er floh 1933 vor den Nationalsozialisten und emigrierte, nach Stationen in Großbritannien und Israel, schießlich in die USA. Dort forschte und lehrte Jonas unter anderem an der renommierten New School for Social Research. Sein Werk wurde in 15 Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2003

Ethik der Furcht
Neuer Aristoteles: Hans Jonas erzählt aus seinem Leben
Es dürfte der erste kategorische Imperativ sein, der sich als Briefmarke von Deutschland aus auf den Weg macht: Seit vorgestern können Briefe mit der Botschaft des „Prinzips Verantwortung” frankiert werden. „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.” Die Warnungen des heute vor hundert Jahren in Mönchengladbach geboren Hans Jonas sind im Zeitalter der Klon-Versuche und Keimbahnexperimente brennend aktuell. Sicher kann die Frage, was echtes menschliches Leben sei, verschieden beantwortet werden. Gegen jede Relativierung gefeit ist indes der Aufruf, sich angesichts der Wissensexplosion zu bescheiden, zu verzichten auf Techniken, die irreversibel in die Substanz des Menschen eingreifen: „Wir haben nicht das Recht, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen.”
Altfränkisch nannte Jonas den Stil seines Hauptwerks – des ersten Buchs, das der damals siebzigjährige Emigrant wieder auf Deutsch verfasste. Altfränkisch ist es nur an jenen sentenzenhaften Stellen, die das Wahre im Falschen retten wollen. Darin zeigt sich Jonas durchaus als Schüler Martin Heideggers. Für Jonas wie für Heidegger ist die Sorge zentral: „Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird.”
So schrieb und dachte Hans Jonas, als die Diskurstheorie ihren Siegeszug bereits angetreten hatte, die Frankfurter Schule fest etabliert und der linguistic turn schon ausgerufen war. Zur Avantgarde gehörte Jonas nie. Wohl aber erwarb er sich einen Ruf als kluger Zivilisationsphilosoph und neuer Aristoteles. 1979 erschien „Das Prinzip Verantwortung”. Im selben Jahr ereignete sich im Kernkraftwerk Harrisburg ein Störfall, forderte der Absturz zweier Flugzeuge vom Typ DC-10 fast 600 Tote, hatte Hamburg seinen Giftmüll-Skandal. Die Zeit war reif für ein Buch, das darlegte, wie die Selbstabschaffung des Menschen noch zu verhindern sei.
Der Übergang vom Existentialismus zur Philosophie des Lebens vollzog sich in den vierziger Jahren. Direkt nach Hitlers Regierungsantritt hatte Jonas Deutschland verlassen und war nach Palästina ausgewandert. In Jerusalem schrieb er 1939 das Manifest „Unsere Teilnahme an diesem Kriege”. Er forderte eine jüdische Armee zur Unterstützung der Alliierten. 1933 sei den Juden der Krieg erklärt worden. „Es ist unser Krieg. Wir haben ein Erstlingsrecht an ihm und eine Erstlingspflicht. Verhalten wir uns so, dass unsere Enkel dereinst sich unserer nicht zu schämen brauchen.” Der Imperativ stieß auf wenig Widerhall. Jonas schloss sich der britischen Armee an. Die Erfahrung der Lebensbedrohung wurde Ausgangspunkt einer philosophischen Neuorientierung, „Lehrbriefe” an seine Frau Lore dokumentieren diese Wende.
Auszugsweise sind die „Lehrbriefe” im Anhang eines Erinnerungsbuches wiedergegeben. Es ist das Destillat eines langen Gesprächs, das Rachel Salamander im September 1989 mit Hans Jonas führte. Der mündliche Duktus ist beibehalten und macht das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre. Stilistische Brillianz und komplizierte Gedanken sucht man vergebens. Die Gespräche drehen sich um Jonas’ großbürgerliche Kindheit, das Studium bei Ernst Troeltsch, Rudolf Bultmann, Martin Heidegger, Freundschaften mit Hannah Arendt, Günther Anders, Karl Löwith. Jonas erzählt Anekdoten aus Mönchengladbach, Berlin, Jerusalem, Ottawa und New York.
Herzliche Offenheit sich selbst und anderen gegenüber ist das hervorstechende Merkmal dieses Erzählers. So wie Jonas in den Mittelpunkt der Ethik den Organismus rückte, kraft dessen jedes Lebewesen „auf dem Wellenkamm eines ständigen Austauschs reitet”, genau so gelangte er zu Erkenntnissen, indem er sich austauschte mit den Menschen ringsum und mit der eigenen Geschichte: Den Zionismus nennt er selbstkritisch die einzige Ideologie, der er verfiel und die ihm doch das Leben rettete – während die Mutter in Dachau ermordet wurde; „diese Wunde hat sich nie geschlossen”. Als Ehemann sei er zuweilen tyrannisch gewesen, als junger Mensch habe er eine „militaristische Phantasie” gehabt, die Zerstörung deutscher Städte erfüllte ihn mit Genugtuung. 1945 fährt er durch das zerstörte Kassel und empfindet „etwas, was ich nie wieder erleben möchte, aber auch nicht verschweigen will – das Gefühl jauchzender, befriedigter oder wenigstens halb-befriedigter Rache”.
Freunde der Tempelhure
Am eindrücklichsten schildert Jonas die Zeit in Palästina von 1935 bis 1949. Um Hans-Jakob Polotsky, Hans Lewy, George Lichtheim, Hans Sambursky, Gershom Scholem und ihn bildet sich ein Kreis junger Wissenschaftler, die sich nach ihren Initialen „Pilegesch” nennen. Pikanterweise heißt das Wort auf Hebräisch „Tempelhure”. Man diskutiert, streitet, trinkt und widmet einander Gedichte, die hier zum erstenmal veröffentlicht sind. Der Journalist Lichtheim schreibt anlässlich des vierzigsten Geburtstages von Jonas über dessen Kriegsbegeisterung, Scholem, der „große Krumme”, wird von Sambursky als Naschkatze porträtiert: „Mit der Zunge auf dem Rand des Zahnes / Spürt er schon den Schmelz des Marzipanes.”
Die letzte Rede, fünf Tage vor seinem Tod, hielt Hans Jonas genau sechzig Jahre nach Hitlers „Machtergreifung”. Längst war er nicht mehr der Spötter, der der einst im „Prinzip Verantwortung” die „Watte guter Gesinnung und untadeliger Absicht” kritisiert hatte. Er war ein hoffnungsfroher Skeptiker geworden. Noch immer plädierte er für eine Ethik der Furcht angesichts der Fernwirkungen unseres Handelns. Doch seine Zuversicht war gewachsen, dass „eine neue Solidarität des Ganzen der Menschheit über uns dämmert.” Das 21. Jahrhundert hat den Beweis noch nicht erbracht.
ALEXANDER KISSLER
HANS JONAS: Erinnerungen. Herausgegeben von Christian Wiese. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 495 S., 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Die Welt ist für mich niemals ein feindlicher Ort gewesen
Welche Philosophie einer treibt, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist: Die postumen Lebenserinnerungen von Hans Jonas als faszinierende Bilanz einer Verlustrechnung / Von Christian Geyer

