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Michail Gorbatschow, "der Mann, der die Welt veränderte", legt seine Erinnerungen vor, genau zehn Jahre nach seiner Wahl ins Moskauer Führungsgremium. Er erzählt von seinen Vorfahren, seiner Kindheit und Jugend, den Studentenjahren und dem schrittweisen Aufstieg in der Parteihierarchie, der sich fast unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzog. Breiten Raum nehmen natürlich die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ein, der Versuch, den Staat und die Partei zu reformieren, der Zerfall der Sowjetunion und damit das tragische Scheitern und politische Ende des Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten.…mehr

Produktbeschreibung
Michail Gorbatschow, "der Mann, der die Welt veränderte", legt seine Erinnerungen vor, genau zehn Jahre nach seiner Wahl ins Moskauer Führungsgremium. Er erzählt von seinen Vorfahren, seiner Kindheit und Jugend, den Studentenjahren und dem schrittweisen Aufstieg in der Parteihierarchie, der sich fast unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzog. Breiten Raum nehmen natürlich die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ein, der Versuch, den Staat und die Partei zu reformieren, der Zerfall der Sowjetunion und damit das tragische Scheitern und politische Ende des Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.1995

Der gute Mann aus Stawropol
Gorbatschow tut sich schwer mit seinen historischen Leistungen

Michail Gorbatschow: Erinnerungen. Aus dem Russischen von Igor Petrowitsch Gorodetzki. Siedler Verlag, Berlin 1995. 1216 Seiten, 78,- Mark.

"Wir beide sitzen auf dem Grund eines tiefen, dunklen Brunnens; nur irgendwo weit oben schimmert Licht. Wir klettern am Holzwerk nach oben, helfen einander. Die Hände werden wund und bluten. Unerträglicher Schmerz. Raja stürzt plötzlich hinab, ich fange sie jedoch auf, und wir klettern mühsam weiter, immer höher und höher. Schließlich, total erschöpft, schaffen wir es, diesem schwarzen Loch zu entrinnen; vor uns liegt ein breiter, von Bäumen gesäumter Weg. Am Horizont strahlt eine riesengroße helle Sonne, und der Weg löst sich gleichsam in der Sonne auf. Wir laufen der Sonne entgegen. Plötzlich fallen vor uns von beiden Seiten des Weges lange schwarze Schatten. ,Was ist das?' Es dröhnt zur Antwort: ,Feinde, Feinde, Feinde.' Uns wird schwer ums Herz. Wir fassen uns an den Händen und setzen unseren Weg zum Horizont, zur Sonne fort."

Läge das, was Raissa Gorbatschowa nach dem lyrischen Bekunden ihres Mannes Michail Sergejewitsch um die Zeit ihrer standesamtlichen Trauung träumte, nicht schon gut vierzig Jahre zurück - man könnte versucht sein, darin Anspielungen auf die politische Gegenwart zu sehen. Kaum haben beide nach beschwerlichem Werdegang in der südrussischen Provinz den Einzug in den Moskauer Kreml geschafft, fallen alle möglichen Neider über sie her. Putsch. Befreiung. Der russische Präsident siegt; der sowjetische unterliegt. Doch gemeinsam wie eh und je setzen Raissa und Michail den Weg zur Sonne fort, oder, von Gorbatschow erst vor wenigen Tagen etwas prosaischer ausgedrückt: "Ich schließe eine Beteiligung an der nächsten Präsidentenwahl in Rußland nicht aus."

So gering seine Aussichten auf einen Wiedereinzug in den Kreml sind, so wenig wollen dem letzten Präsidenten der Sowjetunion seine historischen Leistungen einleuchten. Gorbatschow, der zehn Jahre nach seinem Machtantritt und vier Jahre nach dem von ihm in die Wege geleiteten Untergang des östlichen Imperiums die Bilanz seines Wirkens zieht, bestätigt auf mehr als zwölfhundert Seiten, was er schon in früheren, weniger dickleibigen Publikationen teils unfreiwillig eingestanden, teils hartnäckig verteidigt hat: Seiner Einsicht in die Notwendigkeit durchgreifender Reformen mangelte es an entsprechender Umsicht und Weitsicht; was an Mut und Risikobereitschaft außenpolitisch nicht von ungefähr auf Bewunderung stieß, kam innen-, vor allem wirtschaftspolitisch über bescheidene Anfänge nicht hinaus; die Befreiung der fünfzehn Sowjetrepubliken von den kommunistischen Moskauer Fesseln war und bleibt für ihn nationalistische Niedertracht; gäbe es Jelzin, dieses - laut Gorbatschow - nationale Unglück nicht, bestünde die Sowjetunion in demokratisch geläuterter Form fort.