Den Irrtum, gute Gedanken könnten den Menschen bessern, hat auch Hans Jonas begangen. Das muß man einräumen, wenn man seine Enttäuschung über das politische Debakel seines Lehrers Heidegger vernimmt - "das Einschwenken des tiefsten Denkers der Zeit in den tosenden Gleichschritt der braunen Bataillone" -, ein Debakel, das Jonas eben nie nur als Irrweg einer Person, sondern "als katastrophales Debakel der Philosophie, als welthistorische Blamage, als Bankrott philosophischen Denkens" erschien. So wird es jetzt in den "Erinnerungen" des vor zehn Jahren verstorbenen Jonas erzählt, welche der in Mönchengladbach geborene jüdische Philosoph bereits 1989 im Gespräch mit Rachel Salamander auf dreiunddreißig Tonbänder sprach. Als Anlaß des zur Veröffentlichung bearbeiteten und mit bisher unbekanntem biographischen Archivmaterial ergänzten Textes hat man die hundertste Wiederkehr von Jonas' Geburtstag am 10. Mai gewählt. Zutreffend spricht Christian Wiese im Nachwort von einem "faszinierenden Ineinander von biographischer Erzählung, Exil-Literatur, Liebesgeschichte, Philosophiegeschichte, historischer Reflexion und Philosophie in actu".