In Wahrheit aber blieb er selber "Gefangener überlebter Strukturen und ideologischer Dogmen, wodurch es ihm unmöglich wurde, die engen Grenzen des Systems zu überschreiten". Und "dieses Dilemma begründete wohl auch seinen Führungsstil, seine emotionalen Schwankungen und impulsiven Aufwallungen". Nein, seine "intellektuellen Potentiale konnten sich in seiner Umgebung nicht entfalten". Eine zutreffendere Selbsteinschätzung Gorbatschows und seiner Unzulänglichkeiten läßt sich kaum denken. Nur ist das, was er hier schreibt, auf Chruschtschow, einen seiner Vorgänger im Kreml, gemünzt (womit immerhin bewiesen wäre, daß sich Geschichte, die gescheiterter russischer Reformer zumal, gelegentlich eben doch wiederholt). Wirklich geschätzt aber hat er einen späteren Kreml-Herrn: Andropow, der als einstiger KGB-Chef Dissidenten gnadenlos verfolgen ließ, umgekehrt freilich einen entscheidenden Anteil an der Karriere Gorbatschows hatte. "In der Führung unseres Landes gab es keinen zweiten Mann, dem ich so eng und so lange verbunden war, dem ich so viel zu verdanken hatte."

Allerdings war Gorbatschow schon von Schülerbeinen an ein kommunistischer Musterknabe, der für einen Aufsatz zum Thema "Stalin ist der Ruhm unserer Schlachten, Stalin ist der Jugend kühner Schwung" die "beste Note" erhielt. Solchen Freimut sucht er indes sogleich mit der Bemerkung abzufedern, schließlich habe auch ein Sacharow auf das Ableben Stalins mit den Worten reagiert: "Ich stehe unter dem Eindruck des Todes eines großen Menschen." Doch während sich der Bürgerrechtler Sacharow nach Darstellung des Autors später vor den Karren so machtgieriger Elemente wie Jelzin spannen ließ, wahrte er, Gorbatschow, der Partei noch über den kommunistischen Putschversuch im August 1991 hinaus die Treue.

Schließlich war er in einer Welt der Funktionäre aufgewachsen und zu höchsten Ehren gekommen, in einem Habitat, das dem Leser in all seiner Selbstherrlichkeit und Kleinbürgerlichkeit plastisch vor Augen geführt wird. Damit geht eine von ermüdenden Details über Getreide- und Viehaufzucht geprägte Schilderung des Irrsinns zentraler Planwirtschaft einher, den Gorbatschow als kommunistischer Oberaufseher in Stawropol offenbar schon recht früh erkannte. Daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, gelang ihm aber selbst als Staats- und Parteichef nur ungenügend. So widersetzte sich Gorbatschow bis zuletzt dem Begehren weniger systembefangener Reformkräfte nach Privateigentum an Grund und Boden.

Nun kann man von einem Autobiographen nicht erwarten, daß er sich in Selbstkritik ergehe. Etwas weniger Selbstgerechtigkeit hätte diesen "Erinnerungen" allerdings ebenso zum Vorteil gereicht wie der Verzicht auf einen Schwall von Namen, die wohl selbst vielen Russen heute nichts mehr sagen. Nur wenn Gorbatschow auf seine Familie, auf seine Frau Raissa zu sprechen kommt, gibt er etwas von seinen persönlichen Empfindungen preis. Die damals so erregenden Stichworte wie "Perestrojka" und "Glasnost" hingegen dienen ihm rückblickend vor allem dazu, lange Auszüge seiner diesbezüglichen Reden wiederzugeben, Parteitage und ZK-Sitzungen zu rekapitulieren und das in einer Sprache zu tun, die an alte Sowjetzeiten gemahnt. Der bei aller Lebhaftigkeit stets ausgeglichen und besonnen wirkende Gorbatschow verliert in seinem Buch nur dann regelmäßig die Beherrschung, wenn er auf Jelzin zu sprechen kommt. Nicht so sehr auf die altkommunistischen Putschisten blickt er im Zorn zurück, nicht die frühzeitige, damals so spektakuläre Warnung vor diesen Kräften durch Schewardnadse weiß er nachträglich zu schätzen: An allem ist Jelzin schuld. Seine wider Willen erworbenen historischen Verdienste lastet Gorbatschow, der einräumt, im Zweifelsfall auch heute noch bei Lenin nachzuschlagen, allerdings nicht nur Jelzin an. Wer immer sich am Zusammenhalt der Sowjetunion vergangen hat, bekommt es noch einmal schneidend zu hören. Die Balten sehen sich ebenso gescholten und gar neobolschewistischer Methoden geziehen wie die "Separatisten" unter den Weißrussen und Ukrainern: Gorbatschow bringt nach wie vor kein Verständnis für den nationalen Freiheitsdrang von Völkern auf, mit denen Rußland "jahrhundertelang Seite an Seite geschritten ist". Dafür, daß es zu blutigem militärischem Vorgehen gegen Anhänger von Nationalbewegungen in Tiflis, Vilnius und Riga kam, lehnt Gorbatschow jede Verantwortung ab, obwohl er oberster Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte war. Die Hintergründe, befindet er lakonisch, seien "bis heute nicht geklärt".