Was es mit dem Verhältnis von Philosophie und Leben auf sich hat, beschreibt Jonas am Beispiel von Heideggers brauner Kehre näherhin so: "Ich hegte damals die Vorstellung, vor so etwas sollte die Philosophie schützen, dagegen sollte sie den Geist feien. Ja, ich war sogar überzeugt, daß der Umgang mit den höchsten, wichtigsten Dingen den Geist eines Menschen adelt und auch die Seele besser macht. Und nun erkannte ich, daß die Philosophie das offenbar nicht getan, diesen Geist nicht vor dem Irrweg geschützt hatte, Hitler seinen Beitrag zu zollen, ihn sogar offenbar, wenn die Leute recht hatten, mit denen ich sprach, dazu prädisponiert hatte." Die offenkundig zu hoch gespannten Erwartungen, die Jonas mit der Philosophie verknüpfte, verdanken sich bei ihm freilich nicht irgendeiner utopischen Schwärmerei, sondern einem äußerst sympathischen blinden Fleck. Man möchte nach Lektüre der Lebenserinnerungen sogar sagen, daß es die falsche Bescheidenheit in bezug auf seine eigene Person war, die ihn nicht wahrhaben lassen wollte, was doch an ihr klar ablesbar gewesen ist: Welche Philosophie einer treibt, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist - und nicht umgekehrt.

Jonas war - das kann man, das muß man in seinem Fall einfach so aussprechen - ein guter Mensch. Soll man sagen: Er hatte einen Zug ins Goldige? Zeitlebens bewahrte er sich einen kindlichen Blick, der ihn die Dinge immer wieder wie neu ansehen ließ. Und er hat ganz offensichtlich das Kunststück vollbracht, weniger als andere empfindende Geister von den eigenen Abgründen gefangengenommen zu werden, ohne daß diese ominöse Unversehrtheit seine Erfahrungsfähigkeit beeinträchtigt hätte. Es ist in dieser Hinsicht aufschlußreich, was Jonas über die Konstellation seiner Ehe sagt. Seit 1943 war er mit Lore Jonas verheiratet, mit der er drei Kinder hatte. Sie hat "ein Empfinden tief in sich, was bei mir niemals richtig eingeschlagen hat" und das er gerade deshalb als eine der Eigenschaften beschreibt, die ihn an ihr anzogen: "dieses Entfremdungsgefühl, wonach der Mensch ungefragt in diese Welt hineingeworfen ist und sich einem fremden, feindlichen oder sogar absurden Universum gegenübersieht". Ebendieses Gefühl schien er selbst nicht zu kennen, durchgreifend selbst nach der Ermordung seiner Mutter in Auschwitz nicht. Ich muß, erklärte er seiner Frau, "bei mir sehr suchen, um ein tragisches Element in meinem Leben wie in meinem Verhältnis zur Welt zu finden, wenn ich von dem Verlust meiner Mutter und von dem absehe, was jeder Jude mit dem Holocaust mit sich herumträgt. Aber die Welt ist für mich, obwohl auf ihr natürlich furchtbare Dinge geschehen, niemals ein feindlicher Ort gewesen."

Ihm selbst mag das nicht immer geheuer vorgekommen sein. Nur so möchte man die Frage verstehen, die er ganz unvermittelt Hannah Arendt kurz vor ihrem Tod stellte, mit der ihn seit den gemeinsamen Studienjahren bei Heidegger in Marburg eine lebenslange Freundschaft verband: "Sag mir bitte, Hannah, hältst du mich eigentlich für dumm?" Aber nein, habe sie mit beinahe entsetzten Augen geantwortet und dann die aparten Worte gefunden: "Ich halte dich nur für einen Mann." Dieser Mann führte seine Frau Lore wie zur Entschuldigung seines eigenen, zunächst weniger metaphysisch denn sensualistisch gespeisten Optimismus an. Gott sei Dank habe sie sich an seiner Seite "ihre Gefühlswelt bewahrt, die aus Dunkel und Licht gemischt ist, während es bei mir stets hell, bisweilen vielleicht überhell war".