Wer bis dahin den Staatsmann vermißt, der so vieles in Europa und darüber hinaus bewirkte, begegnet ihm in den Kapiteln, die sich mit dem Westen und mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks befassen. Ob Reagan, Bush, Mitterrand, Frau Thatcher oder Kohl: Gorbatschow findet für alle anerkennende Worte, stellt aber auch sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel. Und warum sollte er? Immerhin ist während seiner Kreml-Zeit die atomare wie konventionalle Abrüstung in Gang gekommen, hat sich Deutschland wiedervereint. Der Leser erfährt hier ungeachtet der Untermalung vieler Begegnungen mit Gesprächsprotokollen zwar wenig Neues. Jedoch wird er mit Blick auf Deutschland daran erinnert, daß es zwischen Gorbatschow und Kohl zunächst nicht zum besten stand (Goebbels-Vergleich) und daß es in der Bundesrepublik "rassistische Ausschreitungen" gab. "Das offizielle Bonn ahmte mit deutscher Pedanterie den Zickzackkurs der Reagan-Administration nach", bis Kohl schließlich mehrere Briefe an Gorbatschow richtete, "in denen er sich einmal sogar dafür entschuldigte, daß . . . ein paar Mal über die Stränge geschlagen worden sei, wobei er allerdings die Verantwortung überwiegend der Presse zuwies".

Überdies bekam der Bundeskanzler von seinem späteren Duz-Partner im Kreml zu hören, er, Gorbatschow, lasse sich nicht zum "Verbündeten" Kohls gegen Honecker machen. Gewiß, in dem Maße, wie sich in der Sowjetunion Perestrojka und Glasnost entfalteten, "wurde Honecker mir (Gorbatschow) gegenüber kritischer". Ihn nach der Wiedervereinigung vor Gericht zu stellen, fand der sowjetische Präsident hingegen äußerst bedenklich, denn seine persönlichen Beziehungen zu ihm wie zu vielen anderen deutschen Kommunisten waren auch noch von anderen Dingen geprägt - vor allem dadurch, "daß sie sich um die Annäherung zweier Völker bemüht haben, die durch den Nationalsozialismus in einen blutigen Kampf verwickelt worden waren".

Am besten noch konnte es Gorbatschow mit Kádár in Ungarn und Jaruzelski in Polen. Auch der Slowake Husák, ein "mutiger Antifaschist", habe die Perestrojka sogleich unterstützt, während bei dem Bulgaren Schiwkow der Argwohn im gleichen Maße zugenommen wie der Reformkurs der sowjetischen Führung Gestalt angenommen habe. Und der rumänische Conducator? "Ein seltsames Gefühl überkam mich jedesmal, wenn ich merkte, wie Ceausescu mit allen Mitteln versuchte, die Unabhängigkeit seiner Urteile zur Schau zu stellen. Das alles war unnatürlich; für jeden auch nur halbwegs politisch Gebildeten traten die Grenzen seiner Persönlichkeit und seine psychische Labilität deutlich erkennbar hervor." Allerdings habe sich Moskau, schreibt Gorbatschow im Widerspruch zu fortwährenden Vermutungen in Bukarest, der Opposition gegen Ceausescu nicht angeschlossen.

Eine Schlüsselfrage, die den Autor - und nicht nur ihn - bewegt und die eigentliche Tragik seines in jeder Hinsicht erstaunlichen Wirkens ausmacht: "Warum funktioniert eine Politik, die sich im Ausland bewährt hat und auf der ganzen Welt erfolgreich ist, nicht auch bei uns? Woran liegt es: an unserer Geschichte, an unserer Tradition?" Mit größter Wahrscheinlichkeit. Diese Antwort legen Gorbatschows "Erinnerungen" ebenso nahe wie die Entwicklung, die das Kernland der untergegangenen Sowjetunion seither unter Jelzin genommen hat.

Er habe ein reines Gewissen, was das moralische Fundament seiner einstigen Macht angehe, einer Macht, die von ihm nie verantwortungslos eingesetzt worden sei. Darin ist ihm, gemessen an allen vorausgegangenen sowjetischen Herrschern, sicherlich zuzustimmen. Die Art und Weise, wie er den Verlust dieser Macht beklagt, läßt den guten Mann aus Stawropol freilich in einem weniger günstigen Licht erscheinen. Allen, die nach ihm Macht auszuüben begannen, taten das, folgt man Gorbatschow, aus reiner Gier. "Machtgier ist die Ursache für die extreme Intoleranz und Aggressivität der nationalen Eliten in den ehemaligen Unionsrepubliken, die die Interessen der Völker, die den Unionsstaat erhalten sehen wollten, ihren eigenen Ambitionen geopfert haben." Doch das seien Themen für einen Shakespeare oder einen Puschkin, resümiert Gorbatschow zur Bestätigung seines in mancher Hinsicht begreiflichen Unvermögens, mit der Dramatik seines Schaltens und Waltens im Kreml geschichtlich Schritt zu halten. WERNER ADAM

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