Es sind solche Charakterzüge, die sich bei Jonas in seine Philosophie des Antinihilismus verlängern, welche ihrerseits von der Erfahrung des Zivilisationsbruchs unmittelbar inspiriert war. Er betrieb sie als eine optimistische, antiexistentialistische Naturphilosophie, als eine Philosophie des Organischen, die sich wie ein letzter Versuch liest, dem entzauberten Kosmos doch noch die Seele zu lassen - und sei es nur, weil die Alternative kein Mensch überleben könnte: "Daß die Natur sich nicht kümmert, ist der wahre Abgrund. Daß nur der Mensch sich kümmert, in seiner Endlichkeit nichts als den Tod vor sich, allein mit seiner Zufälligkeit und der objektiven Sinnlosigkeit seiner Sinnentwürfe, ist wirklich eine präzedenzlose Lage." Jonas hielt es für geboten, im Stil einer philosophia negativa die Verlustrechnung nach dem Ende der platonischen Philosophie aufzumachen und im übrigen so nüchtern und luzide für eine in der Natur angelegte Zielgerichtetheit zu werben, daß die paradarwinistischen Aperçus eines Stephen Jay Gould vom "Zufall Mensch" auf einmal nur noch wie geistreicher Mummenschanz erscheinen. Jonas verstand es meisterhaft, das evolutionäre Paradigma allein durch dessen Darstellung zu desavouieren. Er verweigerte sich strikt einer funktionalen Sozialanalyse, derzufolge jede Figur nur eine Kippfigur im Dienste der je wechselnden situativen Stabilität sein soll. Mit feinem Spott bedachte er die kokette Begriffsstutzigkeit gegenüber dem Normativen, die von den Protagonisten einer evolutiven Moral an den Tag gelegt wird. Was er an ihnen nicht gelten ließ: die Ersetzung des Handlungsbegriffs durch Verhalten; die formative Rolle der Umwelt; die Reduktion der Lebensbewegung auf bloße Selbsterhaltung, aufgefaßt als Variable einer Systemstabilisierung nach Art der Trägheitsgesetze. All solche Prämissen des Entwicklungsdenkens, die in der Entbehrlichkeit der Wahrheitsfrage übereinstimmen, deklarierte er als substanzloses Denken im strengen und weiteren Sinn des Wortes.

Womit noch nicht die Frage beantwortet ist, ob Jonas als guter Mensch selbst auch eine gute Philosophie getrieben hat. Nun ist es von "Gnosis und spätantiker Geist" bis zum "Prinzip Verantwortung" ein langer Weg, fast hat man den Eindruck, man steht vor völlig verschiedenen Genres. Die philologisch dicht gearbeitete, von Bultmann angeregte und von Heidegger mit "summa cum laude" benotete Dissertation nimmt die Gnosis mit dem Heideggerschen Werkzeug der Existentialanalyse als Vorläufer des Existentialismus in den Blick, wobei die subversive Pointe darin besteht, Heidegger selbst als modernen Anwendungsfall der antiken Gnosis sichtbar werden zu lassen. Jonas nennt die "Gnosis"-Studie zurückhaltend sein "Gesellenwerk", aber es war - zusammen mit der 1973 unter dem Titel "Das Prinzip Leben" erschienenen Philosophie des Organischen - sicherlich das philosophisch gehaltvollste Werk, das er veröffentlicht hat.

Demgegenüber erklingt das 1979 Furore machende Buch "Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation" oft mehr im Grundton des Prophetischen als des Philosophischen. Verantwortung, von Hause aus nicht unbedingt eine Kategorie, die die Sauberkeit des Gedankens verbürgt, ist von Jonas denn auch eher als philosophischer Risikofaktor wahrgenommen worden. Das kommt in seinen "Erinnerungen" jetzt ganz klar zum Ausdruck. Jonas gibt sich, was den enormen Erfolg des "Prinzips Verantwortung" angeht, äußerst bedeckt. Er scheint ihn eher als einen ironischen Effekt wahrgenommen zu haben. Erfrischend uneitel gibt er zu, daß dieser Typus von Erfolg jedenfalls kein primär philosophischer gewesen sei, denn die philosophische Grundlegung seines Buches - die Erneuerung der Seinsphilosophie - sei im wesentlichen ignoriert worden. "Was wirkte, war das, was in der Luft lag, wärend die Teile, die wirklich originell darin waren und gewisse Revisionen der philosophischen Sicht beabsichtigten, wenig Aufmerksamkeit erlangten." Breitenwirksam abgeschöpft wurde lediglich der ethische Appellcharakter des "Sein-Lassens", der einen Ton der Zeit traf, wie es wenig später etwa Becks "Risikogesellschaft" tat. Was man damals unter dem alarmierenden Eindruck der "Grenzen des Wachstums" des "Club of Rome" schlicht mit "Finger weg!" übersetzte, war auch schon alles, was vom Jonasschen "Sein-Lassen" als ontologischer Chiffre übrigblieb.

Die ihn eigentlich interessierende Frage schien nur von den wenigen aufgegriffen worden zu sein, die es ohnehin gewohnt waren, sich mit Fragen des Naturrechts, seiner Möglichkeit in den Zeiten von Dekonstruktion und Sprachphilosophie, herumzuschlagen. Erst mit dem 1981 erschienenen Buch "Die Frage Wozu?" von Robert Spaemann und Reinhard Löw kam dann jene heftige Kontroverse zwischen Naturwissenschaften und Philosophie in Gang, die sich Jonas als Wirkung seines eigenen Buches erhofft haben mag. Hier ging es zentral um die Frage, ob und wie die Beobachtung natürlicher Abläufe unter dem Aspekt ihrer Zielrichtung rehabilitiert werden kann, nachdem sie von der Naturwissenschaft der Neuzeit doch aus dem Kanon akzeptabler Fragestellungen verdrängt schien.

Genau diese Thematik hielt, wie er in den "Erinnerungen" bekräftigt, auch Jonas für wegweisend: "Gibt es den Übergang vom Sein zum Sollen? Kann man aus irgendeiner Erkenntnis des Seins, die nicht schon von vornherein durch die eigenen Prämissen in eine bestimmte Richtung tendiert, sondern eine objektive, neutrale Lehre vom Sein darstellt, irgendeine Wertlehre oder gar eine Lehre von Pflichten ableiten?" Resümierend fährt er fort: "Gewiß kann ich nicht hoffen, etwas Zwingendes dazu gesagt zu haben, das die Menschen davon überzeugte, ich hätte bewiesen, daß sich aus dem Sein auch ein Sollen ergibt. Doch zumindest habe ich wieder etwas auf die Tagesordnung gebracht, was bereits entschieden schien und was die moderne analytisch-positivistische Philosophie mit zu den Irrtümern des Denkens zählte, mit denen man sich auf philosophischem Gebiet unmöglich machte."

Und da meint man ihn zu schauen, den Respekt gebietenden Gestus des Überhellen, mit dem Jonas sein philosophisches Programm ausleuchtete und weniger ambitionierte Entwürfe als unvernünftig im aristotelischen Sinne verwarf: "Ich mußte dieses Wagnis eingehen, Werte als etwas zu betrachten, was mehr als eine bloße subjektive Entscheidung ist, und aus einem Sein ein Sollen ableiten zu wollen, denn ich bin mir vollkommen sicher, daß ich im entscheidenden Kern recht habe, auch wenn ich in der Ausführung wahrscheinlich völlig unzulänglich geblieben bin: nämlich in der Beweisführung, daß das Sein einem etwas darüber zu sagen vermag, wie man leben soll, vor allem aber auch darüber, wofür Wesen wie wir Menschen, die wir mit Wissen und Freiheit handeln, verantwortlich sind."

Als er das theoretische Herzstück vom "Prinzip Verantwortung" noch im Entstehungsprozeß Hannah Arendt zur Begutachtung vorlegte, soll sie gesagt haben: "Bevor ich anfange, über Einzelheiten mit dir zu sprechen, will ich nur sagen: Soviel steht für mich fest, das ist das Buch, das der Herrgott mit dir im Sinn gehabt hat. Und es ist ja herrlich geschrieben." Dem Herrgott ein Wohlgefallen, aber bewährt es sich auch in der philosophischen Kritik? Arendt selbst machte in dieser Hinsicht starke Bedenken geltend - wie es sich, so Jonas, für eine politische Philosophin nun einmal gehöre: "Daß die Grundverantwortung des Menschen biologisch von der Naturordnung her begründet sein könnte, lehnte sie etwa völlig ab. Das war aus ihrer Sicht ein frei gestiftetes Verhältnis, das aus der Polis, aus dem staatlichen oder politischen Zusammenleben erwuchs . . . Daran hielt sie fest und war der Meinung, daß so etwas wie die Verantwortung für das Gemeinwohl dem Wesen nach künstlich und unnatürlich sei, daß sie sich gemäß der westlichen Überlieferung dem contrat social verdanke." Ob Arendt mit ihrer biologistischen Lesart von Jonas' Natur-Teleologie diese nicht von Grund auf mißverstand und deshalb in Wirklichkeit gegen ein Phantom Stellung bezog, diese philosophisch aufschlußreiche Frage bleibt in den "Erinnerungen" leider offen.

Natürlich war sich Jonas bewußt, daß er in keines der bestehenden Lager einer zumal deutschen philosophischen Szene einzuordnen war, er, der nach seiner Emigration in Israel, Kanada und den Vereinigten Staaten lehrte und nie einen Ruf an eine deutsche Universität, sei es in Marburg oder Kiel, angenommen hat. Nicht ohne leichtes Amüsement schildert der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1987) die lobende und sicher nicht unzutreffende Etikettierung als Neo-Aristoteliker durch Gadamer und Spaemann, obwohl bei der Abfassung vom "Prinzip Verantwortung" doch "Aristoteles in meinen Überlegungen keine große Rolle gespielt" habe. Symbolisch sah er seine Fremdheit noch am ehesten darin bestätigt, "daß Jürgen Habermas, der mir wohlgesinnt ist und mir eine gewisse Achtung entgegenbringt, verhindert hat, wie er mir selbst bekannt hat, daß ich den Adorno-Preis bekam, aber von der Idee angetan war, ich könnte den Geschwister-Scholl-Preis verliehen bekommen, und mir bei sich zu Hause anläßlich eines Abendessens sagte: Ja, das paßt. Mit dem konservativen Geist, den Sie vertreten." Wenn man bedenkt, daß Habermas Jahre später, in der Auseinandersetzung mit der Gentechnik, selbst einen anthropologischen Naturbegriff als Maßstab des Sollens vertreten sollte, der sich in vielerlei Hinsicht an Jonas und Spaemann anlehnt und sogar Kierkegaard zum Kronzeugen erhebt, dann taucht der ganze abendliche Preise-Schacher damals im Hause Habermas schließlich doch noch in das milde Licht einer späten Satisfaktion.

Zwei weitere Denkwürdigkeiten dieses Buches haben mit Heidegger zu tun. Jonas berichtet, wie er auf einem internationalen theologischen Heidegger-Kongreß Anfang der sechziger Jahre in New Jersey das Hauptreferat hielt, das er anschließend auf Einladung mehrerer deutscher Universitäten noch einige Male wiederholte. Der Vortrag war eine bedingungslose Warnung, die orakelhafte Sprache des späten Heidegger zu einem adäquaten Ausdrucksmittel der Rede über Gott zu erklären, wie es deutsche Theologen damals favorisierten. "Diese Annahme zerstörte ich von vornherein, und zwar mit der Gegenthese, Heideggers Philosophie sei, samt der Sprache, die sie erzeugt habe, ihrem Wesen nach zutiefst heidnisch, und die christlichen Theologen wüßten nicht, auf was sie sich da einließen." Soll man sagen: ein prophetisches Wort? "Paradoxerweise", wie Jonas fand, wurde es jedenfalls "von einem Juden gesprochen". Sieht man recht, dann wäre dem Christentum in der Tat manches von dem, was es heute als Selbstsäkularisierung beklagt, erspart geblieben, wenn einer wie Karl Rahner der frühen Warnung von Hans Jonas Gehör geschenkt hätte.

Die andere Begebenheit betrifft den Beginn der Liebesbeziehung von Hannah Arendt und Heidegger. Jonas, dem Arendt als ihrem Vertrauten die Geschichte erzählte, hatte sie bis zur Abfassung seiner "Erinnerungen" stets für sich behalten. Am Ende einer in Dämmerlicht gehüllten Sprechstunde Heideggers sei es gewesen, damals im Wintersemester 1924/25 in Marburg, als Hannah Arendt sich schon zum Gehen gewandt hatte. In Arendts von Jonas überlieferten Worten: "Plötzlich fiel er vor mir auf die Knie. Und ich beugte mich nieder, und er streckte von unten aus dem Knien heraus seine Arme zu mir empor, und ich nahm seinen Kopf in meine Hände, und er küßte mich, ich küßte ihn." Auch das ist der Mensch, den keine Philosophie zu schützen vermochte.

Hans Jonas: "Erinnerungen". Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Vorwort von Rachel Salamander, Geleitwort von Lore Jonas. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003. 495 S., geb., 24,90 [Euro].

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